Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 14

Im Stammlager Auschwitz I (13. Juli 1942 – Januar 1943)

Mordechai Papirblat war vom 13. Juli bis Januar 1943 als Häftling im Stammlager. Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 133 – 200.

Im folgenden Text werden Informationen gegeben, die den Bericht ergänzen, den er in seinem Buch gibt. Auf einzelne Abschnitte des Buchs wird im Text verwiesen.

Der Tagesablauf war immer gleich und erfolgte in militärischem Stil: Eine Sirene weckte die Häftlinge um 4 Uhr (Sommer) bzw. 5 Uhr (Winter) in der Früh. Da alle Häftlinge gleichzeitig aufstanden, war das Gedränge in den schmalen Gängen zwischen den Stockbetten groß. Die »Betten« mussten gemacht werden und man verrichtete die Morgentoilette, die diesen Namen kaum verdiente. Weil viele gleichzeitig versuchten, die wenigen Waschbecken und Toiletten zu erreichen, bildeten sich Schlangen. Auch bei der Ausgabestelle des Tees bzw. dünnen Kaffees bildeten sich Schlangen. Da der sog. »Juden-Block« als letzter versorgt wurde, blieb vielen jüdischen Häftlingen oft keine Zeit zum Trinken; Essen gab es morgens keines. Alles geschah unter der brutalen Aufsicht des Blockältesten und unter großem Zeitdruck. Viele Häftlinge hatten weder die Kraft noch die Zeit für die »Wäsche« oder für den Tee.

Abbildung 1: Ein Teil des Appellplatzes zwischen Block 16 (rechts) und Block 17 (links), Auschwitz I-Stammlager; 2019.

Bereits eine halbe Stunde nach dem Wecken rief ein erneutes Signal zum Morgenappell. Pünktlich und bei jedem Wetter mussten alle Häftlinge auf dem Appellplatz2 erscheinen und sich in Zehnerreihen aufstellen, damit sie leichter gezählt werden konnten. Die Leichen der nachts Verstorbenen mussten ebenfalls aus den Stuben zum Appellplatz gebracht werden – die Zahlen mussten stimmen, tot oder lebendig.
Damit man die Häftlinge gut sehen konnte, standen die Kleinen vorne, die Großen hinten. Mordechai stand immer in der ersten Reihe. Wenn bei der Kleidung etwas nicht stimmte bzw. nicht richtig saß, erfolgte eine Bestrafung. Wer beim Kommando »Mützen ab, Mützen auf« nicht im Rhythmus blieb, wurde bestraft. Jedes Mal wurden Häftlinge bestraft und schikaniert, oft auch willkürlich. Es bedeutete das Todesurteil, wenn man wegen Krankheit, Schwäche oder weil man sich versteckte nicht zum Appell erschien.2

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2013, 0:05:11 – 0:05:50.

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 0:37:24 – 0:39:36.

Die Häftlinge wurden gezählt und zur Arbeit in »Kommandos« eingeteilt. Nach dem Morgenappell marschierten die Arbeitskommandos zu ihrem Arbeitsplatz. Wer in einem Außenkommando tätig war, verließ das Lager durch das Tor mit der Aufschrift »Arbeit macht frei« (siehe Kap. 12.1 Abb. 2). Am Tor vor dem Küchenblock spielte das Lagerorchester Marschmusik. Lagerorchester gab es auch in Birkenau und Monowitz sowie in einigen Außenlagern.3 Der Fußmarsch zu den Außenkommandos konnte mehrere Kilometer betragen. War das Arbeitskommando bei der Arbeitsstelle angekommen, erfolgte wieder ein Zählappell. Die Zwangsarbeit geschah im Sommer bei großer Hitze und im Winter bei klirrender Kälte, bei Sonnenschein und Regen oder Schneefall. Die Arbeitsausrüstung und Kleidung waren dabei völlig unzureichend. Permanent waren die Häftlinge der Willkür der Kapos, der Vorarbeiter und der Lager-SS ausgeliefert. Wer floh, zu fliehen versuchte oder auch nur den erlaubten Bereich verließ, wurde erschossen.
Eine gewisse Erholung brachte die halb- bis einstündige Mittagspause, bei der sich die Häftlinge ausruhen konnten und eine dünne Suppe erhielten, bei schwerer körperlicher Arbeit im Außenkommando gab es gegebenenfalls etwas Wurst dazu. Immer wieder wurden die Juden bei der Essensausgabe benachteiligt. Sie erhielten die dünne Suppe aus dem oberen Topfbereich. Die polnischen und russischen Häftlinge dagegen teilten sich den unteren Bereich der Suppe zu, der das Gemüse enthielt und damit nahrhafter war. Nach der Mittagspause ging die Zwangsarbeit weiter, bis zum erneuten Zählappell gerufen wurde, der vor dem Rückmarsch ins Stammlager durchgeführt wurde. Auch hier mussten die Leichname derer, die bei der Arbeit gestorben oder von einem Kapo umgebracht worden waren, von den anderen Häftlingen ins Lager zum Appellplatz getragen werden, damit das Arbeitskommando »vollzählig« zurückkehrte.
Der Abendappell dauerte so lange, bis alle Arbeitskommandos angetreten und die Häftlinge gezählt waren. Wenn Häftlinge fehlten, wurde der Appell so lange fortgeführt, bis alle gefunden waren – tot oder lebendig. Das konnte mehrere Stunden dauern. Wenn ein Häftling gegen die Lagerordnung verstoßen hatte, konnte es zu einem Strafappell kommen, bei dem Häftlinge vor aller Augen hingerichtet wurden. Nach einem elfstündigen Arbeitstag und wegen der unzureichenden Ernährung brachen bei den Appellen immer wieder Häftlinge erschöpft zusammen.

