„Mengele“ – diesen Namen erwähnte der Auschwitz-Überlebende Avigdor Neumann immer wieder in seinem Bericht. Der Daumen des berüchtigten KZ-Arztes Josef Mengele entschied zigtausendfach über Leben und Tod: Direkt in die Gaskammern ging es im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau für Frauen und Kinder. Kräftige Männer wurden für die Zwangsarbeit gebraucht, zumindest bis zur nächsten Selektion. Neumann war zwölf Jahre alt, als er von seiner Heimat in der heutigen Ukraine deportiert wurde, zu Mengele sagte er, er sei fünfzehn – und entkam zusammen mit seinem Vater zum ersten Mal dem Tod.
Später empfing er zweimal von „Mengele“ das Todesurteil, der Daumen zeigte nach links – zur Gaskammer. Beim ersten Mal wurden in letzter Sekunde doch noch ein paar junge Männer „begnadigt“, niemand wusste warum. „Es war ein Wunder“, sagte Neumann. Er gehörte dazu.
Beim nächsten Mal war die Vernichtungsmaschinerie von Männern des Sonderkommandos sabotiert worden und Avigdor Neumann entging wieder dem Tod. Sonderkommandos – das waren jüdische Männer, die dazu ausgewählt waren, die Toten aus den Gaskammern in den Krematorien zu verbrennen. Diese schreckliche Arbeit wollten die SS-Leute nicht selbst tun. Regelmäßig wurden die Sonderkommandos ausgetauscht. Um keine Zeugen zu hinterlassen, wurden sie ermordet, nur sehr wenige dieser Häftlinge überlebten den Holocaust.
Avigdor Neumann überstand auch den sogenannten „Todesmarsch“, endlose Evakuierungsmärsche in den letzten Tagen des Krieges, durch Nacht und Eiseskälte. Auch nach der Befreiung kamen noch Menschen um: Die ausgemergelten Körper verkrafteten zu schnelles Essen nicht. Der Weg in seine heutige Heimat – ins Land Israel – war mühsam und auch unterwegs starben noch Juden. Im 1948 gegründeten Staat Israel musste Neumann dann als Soldat in mehreren Kriegen kämpfen. Heute hat der 92-Jährige Kinder, Enkel – und 41 Urenkel.
Etwa 170 Besucher hatten sich im iP-Zentrum des Hilfswerks Zedakah e.V. in Maisenbach versammelt, um Avigdor Neumann zuzuhören. Er war aus seinem Wohnzimmer in Israel zugeschaltet. Am Holocaustgedenktag, dem 27. Januar, ist es Zedakah wichtig, an die Geschehnisse vor über 79 Jahren zu erinnern. „Nie wieder ist jetzt“ – so war der Abend überschrieben, denn auch der 7. Oktober 2023 spielte eine wesentliche Rolle beim Gedenken. Zwar könne das Massaker der Hamas an 1200 Israelis nicht direkt mit dem Holocaust verglichen werden, so Neumann, doch die Ermordung sovieler Menschen wie an keinem anderen Tag seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Israel und die Juden in aller Welt erschüttert. Und doch sei das jüdische Volk heute im Gegensatz zu damals nicht wehrlos!
Frank Clesle, Geschäftsführer von Zedakah, interviewte zu den Geschehnissen am 7. Oktober Jair Bayer. In Israel aufgewachsen hat er als Deutscher dort freiwillig Wehrdienst geleistet. Inzwischen lebt er in Deutschland, hat sich aber kurz nach Beginn des Militäreinsatzes, der als Reaktion auf den Angriff der Hamas folgte, dazu entschieden, ins Kriegsgebiet zu reisen und seinen Reservedienst anzutreten. Als Funkingenieur war er in und um den Gazastreifen im Einsatz und musste mitunter um sein Leben fürchten. Sein Cousin Urija Bayer, ebenfalls Deutscher, starb infolge von Kampfhandlungen.
Der Kriegseinsatz sei äußerst schwierig, weil die skrupellosen Kämpfer der Hamas Frauen und Kinder als Schutzschilde benutzten und zivile Opfer auf der eigenen Seite in Kauf nehmen. Das israelische Militär versuche unter anderem durch Fluchtkorridore, unschuldige Opfer zu vermeiden. Beim Häuserkampf hätten es die Einheiten immer wieder mit hinterhältigen Sprengfallen zu tun. Ihm persönlich sei es als Christ wichtig gewesen, dem jüdischen Volk in dieser Notlage beizustehen, und er habe deshalb diese sehr schwierige Entscheidung getroffen – als Ehemann und Vater.
Die Befreiung der Geiseln hat oberste Priorität und eine Friedenslösung mit der Hamas ist fast unvorstellbar. An diesem Abend wurde deutlich: Auch wenn die öffentliche Meinung sich gegen Israel dreht und das Land vor dem Internationalen Gerichtshof des Völkermords angeprangert wird – das Land fühlt sich mit seinem Militär dazu verpflichtet, das während des Holocaust so wehrlose Volk gegen erneuten mörderischen Judenhass zu schützen. In einem Clip, der auf den Sozialen Medien die Runde macht, ist in diesen Tagen Avigdor Neumann mit drei der im November befreiten Geiseln zu sehen – drei Kindern. Er sagt: Man kann die Tatsachen verleugnen und verdrehen, aber man kann die Erinnerung nicht auslöschen. Dabei zeigt er auf die Nummer, die in Auschwitz auf seinen Arm tätowiert wurde: B14665.
In Grußworten betonten der Bundestagsabgeordnete Klaus Mack (CDU) und der stellvertretende Bürgermeister der Stadt Bad Liebenzell, Sebastian Kopp, dass es wichtig sei, aus der Vergangenheit zu lernen.
