Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Mordechai Papirblat

Vortrag am 21. Juli 2013 in Shavei Zion, Israel

Der 1923 geborene Mordechai Papirblat wurde als 17Jähriger ins KZ Auschwitz deportiert, zuvor war er aus dem Warschauer Ghetto geflohen. Vor dem Krieg hatte er sich viel handwerkliches Geschick durch Arbeiten, aber auch durch Beobachten angeeignet. Das kam ihm im Lager zugute, wo er an verschiedenen Stellen zur Arbeit eingeteilt wurde. Mit Geschick und List schaffte er es immer wieder, sich (und andere) aus bedrohlichen Situationen herauszumanövrieren – aber nicht immer. Mit Humor und eisernem Willen trotzte er Willkür und Hunger. Im Januar 1945 konnte er vom Todesmarsch fliehen, und kehrte durch Schnee und Kälte in seine Heimatstadt heim. Aber von der einst großen Familie ist nur er allein übriggeblieben. Mordechai Papirblat, der Namensgeber unseres Projekts, starb am 27. Dezember 2022, möge sein Andenken zum Segen sein. Es gibt einen deutschsprachigen Wikipedia-Artikel über ihn.

Mordechai Papirblat hat 2015 einen Vortrag auf Hebräisch (mit Übersetzung) in Shavei Zion gehalten, davon gibt es eine weitere Aufnahme. Sein tagebuchartiger Bericht »900 Tage in Auschwitz« ist als Buch in der »Edition Papierblatt« erschienen, weitere Informationen gibt es in der Rubrik »Papirblat«.

Kurzbiografie

Der 1923 geborene Mordechai Papirblat wurde als 17Jähriger ins KZ Auschwitz eingeliefert, zuvor war er aus dem Warschauer Ghetto geflohen. Vor dem Krieg hatte er sich viel handwerkliches Geschick durch Arbeiten, aber auch durch Beobachten angeeignet. Auch sprachlich war er sehr begabt und lernte mehrere Sprachen zu verstehen und sich darin zu verständigen. Beides kam ihm auch im Lager immer wieder zugute, so dass er bedrohlichen Situationen immer wieder entgehen konnte. Mit Humor und eisernem Willen trotzte er Willkür und Hunger. Im Januar 1945 konnte er vom Todesmarsch fliehen, und kehrte durch Schnee und Kälte in seine Heimatstadt heim. Aber von der einst großen Familie war nur er allein übrig geblieben. 1946 wanderte Mordechai Papirblat ins britische Mandatsgebiet Palästina aus. Im Unabhängigkeitskrieg wurde er schwer verletzt, doch gleichzeitig fand er durch dieses Unglück einen kleinen Rest seiner Familie wieder.

Inhaltsübersicht

Begrüßung/Einleitung

00:00 - 00:39

 

M. Papirblat entschuldigt sich für sein nicht perfektes Deutsch – insbesondere die grammatischen Fehler – aber er hat es nie in einer Schule gelernt.

00:39 - 02:17

Appell und Schikane

Am 10. Juli 1942 kamen plötzlich frühmorgens SS-Leute, die ihnen befahlen, sich in 5er Reihen aufzustellen. M. Papirblat war damals 18 Jahre, aber nach zwei Jahren im Warschauer Ghetto sah er nur noch aus wie ein 12-Jähriger. Doch obwohl er so schmächtig war, wurde er genommen, um die letzte Reihe auf fünf Mann aufzufüllen. Dann mussten sie losmarschieren bis zu einer Holzfabrik. Dort befahl man ihnen, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu legen. Die Hände mussten sie seitlich anlegen. Dann wurde über sie hinweg geschossen, bis man ihnen nach einer gewissen Zeit wieder befahl aufzustehen.

02:17 - 03:30

Systematische Erfassung – Demütigung

Danach mussten sie zu den Tischen mit den Sekretärinnen. Er wurde gefragt, wie alt er sei, zu welcher Partei er gehöre etc. Alles wurde aufgeschrieben. Anschließend wurden ihnen die Hände zusammengebunden und sie wurden zu den Waggons getrieben. SS-Männer standen Spalier und hieben mit Stöcken auf die Gefesselten ein. Schwierig war es mit den zusammengebundenen Händen in die hohen Viehwaggons reinzukommen. Sie halfen sich, indem einer den anderen nach oben schob. Der Boden im Waggon war gekalkt, so dass man kaum atmen konnte. Dann fuhr der Zug los.

