In zwei Bussen erreichten die 50 jungen Frauen und Männer am 5. Februar 1946 den Kibbuz Gescher im Jordantal (siehe Abb. 86). Sie wurden herzlich empfangen. Über dem Eingang des Kibbuz hing ein Banner mit der Aufschrift »Die Söhne kehren in ihr Land (wörtlich »ihre Grenzen«) zurück«. Im Gemeinschaftshaus des Kibbuz waren die Tische im Gemeinschaftssaal bereits festlich gedeckt. Nach einer Willkommensrede wurde gegessen. Es gab unter anderem Lammbraten von Tieren des Kibbuz. Viele der Neuankömmlinge hatten noch nie in ihrem Leben Lammbraten gegessen. Es war ein herrlicher Abend, der mit Gesang und Tanz ausklang. Was für ein Gegensatz zu dem Leid und den Schmerzen der Vergangenheit! Die Neueinwanderer fühlten sich erwartet und willkommen!
In den ersten Tagen lernten sich die Eingesessenen und die Neuangekommenen besser kennen. Zudem mussten wichtige Fragen geklärt werden. Die wichtigste war diejenige, wo die Neuangekommenen überhaupt untergebracht werden sollten. Im Kibbuz lebten damals rund 100 Personen und von heute auf morgen standen weitere 50 junge Leute vor der Tür! Die jungen Frauen durften Zimmer in den kleinen, einfachen Steinhäusern beziehen. Dazu verzichteten einzelne Familien des Kibbuz auf ihre Zimmer und zogen in Baracken um. Die jungen Männer wohnten zunächst in Lehmhütten oder in Zelten. Manche der ledigen Kibbuz-Bewohner nahmen Neuankömmlinge in ihre Zimmer auf oder zogen selbst in Zelte um. Man improvisierte und half sich gegenseitig. Vom Alter passten die Neuankömmlinge gut zu den Kibbuz-Bewohnern. Sie waren alle zwischen 20 und 30 Jahre alt.
Der erste gemeinsame Schabbat-Abend wurde wieder festlich und fröhlich gefeiert. Die Tische waren mit weißen Tischdecken gedeckt. Es gab die traditionellen Challot aus der Bäckerei des Kibbuz und Wein. Josef Zwi Halperin sprach im Namen der Neuankömmlinge. Er blickte auf das bisherige Leben in der Diaspora zurück und dankte sehr für die herzliche Aufnahme. Aus unterschiedlichen Gründen verließen im Lauf der nächsten Wochen und Monate ein Großteil derer, die mit Mordechai gekommen waren den Kibbuz. Schließlich blieben nur sechs der Neuankömmlinge im Kibbuz.
Als Mordechai dem Kibbuz beigetreten ist, war er fast 23 Jahre alt. Auf seiner Karteikarte, die immer noch im Archiv des Kibbuz aufbewahrt wird, steht als Geburtsdatum jedoch »1927«, nicht 1923! Das kommt daher, dass er sich in Radom als jünger erklärt hat, um nicht in die polnische Armee eingezogen zu werden (siehe Kap. 24). Seitdem hat er sich nicht getraut, sein wirkliches Geburtsjahr anzugeben. Immer wieder wurde seither »1927« auf seinen gefälschten und regulären Ausweispapieren als Geburtsjahr notiert. Das würde für ihn noch Folgen haben, an die er damals nicht gedacht hat!
Zum ganzen Kapitel:
Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996 (Hebräisch).
1Abb. 1: Unbekannter Autor, Foto, Archiv Kibbuz Gescher; abfotografiert von Timo Roller, 2019.
2Abb. 2 und 3: Fotos, Timo Roller, 2019.
3Abb. 4 und 5: Fotos Karteikasten und Karteikarte Mordechai Papirblat (1946) aus Archiv Kibbuz Gescher, Thorsten Trautwein, 2019.
Autor: Thorsten Trautwein, 04.08.2020