von Timo Roller, 5.4.2019, erscheint auch im Schwarzwälder Boten.
Die Studienreise des evangelischen Schuldekans Thorsten Trautwein führte uns – eine Gruppe von 24 Teilnehmern: Lehrern, Pfarrer, Historikern, Interessierten – nach Polen. Mit dem Flugzeug landeten wir in Krakau. Mit dem Bus ging es westwärts, grüne Schilder zeigten die Richtung an: Oświęcim.
Oświęcim: Eine auf den ersten Blick normale polnische Stadt mit Mc Donalds und einem großen Felgenhändler am Ortseingang. Lidl, Tankstelle, Kirche, Marktplatz. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung war vor dem Zweiten Weltkrieg jüdisch. Dann kamen die Deutschen, eroberten diesen Teil Polens und gaben der Stadt einen Namen, den sie – in etwas unterschiedlichen Formen – immer dann trug, wenn Oświęcim unter deutschsprachiger Herrschaft war, zuletzt als Teil von Österreich-Ungarn bis zum Jahr 1918. Ein Name, der berühmt ist. Und berüchtigt. Das Synonym für den Horror des 20. Jahrhunderts und den größten industriell durchgeführten Massenmord der Geschichte.
Auschwitz: Doch keine ganz normale Stadt in Polen. Aber mit all dem Profanen, was andere Städte auch haben. Das fühlte sich sehr seltsam an. Ebenfalls seltsam – auf ganz andere Weise: Die Synagoge, die unsere Gruppe besichtigte, wurde zwar innen zerstört, hat aber als Gebäude den Krieg überlebt. Ausgerechnet in Auschwitz!
Am nächsten Tag scheinte die Sonne, als wir das »Stammlager« besichtigten. Der Eingang: »Arbeit macht frei«, die Backsteinhäuser: alles in schönstem Licht. Und doch so schrecklich. In jedem der zweistöckigen Häuser hatten 800 bis 1000 Häftlinge gelebt. Mein Heimatdorf in zwei Wohnblocks!
Der Stacheldraht, der Kellerblock mit Steh- und Hungerzellen, Appellplatz mit Galgen: Wie grausam waren die Deutschen damals in diesem Areal der industriellen Tötung! Wie kann man anderen Menschen solche Dinge antun? In einen 90 mal 90 cm kleinen dunklen Raum vier Menschen zwängen, die dort stehen müssen – stundenlang, tagelang?
Hier, im Stammlager, vergasten die Nazis ab Ende 1941 Menschen mit Zyklon B. Nach ersten Versuchen im »Block 11« ging eine Gaskammer mit Krematorium in Betrieb. In der Folge wurden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mehrere solcher Anlagen gebaut, von denen allerdings heute nur noch Ruinen zu sehen sind, da sie am Kriegsende von der SS gesprengt wurden.
Im Stammlager drängen sich viele Touristen, große Jugendgruppen, es gibt Warteschlangen, man zwängt sich durch Ausstellungsräume, per Audioguide bekommt man die schrecklichen Fakten direkt ins Ohr. Zwei Tonnen Haare, dreistöckige Holzbetten, viele Reihen Fotos der ehemaligen Häftlingen, deren Namen zu Nummern degradiert wurden. Man kommt gar nicht dazu, die erschütternden Eindrücke zu verarbeiten.
Eine Kunstausstellung führte uns das grausame Geschehen dann in aller Deutlichkeit vor Augen: Bilder des Malers und Holocaustüberlebenden David Olère zeigen die Qualen, nackte Körper, abgemagerte Körper, tote Körper, sadistische SS-Leute – aus der Erinnerung gemalt. Von andere Künstlern gibt es illegal im Lager erstellte Zeichnungen, authentische Porträts. Aber auch Auftragsarbeiten der SS-Wachleute an begabte Häftlinge: herrliche Landschaften auf Ölgemälden, von denen die Künstler nur noch träumen konnten. Oder Warnplakate vor Läusen und Handlungsanweisungen für KZ-Wärter, die ihre Ideen an künstlerisch Begabtere delegierten.
Der Besuch in Auschwitz überwältigt den Verstand. Als deutscher Besucher befällt einen Scham: Die Propaganda verstehen wir im Original, während polnische, englische oder israelische Besucher die Übersetzungen lesen müssen.
Die Anonymität der tausenden Opfer durchbrach die Rose in der Hand eines Jungen inmitten einer Besuchergruppe. Kannte er jemanden persönlich? Später sah ich die Blume am Erschießungsplatz wieder – wohl als Erinnerungen an einen Menschen, der hier sein Leben ließ.