03:30 - 05:12

Ankunft in Auschwitz

In Auschwitz war vor der deutschen Besetzung eine Kaserne der polnischen Armee. Aus den Gefängnissen haben die Deutschen 1500 Schwerverbrecher geholt und sie zu Kommandeuren gemacht. Bei der Ankunft wurden sie erst einmal von allen Seiten fotografiert. Dann bekamen sie blau -weiß gestreifte Kleidung – aber nicht große Kleider für die Großen und kleine für die Kleinen, sondern alles durcheinander, so dass sie aussahen wir Zirkusclowns.

05:12 - 10:47

Bewährung bei der Arbeit

Die Appelle waren furchtbar. Es konnte gar nicht sein, dass alle 600 bis 700 Mann aus einem Block ihre Mütze genau zur selben Zeit abnehmen. Wer sie zu spät abnahm wurde bestraft.

Eines Tages kam beim Morgenappell ein Capo zu Mordechai Papirblat und befahl ihm mitzukommen. Er wollte das nicht, denn er hatte Angst, was passieren würde, wenn er nicht beim Morgenappell antritt. Doch der Capo, der mit seiner kurzen Nummer 1256 einer der ersten Auschwitz-Gefangenen war, packte ihn und erwiderte, er erteile hier die Befehle.

Es ging um das Kommando »Schilfmeer«. Juden hatten vor dem Krieg ungefähr 10km vom Lager entfernt einen Karpfenteich angelegt, und den sollten sie wieder herrichten. Sie wurden dabei sehr stark von SS-Leuten und deren Hunde überwacht, und jeder der nicht ganz genau in der Reihe ging, wurde geschlagen. Die Arbeit war sehr schwer und wer sie nicht gut machte, wurde niedergeschlagen. Mordechai Papirblat war der einzige Jude in diesem Kommando. Es kam ihm zugute, dass er diese Arbeit früher im Dorf gelernt hatte. Daher machte er seine Sache so gut, dass er sogar als Belohnung noch einen halben Liter Suppe extra bekam.

10:47 - 12:13

Aufstieg in der Hierarchie

Im Dorf hatte er beobachtet, wie ein Bauer Grasplatten an einer Stelle entnommen und sie woanders, wo nichts wuchs, hingebracht hat. Sein Capo war von seiner Arbeit so begeistert, dass er ihn zum Vorarbeiter machen wollte. Mordechai Papirblat war das gar nicht Recht – war er doch der Jüngste in Auschwitz und dazu noch Jude. Aber der Capo meinte, das sei ein Befehl.

12:13 - 14:42

Schmuggel und Tauschhandel

Das Anlegen des Teiches hat gut geklappt und die Karpfen entwickelten sich gut. Da gab ihm der Capo eines Tages den Auftrag, einen der Karpfen ins Lager in die Küche zu schmuggeln. Mordechai Papirblat wehrte sich und sagte, das sei unmöglich – schließlich wurden sie jedes Mal, wenn sie das Lager wieder betraten, durchsucht.

Aber der Capo, ein in Polen geborener Volksdeutscher, ließ sich nicht von seinem Plan abbringen. So nahm Mordechai Papirblat notgedrungen einmal auf dem Rückmarsch einen Karpfen an sich. Ungefähr 200m vor dem Lager ließ der Capo die 33 Zwangsarbeiter anhalten. Er nahm Papirblat aus der Reihe, übergab ihm das Kommando und stellte sich selbst an seinen Platz.

Zum Glück hat alles geklappt. Doch als er mit dem Karpfen in die Küche wollte, wurde er von einem Polen abgefangen, weil er Jude war und diese Küche nicht betreten durften. Doch als er sagte, er komme vom Capo Stephan wurde er in die Küche hofiert.