Abbildung 2: Lagerorchester am Lagertor Auschwitz I-Stammlager; 1941.

Im Anschluss an den Abendappell gab es eine Brotration. Das Brot war klebrig und man musste es mit anderen teilen. Dabei nahmen die Starken häufig den Schwachen das Brot weg. Die erfahrenen Häftlinge bewahrten sich einen Teil des Brots für den nächsten Morgen auf, da der Schlaf einen den Hunger vergessen ließ, wenn man schlafen konnte, die harte Zwangsarbeit am Vormittag dagegen kaum auszuhalten war, wenn man von der Brotration am Abend bis zur Suppe am Mittag kein anderes Essen zu sich nehmen konnte. Das Risiko dabei war allerdings, dass es sein konnte, dass einem das Brot nachts gestohlen wurde.
Ab 21 Uhr durften die Blöcke nicht mehr verlassen werden.

Den täglichen Kampf ums Brot schildert Mordechai mehrfach:4
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 156f.

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 0:49:24 – 0:51:45.

Abbildung 3: Liebermann-Shiber: Dieb.

Das Leben im Lager war von andauerndem Hunger und permanenter Angst bestimmt. Die Häftlinge waren vollkommen rechtlos und damit den willkürlichen Schikanen, der Brutalität und Folter bis hin zu Hinrichtungen machtlos ausgeliefert. Sie wurden entwürdigt und gedemütigt. Unterernährung, Krankheit, Sterben und Tod waren alltäglich. Der körperliche und psychische Ausnahmezustand war die Regel. Wer krank wurde, versuchte sich trotzdem so lange wie möglich vom Krankenbau fernzuhalten, da man dort in der Regel nicht behandelt, sondern ins Krematorium gebracht wurde, damit die »Sollzahlen« erfüllt wurden.
Immer wieder nahmen sich Häftlinge das Leben, indem sie in den Elektrozaun liefen oder sich in verbotene Bereiche begaben, um von den Wachleuten erschossen zu werden. Diese Häftlinge sahen keine andere Möglichkeit, um dem Leid und Schrecken zu entrinnen.5

Abbildung 4: Umzäunung Nordwest-Ecke des Stammlagers von außen nach innen: Sichtschutzzaum, Wachturm, zwei Reihen elektrischer Stacheldrahtzaun, Kiesbett, dessen Betreten verboten war; 2019.
Abbildung 5: Umzäunung Nordost-Ecke Auschwitz I-Stammlager mit Schild »Vorsicht Hochspannung Lebensgefahr"; 2019

Doch es entwickelten sich auch »Freundschaften« zwischen Häftlingen, man unterstützte sich und gab sich Tipps, die für das Überleben im Lager hilfreich waren. Als Erstes kämpfte man um sein eigenes Überleben, dann schaute man nach seinen Freunden, Landsleuten und Glaubensgenossen.

Für das Überleben unabdingbar waren zusätzliche Essensrationen, »leichtere« Arbeiten und weniger brutale Kapos. Um dies zu bekommen, brauchte man Beziehungen, Bestechungsmittel und immer wieder glückliche Fügungen. Von älteren Häftlingen erfuhr Mordechai, was für das Überleben wichtig war. So lernte er, wie man durchkommt, auf was man achten muss und wie man Nahrungsmittel oder wichtige Güter für den blühenden Schwarzhandel organisierte.

Durch die neueintreffenden Transporte kamen Häftlinge aus verschiedenen Ländern Europas nach Auschwitz. Im Lager herrschte ein Durcheinander der Sprachen. Mordechai versuchte die wichtigsten Wörter der unterschiedlichen Sprachen zu lernen. Zudem erfuhr man von neu ankommenden Häftlingen, was in der Außenwelt geschah.