Auschwitz-Birkenau steht für den industriellen Massenmord des 20. Jahrhunderts. Hier wurden etwa 1,5 Millionen Menschen buchstäblich »vernichtet«. Das große Eingangsgebäude tauchte unvermittelt vor uns auf, als wir mit dem Bus um die Ecke bogen. Das bekannte Fotomotiv war plötzlich real geworden. So real wie der Wind, der uns kräftig und eisig um die Ohren pfiff. Vier Wände und ein Dach über dem Kopf – in der ersten Baracke, die wir besuchten, fühlte ich mich geschützt, fast behaglich. Was für ein idiotischer Gedanke! Pro Baracke waren bis zu 400 Menschen unter schrecklichen Bedingungen untergebracht. Ging es ihnen vielleicht ähnlich, wenn draußen zweistellige Minusgrade herrschten?
Birkenau ist ein deprimierender Ort – umgeben von windgebeugten Birken – an dem hunderte, tausende Menschen pro Tag an der langen Rampe mit Viehwaggons ankamen: Nur zu dem Zweck, entkleidet, ausgeplündert, entmenschlicht, auf ihren Platz in der Gaskammer wartend untergebracht – und dann schließlich vergast und verbrannt zu werden. Vom Lagerführer Karl Fritzsch sind die »Begrüßungsworte« überliefert: »Ihr seid hier nicht in ein Sanatorium gekommen, sondern in ein deutsches Konzentrationslager, aus dem es keinen anderen Ausgang gibt, als durch den Schornstein des Krematoriums.«
Die Asche der Opfer wurde hinten in den Wäldern verteilt, Gruben wurden aufgefüllt. Manchmal wurden Leichen unter freiem Himmel verbrannt, wenn die Kapazität der Krematorien nicht ausreichte. Es gibt einige wenige illegal gemachte Fotos davon. Und dort, ganz hinten, waren während unseres Besuchs die Pfützen auf den Wiesen immer noch gefroren, obwohl es doch die letzten Tage gar nicht so kalt gewesen war. Hier scheint der kälteste Ort auf Erden zu sein.
In Begleitung von Schwester Mary vom »Zentrum für Dialog und Gebet« ging unsere Gruppe nach der Führung ein zweites Mal über das Lagergelände: In einer Kreuzwegmeditation wurden den Lagererinnerungen Bibeltexte gegenübergestellt. Nach einem heftigen Regenguss zu Anfang klarte der Himmel auf und ein Regenbogen erstrahlte über den Baracken von Birkenau. Welch Zeichen der Hoffnung!
Aber ein noch wichtigeres Zeichen waren die jungen Leute aus Israel, die in einer großen Gruppe an diesem Tag das Vernichtungslager besuchten. Traurig, aber selbstbewusst und patriotisch gingen sie über das Gelände. Nachdem der Davidstern zur Ausgrenzung ihrer Vorfahren missbraucht worden war, bevor sie hier eingesperrt und umgebracht wurden, ist er nach dem Krieg zur Staatsflagge Israels geworden. Diese blau-weißen Fahnen bewegten sich nun zahlreich mit den jungen Israelis über das Gelände. Die Botschaft: Der Plan der Nazis, alle Juden umzubringen, ist gescheitert. »Am Israel Chai« heißt ein bekanntes hebräisches Lied, das von den Nachkommen der Verfolgten gesungen wurde: »Das Volk Israel lebt!«
Unser Besuch in Auschwitz endete mit dem Besuch des Nebenlagers Monowitz. Während des Krieges wurde im deutsch besetzten Oświęcim massiv Industrie angesiedelt und Zwangsarbeiter mussten Fabrikanlagen bauen. Zunächst kamen die Arbeiter vom sechs Kilometer entfernten Stammlager zu Fuß, später wurde eine Bahnverbindung eingerichtet, schließlich aber wurden vor Ort Baracken aufgebaut. Es ist kaum noch etwas zu sehen, ein Luftschutzbunker, ein baufälliges Backsteinhaus, eine Übersicht anhand alter Bilder. Die Führung ging mitten durch eine Wohnsiedlung.
Den letzten Tag verbrachte unsere Gruppe in Krakau. Eine Stadt wie aus dem Bilderbuch, die lange Zeit Polens Hauptstadt war, zuletzt im 16. Jahrhundert. Von hier stammte Papst Johannes Paul II., hier besteht seit 1364 die zweitälteste Universität Mitteleuropas. Ein riesiger Marktplatz, die Marienkirche mit den beiden ungleichen Türmen, der Wawel-Hügel mit Schloss und Kathedrale. Den letzten Abend hielten wir uns im »Kasimir-Viertel« auf. Synagogen, Buchläden, Kneipen und Läden zeugen von einem aktiven jüdischen Leben. Zum Ausklang der Reise gab es Klezmer-Musik und israelischem Wein. Das Volk Israel lebt, auch hier in Polen. Schön, das am Ende dieser eindrücklichen Fahrt zu sehen!