Als der Küchenchef den Karpfen sah, war er begeistert und wollte wissen, wie er das gemacht habe. Außerdem gab er ihm ein Paket Margarine, das er später gegen Brot eintauschte.

14:42 - 15:55

Platzmangel und Selektion

Einmal hörten sie die ganze Nacht durch eine Schießerei. Dabei handelte es sich um den einzigen Aufstand in Auschwitz.

Zuvor hatte es im Juli 1942 hohen Besuch durch den Gestapo-Chef Himmler in Auschwitz gegeben, auf den eine erste Selektion erfolgte. Es hieß, dass alle sich ausziehen sollten. Mordechai Papirblat zwickte sich in die Wangen, um gesünder auszusehen, und er stellte sich auf die Zehenspitzen, um größer zu wirken. Gott sei Dank kam er so durch die Selektion durch, sagt er.

Die Baracken 1-11 waren für Frauen bestimmt. Eine Mauer trennte sie von den beiden Reihen für Männer. Damals war das Lager sehr voll, weshalb die erste Selektion durchgeführt wurde.

15:55 - 21:22

Aufstand in Auschwitz

Als Mordechai Papirblat ein Jahr in Auschwitz war und viele seiner früheren Kameraden schon nicht mehr lebten, gab es im Sommer 1943 nachts eine Schießerei im Lager. Als sie frühmorgens zur Arbeit aus dem Lager gehen wollten, stand kein SS-Kommando Wache an den Toren.

Dann hat er erfahren, was passiert war, wie es zu dem einzigen Aufstand in Auschwitz gekommen war. Sogenannte Austauschjuden - jüdische Touristen, die nach Warschau gereist waren, um dort ihre Familie zu besuchen, waren nach Auschwitz gebracht worden, obwohl sie nach einem Abkommen eigentlich hätten ausreisen dürfen.

So handelte es sich bei dieser Deportation auch um eine besondere. Es war der einzige Transport, wo 300 bis 400 Menschen in normaler Kleidung in einem Passagierwaggon ankamen. Man schickte sie nach Birkenau, wo es in dieser Nacht eine Sonderschicht gab. Ein Offizier befahl den Touristen sich auszuziehen, um sich zu waschen, so dass sie am nächsten Morgen arbeiten könnten. Ein jüdischer Häftling war überrascht und sagte »Das sind Ausländer, das sind keine polnischen Juden.« Er warnte sie und sagte, »ihr geht nicht zum Waschen, sondern in den Tod.«

Deshalb haben die Menschen zuerst gar nichts gemacht, aber der Offizier wurde ungeduldig. Auch der SS-Oberscharführer Schillinger wurde durch den Lärm aufmerksam, kam heraus und befahl, sie sollten sich ausziehen, waschen und morgen zur Arbeit gehen. Eine Frau, die sich ausziehen sollte, antwortete: »Wir sind saubere Leute. Wir sind Touristen und kommen von sauberen Orten. Wenn wir arbeiten sollen, dann arbeiten wir, aber waschen – nein.«. Der Offizier wurde ungeduldig, bedrohte sie mit dem Revolver und befahl ihr, sich auszuziehen. Doch die Frau ging auf ihn zu und schaffte es, ihm die Waffe zu entwinden. Sie schoss auf Schillinger und verletzte den Offizier. Aber den Kampf gegen die bewaffneten SS-Leute, hat niemand der Ankommenden überlebt.

21:22 - 22:15

Versuch den Humor zu behalten

1944/1945 wurden alle SS-Leute an die Front geschickt. Die Häftlinge haben da gesungen: »Alles geht vorüber, alles geht vorbei, nach jedem Dezember kommt auch wieder ein Mai. …« Als andere SS-Leute, die nach England abgerufen wurden, gegangen waren, sangen »Wenn wir fahren, wenn wir fahren gegen Engeland…«

22:15 - 24.33

Einsatz ausländischer SS-Leute

Danach kamen andere Helfershelfer, die angezogen waren wie die SS-Leute. Das waren Ukrainer, Litauer, Jugoslawen u.a.. Einer befahl mir einmal, als ich total verschwitzt war vom Graben ausheben, ich solle eine Pause machen. Ich wäre aber erfroren, es war so kalt, sagt Mordechai Papirblat. Deshalb erwiderte ich, mein Offizier hat mir befohlen, keine Pause zu machen. Er wollte mich zwingen und verfluchte mich, weil ich ihm nicht gehorchte. Da merkte ich, dass er kein Deutscher war. Er sprach slawisch. Die waren noch viel schlimmer, wie die (deutschen) SS-Leute.

