Bei seinen Aufenthalten in Tel Aviv vertraute Mordechai den Bekannten an, dass ihm das Leben im Kibbuz nicht zusagte und er den Kibbuz verlassen wollte. Daraufhin vermittelten ihm die Bekannten den Kontakt zu jemanden, der Häuser baute und möglicherweise einen Mitarbeiter suchte. Mordechai ließ sich das nicht zweimal sagen und besuchte den Mann. Dieser sagte Mordechai zu, dass er solange bei ihm arbeiten könnte, bis er etwas anderes gefunden hatte. Nun fehlte Mordechai nur noch ein Dach über dem Kopf. Als er auch das gefunden hatte, besaß er die Grundlage für den Beginn eines neuen Lebens in Tel Aviv. Mordechai war nun bereit, den Kibbuz zu verlassen.
Nach seiner Rückkehr in den Kibbuz erklärte er bei einer Versammlung, dass und warum er den Kibbuz verlassen werde. Die Kibbuzniks waren überrascht und bedauerten es. Sie hatten gedacht, dass er bleiben würde, da er schon ein Jahr bei ihnen war und nicht wie die meisten anderen gleich wieder gegangen war.
Am nächsten Tag, am 2. Februar 1947, bestieg Mordechai den Bus in Richtung Tel Aviv. Er verließ den Kibbuz und hat ihn nie wieder betreten. In einer Hand hielt er seine Tasche in der anderen trug er ein zusammenklappbares Metallbett, das er dem Kibbuz abgekauft hatte.
Wieder einmal verließ Mordechai einen Ort und brach zu einem neuen auf. Mordechai saß im Bus und ließ das Leben im Kibbuz hinter sich. Wieder befand er sich auf dem Weg. Seit annähernd acht Jahren hatte er keine dauerhafte Bleibe mehr. Immer wieder hieß es Aufbrechen und Weiterziehen. Mittlerweile war er fast 24 Jahre alt. Immer noch war er auf der Suche nach Verwandten. Wo lebten sie? Lebten sie überhaupt noch in Erez Israel?
Mordechai erinnerte sich an seinen Weg nach Radom (siehe Kap. 23 und 24). Auch dorthin war er hoffnungsvoll zurückgekehrt. Doch hatte er in seiner Geburtsstadt nur die Gewissheit gefunden, dass es für ihn keine Zukunft in Polen gab. 20 Monate war es her, dass er mit Nathan nach Kielce aufgebrochen war. Dort hatten sie andere Juden kennengelernt, waren als Gruppe eng zusammengewachsen, hatten gemeinsam den abenteuerlichen und illegalen Weg durch halb Europa und schließlich übers Mittelmeer gemeistert. Sie alle teilten dasselbe Schicksal als Überlebende des Holocaust und befanden sich auf dem Weg in die Freiheit, die wie ein unbekanntes Land vor ihnen lag. Doch ihr erster Weg in Erez Israel führte sie als Häftlinge ins Lager für illegale Einwanderer (siehe Kap. 34). Dieses Lager der britischen Mandatsherren konnten sie jedoch wenig später als freie Bürger Palästinas verlassen und gingen gemeinsam in den Kibbuz Gescher. Allerdings verließen immer mehr ehemalige Weggefährten den Kibbuz schon bald wieder. Die starke Gemeinschaft war auseinandergebrochen und zu denen, die schon länger im Kibbuz waren, die den Holocaust nicht miterlebt hatten, hatte Mordechai keinen tragfähigen Zugang gefunden.
Nun saß er im Bus und hat den Kibbuz hinter sich gelassen. War dieses Jahr in Gescher eine verlorene Zeit? Hätte er von Atlit aus gleich nach Tel Aviv gehen sollen? Wäre er dazu überhaupt in der Lage gewesen? Mordechai schaute aus dem Fenster und sah, wie die Landschaft an ihm vorbeizog. Erez Israel, das britische Mandatsgebiet Palästina, in dem Juden und Araber lebten.
Autor: Thorsten Trautwein, 04.08.2020