Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 445 – 463.
Das Zwangsarbeitslager Blechhammer (auch »Bahnhofslager« genannt) war im April 1942 errichtet worden (oder März 1940) und der Dienststelle »Schmelt« unterstellt worden, die den Einsatz von Zwangsarbeitern im Sudetenland und in Oberschlesien organisierte1. Es war Teil eines größeren Lagersystems. Die Häftlinge bauten chemische Anlagen für die O/S Hydrierwerke AG zur Gewinnung von synthetischem Benzin bei Heydebreck O.S. der I. G. Farben AG2. Der SS-Wirtschaftsbetrieb verlieh die Zwangsarbeiter gegen Bezahlung an die Unternehmen. Seit April 1944 gehörte das Lager als Konzentrationslager Blechhammer zum Lagerkomplex Auschwitz. Es war das größte der Auschwitzer Außenlager.
Untergebracht waren die Häftlinge in Holzbaracken mit je sechs Schlafräumen für jeweils 30 bis 40 Personen. Die wenigen sanitären Einrichtungen des Lagers befanden sich in einer eigenen Baracke. Viele Häftlinge litten an Diarrhoe und Tuberkulose. Das Lager hatte ein eigenes Krematorium, in dem ca. 1.500 Häftlinge verbrannt worden sind (vgl. Abb. 2).3
Am 21. Januar 1945 – als der Todesmarsch aus Neu-Dachs mit Mordechai ankam – schickte die SS ca. 4.000 Zwangsarbeiter aus dem KZ Blechhammer und aus verschiedenen Lagern der Region auf einen gemeinsamen Todesmarsch, der über Kosel, Neustadt O.S., Bad Ziegenhals, Neisse, Ottmachau, Frankenstein und Schweidnitz nach Striegau ins KZ Groß-Rosen führte. Dort kamen die Überlebenden am 2. Februar 1945 an. Ca. 800 Häftlinge sind unterwegs erschossen worden, waren vor Entkräftung gestorben oder erfroren.
Das KZ Blechhammer bildete ein Zwischenziel mehrerer Räumungsaktionen unterschiedlicher Arbeitslager, weshalb immer wieder Häftlinge auf Todesmärschen hier ankamen und nach Groß-Rosen geführt wurden. Die Häftlinge aus Neu-Dachs wurden aufgeteilt. Nach einer ca. einstündigen Pause marschierten die Lagerführer und die SS-Wachmänner mit einem kleineren Teil der Häftlinge weiter; der größere Teil – darunter auch Mordechai Papirblat – blieb zurück. Einige Tage später übernahmen Angehörige der Wehrmacht das Lager und führten die Mehrzahl der verbliebenen Häftlinge auf einem mehrtägigen Fußmarsch nach Groß-Rosen. Die übrigen Häftlinge wurden schließlich von sowjetischen Soldaten befreit.
Mordechai Papirblat beschreibt die Situation eindrücklich in seinem Buch. Zwar mussten sie vorerst nicht wieder marschieren, doch zur Ruhe kamen die Häftlinge, die im Lager zurückgeblieben waren, nicht. Zum einen trieb der Hunger sie um, zum anderen waren die Einschläge der Artilleriegeschosse deutlich zu hören. Nicht wenige suchten nach Verstecken im Lager, um im Falle eines Weitermarschs zurückbleiben zu können. Auch Mordechai suchte sich ein Versteck, das er in einem Geräteschuppen fand. Er hatte keine Kraft mehr um weitermarschieren zu können und fürchtete, dass er einer der Nächsten wäre, der erschossen würde, sobald er zusammenbricht.
Als er wieder aus seinem Versteck hervorgekommen war, erzählte er christlichen Polen, die er gut kannte, von den Werkzeugen. Zwischenzeitlich hatten die Lagerführer und die kräftigen Häftlinge das Lager verlassen (s.o.). Da nahmen sich die polnischen Häftlinge eine Hacke und schlugen während der Detonationen ein Loch in eine der Betonplatten, die das Lager umgaben. Das geschlagene Loch verschlossen sie anschließend wieder mit den herausgebrochenen Steinen. Bei Tag wäre eine Flucht zu auffällig gewesen.
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 452f.
Das Warten wurde zur Qual. Erst als die SS eine Baracke abbrannte, überfiel die Häftlinge eine große Angst. Sie meinten, dass die Liquidierung des Lagers begonnen habe und ihre Ermordung unmittelbar bevorstehe. Da rannten diejenigen, die das Loch in die Mauer geschlagen hatten, zum Loch und nahmen die Steine heraus. Mordechai folgte ihnen. Einer nach dem anderen zwängte sich hindurch. Mordechai war einer von ihnen. Wie die anderen lief er zum nahen Wald. Da bemerkten die SS-Wachen die Fliehenden und schossen auf alle, die sich in der Nähe des Durchbruchs befanden. Doch Mordechai war bereits im Freien und erreichte den Wald. Sie liefen und liefen immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Als sie nicht mehr konnten, blieben die Geflohenen außer Atem stehen und merkten, dass ihnen niemand gefolgt war. Sie waren 20 Häftlinge, denen die Flucht vor ihren Peinigern gelungen zu sein schien! Doch wo sollten sie jetzt hin? Wo würden sie Essen finden? Wie sollten sie überleben? Eine weitere eiskalte Winternacht lag vor ihnen. Sie hatten Angst in der Freiheit zu erfrieren oder von Deutschen aufgegriffen und umgebracht zu werden. An ihrer Häftlingskleidung waren sie leicht als Lager-Flüchtige erkennbar. Es kam zu einem Streit, worauf sie sich in drei Gruppen aufteilten und ihr Glück auf unterschiedlichen Wegen suchten.
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 457 – 460.
Der Todesmarsch der übrigen Häftlinge ging weiter bis ins KZ Groß-Rosen. Viele starben auf dem Weg bzw. wurden erschossen. Gemeinsam mit anderen Häftlingen, die nach Groß-Rosen geführt wurden, erfolgte von dort die Deportation mit der Bahn ins KZ Buchenwald. Der Todesmarsch von Neu-Dachs bis Buchenwald war einer der längsten und verlustreichsten von allen Todesmärschen.
Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 1:11:33 – 1:12:33.
Zum ganzen Kapitel:
Urteilsbegründung des Schwurgerichts beim Landgericht Aschaffenburg gegen Hans Stefan Olejak und Ewald Pansegrau, Sitzung vom 3. November 1980, S. 49, vgl. http://willikomunal.eu/ (18.04.2020).
Boguslaw Kopka, Jaworzno – Lager »Neu-Dachs«. Geschichte, in: https://erinnerungsorte.org/miejsca/jaworzno-lager-neu-dachs/ (28.12.2019).
https://de.wikipedia.org/wiki/SS-Arbeitslager_Neu-Dachs (28.12.2019).
https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Blechhammer (30.12.2019).
https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitslager_Blechhammer (30.12.2019).
http://auschwitz.org/en/history/auschwitz-sub-camps/blechhammer/ (24.04.2020).
http://www.tenhumbergreinhard.de/1933-1945-lager-1/1933-1945-lager-b/blechhammer-blachownia-1.html (24.04.2020).
1 Abb. 1: Plan, Jacques Lahitte, eigenes Werk, 2008, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5042129 (30.12.2019).
2 »O/S« und »O.S.« waren Abkürzungen für »Oberschlesien«.
3 Abb. 2: Jacques Lahitte, eigenes Foto, 2007, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wikipedia-blechhammer-camp3.jpg (30.12.2019).
Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020