24.33 - 25:30

Mit Humor gegen dem Grauen standhalten

Wenn wir kleine Pausen hatten, haben wir über die Namen gelacht: Schutzstaffel. Aber sie wollten vernichten, einfach nur vernichten. SA, Schutzabwehr, die wollten einfach nur schaden. Und SD, Sonderdienst. M. Papirblat meint, dass man sich den Humor bewahren musste. Und etwas für morgen mussten sie haben, wie bspw. eine denkwürdige Jom Kippur-Feier.
25:30 - 26:18

Jom Kippur 1944 in Auschwitz

Jom Kippur war der heißeste Tag des Jahres 1944 in Auschwitz und jüdische Häftlinge hatten beschlossen, dass sie beten wollten. Dazu hatten sie eine Kerze organisiert. Es gab einen Vorsänger und sie haben zusammen gebetet. Einer hat draußen gewacht, denn sie durften das ja alles nicht machen.

26:18 - 33:10

Misshandlung

Mordechai Papirblat erinnert sich an einen Sonntag, an dem er gearbeitet habe. Die SS hat sonntags immer einen Tag Ruhe bekommen. Und jeden Tag hat er in der Gegend als Vorarbeiter gearbeitet, wo die Transporte angekommen sind.

Eines Tages kam der letzte Transport aus seiner Geburtsstadt an. Er hatte in der Stadt noch eine Schwester und einen Bruder. Er wurde angehalten zu arbeiten, doch er wollte wissen, was mit dem Transport ist. Nach ein paar Minuten steht neben ihm ein Offizier und sagt »Du kleiner Jude, was machst du hier?« Papirblat antwortete, dass mir ein Mann fehle und er ihn hier suche. Aber er glaubte ihm nicht und hat ihn mit einem Stock geschlagen. Als er dann gehen wollte, sagte der Offizier, er solle heute Abend in die SS-Stube kommen. Er fragte ihn nach seiner Nummer – Namen hatten die Häftlinge in Auschwitz nicht mehr. Da hat M. Papirblat die Zahlen vertauscht mit einem Häftling, der schon lange tot war. Er dachte sich, wenn abends der Appell ist, ist es schon spät ist und jeder will an seinen Platz. Da wird man ihn nicht suchen.

Man schlief mit 6-10 Leuten auf einem Platz. Wenn einer krank war, dann steckt er alle an. Deshalb wurde die Nummer aufgeschrieben und die Person wurde mit dem nächsten Transport zum Vergasen weggebracht.

Aber Mordechai Papirblat hat sich getäuscht, denn man hat nach ihm gesucht – und das wohl lange. In allen Sprachen hat man seine Nummer gerufen. Er wurde aus dem Schlaf aufgeweckt und musste in die SS-Stube kommen. Dort war ein polnischer Häftling. Man ließ ihn bis 20 auf Deutsch zählen, und bei jeder Zahl gab es einen Hieb. Er zählte schnell, aber der Offizier sagte: »Langsam, jetzt habe ich Zeit.« Bis 7, 8 hat M. Papirblat noch mitbekommen, was geschah. Später hat ihn der polnische Häftling rausgeworfen. Er musste in einen anderen Block, wo ihn niemand kannte und ihm niemand helfen konnte. Außerdem verlor er seinen Posten als Vorarbeiter. Er ging noch in den Krankenbau, um um Pflaster zu bitten, denn alles war »wie Hackfleisch«. Aber man hat ihn schon erwartet und ihn abgefangen und in einen anderen Block mit 400 Personen geschickt.

