Der Konzentrationslagerkomplex Auschwitz wurde bis Anfang 1944 immer weiter ausgebaut. Auschwitz II-Birkenau war seit Herbst 1943 das einzig verbliebene Vernichtungslager und somit in fataler Weise dafür geeignet, die eintreffenden Häftlinge in arbeitsfähige und arbeitsunfähige zu selektieren: Erstere der Zwangsarbeit »zuzuführen« und Letztere der Vernichtung. Darum trafen permanent Transporte aus aufgelösten Ghettos und Lagern des Generalgouvernements sowie aus anderen Ländern Europas in Auschwitz ein. Der deutsche Einmarsch in Ungarn (März 1944) führte zu einer Massendeportation der ungarischen Juden nach Auschwitz.1 So wurden zwischen Mai und Juli 1944 438.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz verschleppt. So viele Menschen wie nie zuvor trafen in kurzer Zeit in Auschwitz ein. Die Zustände waren chaotisch.
Die Rampe innerhalb des KZ Auschwitz II-Birkenau wurde seit ihrer Fertigstellung im Mai 1944 zum Schauplatz der ankommenden Deportationszüge, der unmittelbar folgenden Selektionen und damit der Entscheidung über Leben und Tod.2 Bis zu den Gaskammern und Krematorien waren es nur wenige Hundert Meter, was den Vernichtungsprozess erheblich vereinfachte und beschleunigte.
Der Vormarsch der Roten Armee und der Rückzug der deutschen Wehrmacht führten dazu, dass seit Anfang 1944 kaum mehr Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter für die deutsche Wirtschaft zur Verfügung standen, wodurch sich der Arbeitskräftemangel vor allem in der Rüstungsindustrie massiv bemerkbar machte. Hatte die nationalsozialistische Führung bisher darauf verzichtet, Juden im Reichsgebiet als Zwangsarbeiter einzusetzen, wurde dies nun aufgegeben. An der neuen Rampe bestiegen seither arbeitsfähige Häftlinge die Deportationszüge und wurden dorthin gebracht, wo Bedarf an Arbeitskräften bestand. Dazu gehörte die unterirdische Fertigung der Luftwaffenrüstung, welche die NS-Führung seit März 1944 massiv vorantrieb. Hunderttausende neue Zwangsarbeiter waren dafür notwendig, die von Auschwitz aus ins gesamte Reichsgebiet wie Ware »verschickt« wurden. Das KZ Auschwitz entwickelte sich damit zum Hauptumschlagplatz von Zwangsarbeitern. Der verwaltungstechnische und logistische Aufwand in Zeiten, in denen gleichzeitig Züge von den Fronten und zu den Fronten unterwegs waren sowie Bahnknotenpunkte von den Alliierten bombardiert wurden, war erheblich.
Aus Auschwitz wurden Häftlinge zum Beispiel zu folgenden Außenlagern des KZ Natzweiler-Struthof (Elsass)3 verschleppt:4
Die Zwangsarbeit und die Massenvernichtung gingen in den Stamm- und Nebenlagern von Auschwitz auch in der zweiten Jahreshälfte 1944 weiter, obwohl die Sowjetarmee unaufhaltsam in Richtung Westen vorrückte. Die Massenvernichtung in Birkenau erreichte in diesen Monaten sogar neue »Höchststände«, bis sie im November 1944 endlich gestoppt wurde. Daraufhin ließ die SS die Gaskammern und Krematorien demontieren. Die beweglichen Teile sollten im KZ Mauthausen wieder aufgebaut werden. Die verbliebenen Anlagen wurden vom 20. bis 26. Januar gesprengt. Gleichzeitig begann die erste Phase der »Evakuierung« der Auschwitzer Haupt- und Nebenlager. Zwischen August 1944 und Januar 1945 wurden ca. 65.000 arbeitsfähige Häftlinge ins Reichsgebiet transportiert, damit sie dort in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden konnten. Zur Beseitigung der Spuren in den Lagern wurde ein Großteil der Geheimakten verbrannt und viele Güter der Ermordeten ins Innere des Reichs gebracht.
1Vgl. zum Ganzen: Das KZ Auschwitz 1942 – 1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, bearb. von Andrea Rudorff, VEJ 16, Berlin/Boston 2018, S. 38-40; Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, bpb Schriftenreihe Bd. 1708, Bonn 2016.
2Abb. 1: Foto, Thorsten Trautwein, 2019.
3Vgl. http://www.struthof.fr/de/das-kl-natzweiler/ (20.04.2020); http://vgkn.eu/de/geschichte/ (24.04.2020); https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Natzweiler-Struthof (20.04.2020); https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Au%C3%9Fenlager_des_KZ_Natzweiler-Struthof (24.04.2020).
4Diese Lager wurden ausgewählt, da sie in der Nähe des Dienstsitzes des Autors liegen.
5Vgl. https://www.kz-gedenkstaette-leonberg.de/startseite/ (20.04.2020).
6Vgl. https://www.gedenkstaette-vaihingen.de/ (20.04.2020).
7Volker Mall und Harald Roth, Das KZ-Außenlager auf dem Nachtjägerflugplatz Hailfingen/Tailfingen, S. 20 (Auszug aus: Volker Mall und Harald Roth, Jeder Mensch hat einen Namen, Berlin 2009); vgl. https://www.kz-gedenkstaette-hailfingen-tailfingen.de/pdf/i.kz.zu_zusammenf_a1.pdf (19.04.2020). Vgl. https://www.kz-gedenkstaette-hailfingen-tailfingen.de/ (20.04.2020).
8Martin Frieß, Calw war ein Glücksfall im Unglück, in: Schwarzwälder Bote 01.04.2020; vgl. https://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.calw-calw-war-ein-gluecksfall-im-unglueck.2bd21621-e22c-48f9-8ee9-f05d983b7e40.html (20.04.2020). Vom selben Autor ist eine Monografie über das KZ-Außenlager Calw im Erscheinen begriffen.
Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020