In einer Gedenkzeremonie wurden Kerzen angezündet und ein Psalm gesprochen, parallel in Maisenbach und im Wohnzimmer von Avigdor Neumann – für die Opfer des Holocaust und des 7. Oktober, für Urija Bayer und als Hoffnung für die verbliebenen Geiseln der Hamas, die seit fast vier Monaten in Gefangenschaft sind.
Liveübertragung aus dem iP-Zentrum in Maisenbach bei Bad Liebenzell.
Dem Gedenkabend ging an diesem geschichtsträchtigen Tag ein Seminar für Lehrkräfte und Interessierte voraus, nebenan im Gästehaus Bethel von Zedakah. Die etwa 60 Teilnehmer bekamen – mit Blick auf den aktuellen Krieg gegen die Hamas – durch zwei Experten tiefgreifende Einblicke in die Ursachen des Nahostkonflikts und in die Bedeutung insbesondere des islamistischen Antisemitismus.
Prof. Dr. Matthias Morgenstern von der Uni Tübingen klärte über die Geschichte des Zionismus auf. Das Zusammenspiel von Israel als Land und Volk sowie der jüdischen Religion präsentierte er als wesentlich vielseitiger und komplexer, als viele das heute wissen: Der eigentliche Zionismus, der sich ab Ende des 19. Jahrhunderts um eine Zufluchtsstätte für weltweit verfolgte Juden bemühte, sei eine sehr säkulare Bewegung gewesen. Viele religiöse Juden hätten es lieber Gott überlassen wollen, Volk und Land wieder zusammenzuführen. Das Britische Mandatsgebiet „Palästina“, dass erst nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg entstanden war, sei dünn besiedelt gewesen und es gab mehrere Vorschläge, Araber und Juden nebeneinander anzusiedeln.
„Die Araber haben keine Gelegenheit ausgelassen, Gelegenheiten zu verpassen“, betonte Morgenstern mehrmals. 1937, 1947, 1949, zuletzt 2000, es gab immer wieder weitreichende Angebote, einen arabischen bzw. palästinensischen Staat zu gründen. Doch immer wieder habe die arabische Seite dies abgelehnt.
Man könne dies am ehesten dadurch erklären, dass es für Muslime nicht akzeptabel gewesen ist, Land wieder abzugeben, das bereits unter muslimischer Herrschaft gewesen war. Oder die Verhandlungsführer hätten bei weitreichenden Zugeständnissen Widerstand aus den eigenen Reihen befürchtet.
Welche unrühmliche Rolle die deutschen Nationalsozialisten in der Befeuerung des muslimischen Antisemitismus hatten, legte Matthias Küntzel in einem interessanten Vortrag dar. Durch Propagandaschriften und den Kurzwellen-Radiosender Zeesen bei Berlin griffen die Nazis die im Koran enthaltenen Aufforderungen zum Töten „Ungläubiger“ auf. Mohammed Amin al-Husseini, arbeitete als Mufti von Jerusalem mit dem NS-Regime zusammen und so trieben radikale Muslime gemeinsam mit Hitlers Schergen die Auslöschung der Juden voran. Noch heute ist die Bekämpfung der Juden in der Charta der Hamas festgehalten.
Es war ein Tag voller wichtiger Informationen, Erinnerungen und Emotionen. Und er hinterließ doch eine gewisse Ratlosigkeit: Wie kann man im eigenen Umfeld, an Schulen, in unserer Gesellschaft den Antisemitismus wirksam bekämpfen? Neben Demos gegen rechts benötigt es offenbar auch eine Strategie gegen Juden- und Israelhass unter Migranten sowie im linken und intellektuellen Milieu, wo – nach Prof. Morgenstern zu Unrecht – Zionismus mit Nationalismus und Kolonialismus in Verbindung gebracht wird. Als wichtige Bausteine wurden in den Vorträgen und Austauschrunden genannt: Solidarität mit Israel und den Juden in Deutschland, Antisemitismusprävention im Bildungssystem sowie auch eine Kontrolle der teilweise von fanatischen Autokraten beeinflussten Moscheen.
Am 27. Januar 2025 wird sich die Befreiung von Auschwitz zum 80. Mal jähren. Die Zeitzeugen der Schoa werden weniger. Und junge Juden in Deutschland trauen sich nicht mehr, ihre Identität offen auf der Straße und an der Uni zu zeigen. Sie fragen sich wie Hanna Veiler von der Jüdischen Studierendenunion: „Was machen wir mit dem 27. Januar, während immer noch der 7. Oktober ist?“
Vortrag am Seminartag »Zionismus, Nahostkonflikt und islamistischer Antisemitismus« am 27. Januar 2024 (Holocaustgedenktag) in Maisenbach bei Bad Liebenzell. Teil 1: 46:17 min.
Vortrag am Seminartag »Zionismus, Nahostkonflikt und islamistischer Antisemitismus« am 27. Januar 2024 (Holocaustgedenktag) in Maisenbach bei Bad Liebenzell. Teil 2: 43:37 min.
Vortrag am Seminartag »Zionismus, Nahostkonflikt und islamistischer Antisemitismus« am 27. Januar 2024 (Holocaustgedenktag) in Maisenbach bei Bad Liebenzell. 46:32 min.
Vortrage am Seminartag »Zionismus, Nahostkonflikt und islamistischer Antisemitismus« am 27. Januar 2024 (Holocaustgedenktag) in Maisenbach bei Bad Liebenzell.
Der auf dieser Seite wiedergegebene Artikel von Timo Roller ist zuerst im Schwarzwälder Boten erschienen.