33:10 - 34:20

Auszeichnung für Gräueltaten

Mein Kommandant hatte 1944 geholfen ein ganzes Dorf in der Tschechoslowakei zu zerstören, wo Menschen im Untergrund gewirkt hatten. Bei der Zerstörung dabei zu sein, war für ihn eine große Ehre, dafür hat er zur Belohnung ein Lederarmband, das er mit Stolz am Arm trug, bekommen.

34:20 - 36:26

Willkür

Im Januar 1945 war es in Auschwitz mit -25°C sehr frostig. Eines Tages kamen sie von der Arbeit. Auf allen Dächern saßen SS-Leute mit Panzerfäusten. Mordechai Papirblat dachte, dass das jetzt das Ende sei. Nach einer halben Stunde mussten alle aus den Blöcken raus und sich formieren, 7000 bis 8000 Mann. Gegen die Kälte haben sie sich in kleinen Gruppen zusammengestellt. Papirblat hatte Lederschuhe, die ihm ein Freund gegeben hatte, andere hatten nur Holzschuhe wie ein Freund, mit dem er lange zusammen war. Holzschuhe waren gefährlich. Der Freund ist ausgerutscht und gefallen. Papirblat wollte ihm aufhelfen, bekam aber einen Schlag in den Nacken. Der Aufpasser rief: »Lass das, ich helfe ihm.« und erschoss ihn. Eigentlich war das verboten.

36:26 - 42:06

Todesmarsch

Wir marschierten weiter und hören schon die Sowjets in Krakau, denn nachts war alles ruhig. Dann kam der Befehl, neben der Straße im Dreck und Schnee zu gehen. Der Grund war, dass die Straße für den Rückzug der deutschen Armee freigehalten werden musste. Die SS war warm angezogen, aber die Häftlinge hatten Kleidung wie im Sommer. Mordechai Papirblat hatte großen Durst und hat sich – obwohl es nicht erlaubt war - eine Kugel aus Schnee gemacht und sie in den Mund gesteckt. Das war wie ein Aufputschmittel, meint er.

So marschierten sie fünf sechs Tage immer weiter – Tag und Nacht, über die Grenze über die Oder. Die SS-Leute wurden müde und wollten Pause machen. Wir mussten in den Schnee liegen, aber die SS-Leute sind in die umliegenden Häuser des Dorfes gegangen, um sich auszuruhen. Mordechai Papirblat war so müde, dass er sofort eingeschlafen ist. Den eindrücklichen Traum, den er damals geträumt hat, weiß er heute noch.

42:06 - 42:46

Flucht und Rückkehr

Am nächsten Morgen marschierten sie weiter und kamen zu einem Lager, das dem Bau der V1 und V2 gedient hatte, und das am Tag vorher aufgelöst worden war. Papirblat beschloss, dass er nicht mehr weitergehen konnte. Er ist weggelaufen und man hat nach ihm geschossen. Nach zwei Wochen ist er in seiner Geburtsstadt in Polen angekommen. Dort hat er bei verschiedenen Institutionen wie dem Rotes Kreuz u.a. nach überlebenden Verwandten gesucht. Aber er konnte niemanden von der einst großen Familie mit ca. 200 Personen mehr finden. Er war als einziger übriggeblieben.

42:46 - 44:18

Ein Name als Denkmal

Den Namen gab es sonst nicht mehr. Auch sein Sohn konnte später über das Internet niemanden mehr mit diesem Namen finden. Deshalb hat Mordechai Papirblat auch beschlossen, seinen Namen nicht zu ändern, wie es viele andere Juden mit deutsch-klingenden Namen getan haben, denn sein Name ist ein Denkmal, betont er.

Der Name ist jahrhundertealt. Mordechai Papirblats Vorfahren waren vermutlich Schreiber. Die Familie seiner Mutter hieß Huberman(n). Ein Cousin seiner Mutter war der bekannte Künstler Bronislaw Huberman, der 1935 in Tel Aviv das erste Philharmonieorchester Palästinas mit Toscanini als Dirigent gegründet hat

44:18 - 50:34

Drei Arten von Häftlingen

95% der in Auschwitz Getöteten waren Juden. Der Rest waren Menschen verschiedener Nationen, auch viele deutsche Politiker und Zeugen Jehovas. Jeder hatte ein extra Abzeichen zum Kontrollieren.