Weibliche Häftlinge
Als Mordechai nach Auschwitz kam, bildeten die Blöcke 1 bis 11 das Frauenlager, das durch eine Steinmauer vom Männerlager getrennt war. Doch schon bald (ab 16.08.19426) wurden die Frauen ins Frauenkonzentrationslager nach Birkenau verlegt (Bauabschnitt Ia; siehe Kap. 13.3 Abb. 1), weil der Platz im Stammlager für Männer benötigt wurde. Mordechai wurde für den Abriss der Mauer eingeteilt.
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 152f.

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2013, 0:15:30 – 0:15:50.

Arbeitskommandos
Um Beziehungen unter den Häftlingen oder zu den Kapos zu erschweren, wurden die Häftlinge immer wieder in neue Blöcke und in neue Arbeitskommandos eingeteilt. Mordechai musste Kohle von Güterzügen abladen, Kartoffeln sortieren, Holz für die SS richten, Kies abbauen, Erdbegradigungen vornehmen und anderes mehr.
Ein hartes Arbeitskommando, dem er ebenfalls zugeteilt wurde, war der Gleisbau. Mit diesem Arbeitskommando verlegte er Schienen nach Birkenau. Dabei mussten die schweren Schienen auf den Schultern getragen werden. Weil er klein war, lastete das ganze Gewicht auf ihm.
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 162f.

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 0:39:36 – 0:41:02.

Ende Herbst 1942 war das Lager wieder einmal völlig überbelegt, weshalb eine große Selektion durchgeführt wurde. Buchstäblich in letzter Minute fand Mordechai ein Arbeitskommando und entging so dem Tod in der Gaskammer. Mit dem »Arbeitskommando Laboratoriumsbau Rajsko« (Versuchspflanzungen, Gartenbau) erwischte er sogar eine vergleichsweise gute Arbeit. Weil ihn seine Arbeitskameraden deckten und unterstützten, überlebte er dort sogar eine Typhuserkrankung.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 191 – 193.

m Anschluss an einen Abendappell Mitte Januar 1943 musste Mordechai mit seinem »Arbeitskommando Laboratoriumsbau Rajsko« vortreten. Andere Arbeitskommandos mussten dazu treten. Die Häftlinge hatten große Angst und befürchteten das Schlimmste, da das Lager wieder einmal überfüllt war. Handelte es sich um eine Selektion? Sie erhielten ihre Brotration und mussten das Lager verlassen. Gut bewacht marschierten sie bis ins Lager Birkenau. Gerüchteweise hatten sie bereits von Birkenau gehört. Nun sahen sie das Lager mit eigenen Augen und rochen den Geruch von verbranntem Fleisch, der über dem Lager lag. Links von der Straße befand sich ein großes Lager und auf der anderen Straßenseite wurde ein neues gebaut. Die Holzbaracken steckten im Schlamm. Alles war mit elektrischem Stacheldrahtzaun umgeben. Sie sahen zahllose Häftlinge. Die Neuangekommenen hatten Todesangst, weil sie meinten, dass ihr Weg nun in die Gaskammern führen würde.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 199 – 203.

1Abb. 1: Foto, Appellplatz Auschwitz I-Stammlager, Thorsten Trautwein, 2019.
2Vgl. auch Andrej Reisin, »Alltag« in den Konzentrationslagern, 18.11.2019; https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Konzentrationslager-Alltag-in-der-Hoelle,auschwitz116.html (22.11.2019).
3Abb. 2: Foto, Schautafel am Lagertor Auschwitz I-Stammlager zeigt das Lagerorchester, Originalfoto: SS-Fotograf 1941, Thorsten Trautwein, 2019. Vgl. Auschwitz-Birkenau State Museum (Hg.), Texte: Jaroslaw Mensfelt, Rundgang durch die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Oswiecim 2018, S. 12.
4Abb. 3: Bild Nr. 76 aus: Ella Liebermann-Shiber, Erinnerungen aus dunkler Vergangenheit. Texte und Zeichnungen einer Holocaust-Überlebenden im Kontext ihres Lebens und Gesamtwerks, hrsgg. von Zedakah e.V. und Thorsten Trautwein, Edition Papierblatt Bd. 4, Neulingen 2021, S. 171; vgl. https://www.papierblatt.de/edition/band4.
5Abb. 4 und 5: Fotos, Auschwitz I-Stammlager, Thorsten Trautwein, 2019.
6https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Auschwitz-Birkenau (29.12.2019).

Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020