Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 17.6

Ende des Lagers Neu-Dachs

Seit November 1944 kursierten Gerüchte, dass die Front näher rücke und die deutsche Wehrmacht im Rückzug begriffen sei. Im Dezember wurde es zur Gewissheit. Die SS wurde unruhiger und sorgte sich um Ausbrüche. Rechts und links des Weges vom Lager zum Fabrikgelände wurde ein Stacheldrahtzaun errichtet.

Das neue Jahr hatte kaum begonnen, als die sowjetischen Streitkräfte am 12. Januar 1945 eine massive Offensive starteten. Bald schon waren die Kriegshandlungen der Front im Lager hörbar. Auch wenn der Geschützdonner und die Explosionen noch in weiter Ferne waren, rückten die Bodentruppen der Roten Armee unaufhaltsam näher!

Am 16. Januar 1945 traf ein, was schon seit Längerem befürchtet worden war: Die Bombe eines sowjetischen Flugzeugs schlug gegen 22 Uhr im Wirtschaftsgebäude ein, das in der Mitte des Lagers stand. Mehrere Häftlinge kamen dabei ums Leben. Scheiben der angrenzenden Baracken sprangen und aus Mordechais Baracke wurde die Tür gerissen.
Der nächste Morgen begann trotzdem wie gewohnt mit dem Gong zum Wecken und dem Morgenappell. Die Kommandos gingen zur Arbeit. Auch wenn es keine offizielle Auskunft gab, war im Verlauf des 17. Januar klar, dass es der letzte Arbeitstag sein würde. Wie wird es jetzt weitergehen? Die Häftlinge waren verunsichert und fürchteten das Schlimmste. Auch wenn die Kommandos früher von der Arbeit zurückkehrten, endete der Tag wie immer mit dem Abendappell. Die Häftlinge mussten daraufhin in ihre Blöcke gehen.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 399 – 404.

Doch die Nacht währte nicht lange. Gegen 21 Uhr wurde zu einem Sonderappell gerufen. Die Häftlinge mussten aufstehen und sofort antreten. Die Blockältesten trieben die Häftlinge aus den Baracken nach außen zum Appell. Vor ihren Blöcken mussten sie sich aufstellen. An den SS-Soldaten, die mit ausgerichteten Maschinengewehren auf den umliegenden Dächern lagen, erkannte Mordechai schnell, dass es anders war als sonst. Als dann noch SS-Einheiten in voller Kampfausrüstung anmarschierten, dachte Mordechai, dass das Ende gekommen sei. Werden sie jetzt zusammengetrieben und liquidiert? Doch sie erhielten Anweisungen, dass man in einer Stunde zu Fuß aufbrechen würde und sie so viel mitnehmen sollten, wie sie tragen konnten. Daraufhin mussten sie zurück in die Baracken, ihre Decken zusammenlegen und mit ihnen erneut antreten. Anschließend wurde Brot verteilt, das aber nicht für alle reichte. Mordechai ging leer aus. Gegen 22 Uhr mussten sich die Häftlinge blockweise in Fünferreihen aufstellen und auf Kommando losmarschieren. Am Lagertor wurden sie noch einmal gezählt – alles hatte seine Ordnung. Bei klirrender Kälte verließen sie zwischen 22.30 und 23 Uhr das Lager und marschierten hinaus in die Nacht, in der nur das Klappern der Holzschuhe auf dem gefrorenen Asphalt zu hören war. Die Männer hatten kaum geschlafen und waren von Ungewissheit erfüllt: Wo werden sie hingeführt? Was wird geschehen?
Währenddessen verbrannten SS-Männer neben der Kommandantur die Lagerakten. Das SS-Arbeitslager Neu-Dachs wurde evakuiert.

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2013, 0:34:18 – 0:35:35.

Mordechai erzählt, dass der Krankenbau mitsamt seinen Insassen gesprengt worden sei. Andere Quellen berichten das nicht.1

40 Häftlinge, die zu schwach für den Marsch waren, wurden im Lager erschossen. 400 weitere kranke Häftlinge wurden ohne Bewachung lebend zurückgelassen. Sie wurden am 19. Januar 1945 von Kämpfern der lokalen Armia Krajowa befreit. Ca. 350 Häftlinge befanden sich noch im Lager, als die Rote Armee eine Woche später eintraf. Mordechai gehörte zu den übrigen ca. 3.200 Häftlingen, die auf den sog. Todesmarsch von Neu-Dachs in Richtung Westen geschickt wurden (siehe Kap. 18).

1Vgl. Urteilsbegründung des Schwurgerichts beim Landgericht Aschaffenburg gegen Hans Stefan Olejak und Ewald Pansegrau, Sitzung vom 3. November 1980, vgl. http://willikomunal.eu/ (18.04.2020).

Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020