An der psychologischen Universität hat man ihm erklärt, dass es drei Gruppen von Häftlingen gab. Die ersten sind angekommen und haben gesehen, was da passiert und haben Selbstmord begangen. Manche sind bewusst in den elektrischen Draht gelaufen, andere wie bspw. ein elegant gekleideter Dolmetscher aus Amsterdam, der zwölf Sprachen beherrschte, hat sich aufgehängt.

In der ganzen Gegend von Ausschwitz gab es kein Trinkwasser. Wer das Wasser aus den Brunnen trank, wurde krank. Einmal hatte er an einem heißen Tag großen Durst bei der Arbeit, und so ging er wie viele andere zum Kessel einer Lokomotive und trank von dem Wasser. Doch davon bekam er starke Bauchschmerzen, so dass er nichts mehr essen konnte. Er spürte wie er immer schwächer wurde – aber er musste ja arbeiten, um nicht aussortiert und erschossen zu werden. Nachdem er doch schon einige Zeit durchgehalten hatte, wollte er ihnen diesen Gefallen nicht tun. Ein Freund gab ihm den Tipp, Holzkohle zu essen – und das half.

50:34 - 56:13

Ein wertvolles Geschenk hat seine Tücken

In Ausschwitz gab es ein riesiges Gebäude, das sogenannte Hauptwirtschaftslager. Dort hat man alles, was die Menschen an Koffern und Gepäck mitgebracht haben sortiert. Mordechai Papirblat hatte einen Freund, der dort gearbeitet hat. In einem unbeaufsichtigten Moment ließ der ein kleines, sehr feines Taschenmesser in der Hose verschwinden und gab es ihm, weil der schon so viel mitgemacht hatte. Er sollte es gegen Brot zu tauschen. Manchmal hat er als Gehilfe für einen Bauarbeiter, der ins Lager kam, gearbeitet. Dem hat er das Messer gezeigt und jener war bereit, das Messer gegen Lebensmittel zu tauschen. Er gab ihm Tomaten, die Papirblat dann in Brot umtauschen wollte. Der Tauschhandel fand in der Latrine statt. Aber als Mordechai Papirblat aus der Latrine kam, stand ein SS-Mann draußen, der ihn die Taschen ausleeren ließ. Es war verboten Kontakte zu Menschen, die von außen ins Lager kamen, unterhalten. Deshalb hatte auch der zivile Bauarbeiter große Angst vor einer Strafe, als er sah, dass Papirblat ausgefragt wurde.

Aber Mordechai Papirblat fiel zum Glück wieder eine findige Antwort ein. Er erzählte der SS-Wache, dass er die Tomaten bei einem zivilen Arbeiter gestohlen habe. Der SS-Mann glaubte ihm und nahm die Tomaten mit. Etwas später brachte ihm der Arbeiter nochmal etwas zu essen mit. Er lobte ihn und meinte diesmal: »Iss es gleich, dann kann nichts mehr passieren.« Papirblat sah das als Strafe für den Diebstahl des Messers.

56:13 - 56:45

Schikane

Die ersten Tage als er ankam, war Mordechai Papirblat noch unerfahren und wusste noch nicht, was man wie machen musste. So hat er einmal nicht die Mütze vor dem Wachmann gezogen. Der kritisierte ihn und fragte, warum er nicht die Mütze gezogen habe. Das nächste Mal zog er die Mütze und erntete dafür auch wieder Kritik.

56:45 - 58:27

Hunger

Der Hunger war sehr groß. Das Brot hatte eine sehr schlechte Qualität. Papirblat teilte es sich in vier Portionen ein. Ein starker Ukrainer, der ca. 1,90m groß war, nahm häufig den Mithäftlingen das Brot weg. Wer sich ihm widersetzte, den würgte er. Als er Papirblats Brot klaute, hat dieser bis zur Nacht gewartet. Und als der Riese geschlafen hat, hat er sich sein Brot zurückgeholt.

58:27 - 1:00:50

Angst vor einem Aufstand

Einmal gab es Lagersperre. Jeden Morgen beim Appell wurden Nummern aufgerufen, 5x auch seine. Das waren dann die Leute, von denen die SS-Leute einen Aufstand befürchteten, denn es waren auch viele politische Gefangene dort, wie bspw. frühere SPD-Führer. Man hat diese Leute zwischen den Block 10 und 11 in den sogenannten Todeshof geführt, wo sie erschossen wurden.

Eines Tages kam nach der Arbeit ein junger SS-Mann und fragte, wer schneidern könne. M. Papirblat konnte auch das ein bisschen und meldete sich deshalb mit 20 bis 30 anderen Häftlingen zusammen. Aber das war ein Bluff, denn sie mussten Sand in Schubkarren laden und zwischen den 10. und 11. Block, dort wo Mengele war, fahren – das Ganze im Marschschritt mit Musik. An diesem Tag war der Boden so blutdurchtränkt, dass sie dort frischen Sand brauchten.

1:00:50 - 1:02:40

Besuch in Auschwitz 2011

2011 besuchte Mordechai Papirblat Ausschwitz nochmal mit einer Gruppe französischer Touristen. Dabei übernahm er die Führung und berichtete von dem Galgen neben der Küche, wo jeden bis jeden zweiten Tag jemand hing. An diesem Balken wurde dann 1947 auch Rudolf Höß durch die Amerikaner aufgehängt.

1:02:40 - 1:04:15

Unfassbare Grausamkeit

Auf die Frage, wie er mit dem Erlebten umgegangen ist, antwortet Mordechai Papirblat, dass sich das nicht beschreiben lässt, was er dort gesehen hat, weil es viel zu schrecklich ist. Er berichtet dann ein kurzes Beispiel von einem älteren, kränklichen Mann, der nicht rechtzeitig zum Appell erschienen war – wie man ihn mit einem bloßen Stock zur Strafe auf den Boden gelegt und durchbohrt hat. In Oranienburg gab es eine SS-Schule, wo sie solche Grausamkeiten lernten. Ihn hat es besonders geärgert, dass sie noch meinten, Gott wäre mit ihnen – dabei taten sie doch das genaue Gegenteil.

1:04:15 - 1:08:20

Selbstlos ein Leben gerettet

Eine Zeitlang hatte er eine besondere Arbeit – er war ich für die Reinigung des Suppenkessels der SS-Leute zuständig. Da hat er ein Stück Pappe genommen und den Kessel damit ausgekratzt und mehrmals einem kränklichen, schwachen Jungen davon gegeben. Mit einem Auge hat er dabei in den Kessel geschaut und mit dem anderen zu den SS-Leuten. Trotzdem rief man ihn eines Tages zu sich. Die Wachleute wollten wissen, was er dafür bekommen habe, und warum er überhaupt jemandem etwas abgibt, der sowieso stirbt. Für diese Tat wurde Papirblat an einem Tag 3x bestraft. Er musste bis zur Mittagspause auf den Zehenspitzen stehen und mit den Händen einen Stein nach oben halten, was fast unmöglich war. Man nahm ihm seine Arbeit weg und gab ihm dann dafür eine neue, besonders harte Arbeit.

Jahre später stand eines Tages ein Mann in Tel Aviv vor ihm. Es war dieser Junge von damals, der gekommen war, um sich zu bedanken. Mordechai Papirblat meint, es sei doch einfach seine Art, anderen zu helfen, auch wenn der SS-Mann ihm das nicht geglaubt hatte und gemeint hat, dass im Lager ein Vater sein Brot nicht einmal mit dem Sohn teilen würde.

1:08:20 - 1:08.55

Flucht aus dem Ghetto

Mordechai Papirblat hat zwei Jahre im Ghetto Warschau zugebracht und drei in Auschwitz. Als er in Warschau über die Mauer geflüchtet war, stand auf der anderen Seite ein polnischer Junge, der Geld von ihm erpressen wollte.

1:08.55 - 1:12:48

Schilderung vom Todesmarsch und seiner Flucht 2

Auf Nachfrage geht Mordechai Papirblat nochmals auf die näheren Umstände seiner Flucht vom Todesmarsch ein. Niemand wusste so genau, wo sie waren. Rundherum war nur Schnee. Mehrere Leute - darunter auch Polen und Ukrainer - sind geflohen. Es gab eine Schießerei. Unterwegs sind sie weißgekleideten Sowjets begegnet, denen haben sie erklärt, dass sie vor den SS-Leuten weggelaufen sind und haben ihre Nummer gezeigt. Die Soldaten sagten ihnen, dass sie nur geradeaus laufen müssten. Sie waren fünf Tage und sechs Nächte ohne Essen und Trinken unterwegs, nur mit ein bisschen Schnee – aber ohne Schlafen. Wenn jemand eingeschlafen ist, haben sie sich gegenseitig aufgeweckt, denn viele sind im Schnee erfroren. Auf dem Marsch vor den heranrückenden Sowjets gingen die SS-Männer morgens die Reihen ab und haben die halb Erfrorenen mit Dum-Dum-Kugeln erschossen.

Einmal hatte Papirblat richtiges Glück. Er hat eine Konservendose gefunden und die mit Schnee und einigen Brosamen gefüllt. Die Brosamen sind aufgequollen und die Flüssigkeit hat den Geschmack der Dose angenommen - das war wie eine Suppe, berichtet er.

1:12:48 - 1:15:10

Nachwirkungen bis heute

Für eine Psychologin hatte Mordechai Papirblat kein Geld. Aber irgendwie musste man all die Erlebnisse ja verarbeiten, meint er. So hat er seine Geschichte den Kindern erzählt und ein über 500 Seiten langes Buch geschrieben, von dem inzwischen die vierte Auflage erschienen ist. (-> Link zum Buch)

Noch heute kann Mordechai Papirblat nur vier Stunden in der Nacht schlafen.

1:15:10 - 1:21:41

Täglicher Kampf ums Überleben

Mordechai Papirblat zeigt eine Zeichnung von einem Teil des Lagers und berichtet: In jedem Block waren 700 bis 800 Leute untergebracht. Der Blockälteste war dafür verantwortlich, das Wenige, das es gab, aufzuteilen. Diese Aufgabe war im Grund eine Strafe. Mit sehr großem Aufwand haben sie versucht, die Brotstücke mit einfachen Hilfsmitteln zu wiegen, um sie gerecht zu verteilen.

Die Suppe, die es gab, war wie Wasser. Trotzdem liefen zahlreiche Menschen wie bei einem Trauerzug hinter den beiden Trägern, die den Suppenkessel zur Baracke bringen mussten, her, denn sie hofften darauf, dass ein paar Tropfen aus dem Kessel schwappten. Dann legten sie sich auf die Straße und leckten die verschütteten Tropfen auf.

Einmal pro Tag gab es Brot und einmal Suppe und einmal beim Appell etwas zu trinken - aber da hatten sie eigentlich keine Zeit um zu trinken. Sie mussten das Bett machen, zur Latrine gehen und sich waschen. Die Leute, die draußen Landarbeiten verrichteten, haben sich von dort Unkraut mitgebracht und es in die Suppe eingetunkt – da war die wässrige Suppe viel besser.

Er selbst hat eine Zeit lang im Kartoffelmagazin gearbeitet. Manche haben die rohen Kartoffeln gegessen, aber er konnte das nicht - sie waren wie Holz. Aber im Warschauer Ghetto hat er geschaut, wer Kartoffeln gekocht hat, und hat dann das Kochwasser genommen. Das war immer wie ein Fest, meint er.

Von seinem Transport, mit dem er ankam, haben nur ganz wenige - drei oder vier – die Zeit im Lager Auschwitz überlebt. Aus seiner Heimatstadt kamen drei Brüder nach Auschwitz, zwei davon waren richtig kräftige Metzger. Aber die sind schnell eingebrochen, so dass man sie nach kurzer Zeit mit einem Finger hochheben konnte, berichtet Mordechai Papirblat.