Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 6

Flucht aus dem Warschauer Ghetto (April 1941)

Das Leben im Warschauer Ghetto wurde immer dramatischer und hoffnungsloser. Mordechai und seine Familie hatten weder genügend Geld noch Wertgegenstände (z.B. Schmuck), um sich falsche Pässe für die Flucht zu besorgen. Alles hatten sie bereits gegen Lebensmittel eingetauscht. Die Familie beschloss, dass Mordechai aus dem Ghetto fliehen und zur Schwester des Vaters, Rajca Wajngarten, aufs Land nach Jablonow gehen sollte. Der Rest der Familie werde dann nachkommen.
Die Flucht Mordechais aus dem Ghetto war für die ganze Familie sehr gefährlich. Wenn sie aufflog, würden die Angehörigen in Sippenhaft genommen werden. Bestraft wurde nach der Parole »Alle für einen«.1 Sie überlegten sich verschiedene Varianten, die immer wieder verworfen wurden oder scheiterten.

Abbildung 1: Bekanntmachung über die Todesstrafe bei Verlassen der jüdischen Wohnbezirke sowie bei Unterstützung desselben; Warschau, 10.11.1941.

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 0:09:39 – 0:13:16.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 63 – 65.

Vor Sonnenaufgang, an einem verregneten Tag Ende April, zwei Wochen nach dem Pessach-Fest2 war es soweit. Der kalte Regen, so hoffte man, würde die Wachen unaufmerksam machen. Die Familie verabschiedete sich innig von Mordechai. Die Stimmung war besorgt und hoffnungsvoll zugleich. Niemand wusste, ob seine Flucht gelingen, ob er bei den Verwandten ankommen oder ob sich die Familie jemals wiedersehen würde. Der Achtzehnjährige bekam zwölf Zloty für die Fahrkarte und für Essen. Er nahm die Armbinde mit dem Davidstern ab und ging mit seinem Vater zu einem Mauerstück, das sie im Vorfeld ausgewählt hatten. An dieser Stelle war die Mauer mit einem zerstörten Haus verbunden und es bildete sich eine Ecke, an der sie sich abstützen konnten und vor Blicken etwas geschützt waren. Sein Vater packte Mordechai an den Beinen und stemmte ihn nach oben. Mordechai zog sich an der Mauer vollends nach oben und ließ sich an der anderen Seite hinunter. Das Glas auf der Mauer und der Stacheldraht verletzten seine Hände. Er landete unsanft und verstauchte sich den Fuß. Doch er hatte die andere Seite erreicht und niemand hatte es bemerkt! Dann reichte ihm sein Vater seine Tasche durch das Gitter einer Abwasserleitung. Mordechai nahm die Tasche, ergriff die Hand seines Vaters und verabschiedete sich von ihm. Von jetzt an war er auf sich allein gestellt. Sein Herz klopfte wild. Er wusste nicht, dass dies die letzte Begegnung, die letzte Berührung mit seinem Vater gewesen war.

Vor Sonnenaufgang, an einem verregneten Tag Ende April, zwei Wochen nach dem Pessach-Fest war es soweit. Der kalte Regen, so hoffte man, würde die Wachen unaufmerksam machen. Die Familie verabschiedete sich innig von Mordechai. Die Stimmung war besorgt und hoffnungsvoll zugleich. Niemand wusste, ob seine Flucht gelingen, ob er bei den Verwandten ankommen oder ob sich die Familie jemals wiedersehen würde. Der Achtzehnjährige bekam zwölf Zloty für die Fahrkarte und für Essen. Er nahm die Armbinde mit dem Davidstern ab und ging mit seinem Vater zu einem Mauerstück, das sie im Vorfeld ausgewählt hatten. An dieser Stelle war die Mauer mit einem zerstörten Haus verbunden und es bildete sich eine Ecke, an der sie sich abstützen konnten und vor Blicken etwas geschützt waren. Sein Vater packte Mordechai an den Beinen und stemmte ihn nach oben. Mordechai zog sich an der Mauer vollends nach oben und ließ sich an der anderen Seite hinunter. Das Glas auf der Mauer und der Stacheldraht verletzten seine Hände. Er landete unsanft und verstauchte sich den Fuß. Doch er hatte die andere Seite erreicht und niemand hatte es bemerkt! Dann reichte ihm sein Vater seine Tasche durch das Gitter einer Abwasserleitung. Mordechai nahm die Tasche, ergriff die Hand seines Vaters und verabschiedete sich von ihm. Von jetzt an war er auf sich allein gestellt. Sein Herz klopfte wild. Er wusste nicht, dass dies die letzte Begegnung, die letzte Berührung mit seinem Vater gewesen war.

Abbildung 2: Kartenausschnitt Polen

Ein SS-Mann stand in einiger Entfernung, doch kehrte er Mordechai den Rücken zu und bemerkte ihn nicht. Mordechai wollte zur Weichsel laufen und mit einem Dampfer zu seiner Tante nach Jablonow fahren. Doch plötzlich stand ein etwa 14-jähriger Jugendlicher vor ihm und versperrte seinen Weg. Er wollte Geld von ihm, sonst würde er einen deutschen Soldaten rufen. Es war einer der Polen, die rings ums Ghetto nach Juden suchten, um von ihnen Geld zu erpressen. Mordechai antwortete: »Wir machen das Geschäft um die Ecke in einem Hof.« Dort standen verbrannte Häuserruinen. Mordechai dachte an seine Eltern und Geschwister, deren ganze Hoffnung auf ihm ruhte. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, schlug den Jugendlichen im Innenhof nieder und lief schnell davon.
Mordechai hatte furchtbare Angst zum Anlegeplatz an der Weichsel zu gehen, wo der Dampfer bereits lag. Er war der Meinung, dass der Dampfer um acht Uhr ablegen würde, doch war fast niemand dort. Da sprach ihn eine ältere Frau freundlich an: »Mein liebes Kind, das Schiff fährt heute Morgen nicht. Du musst bis 16 Uhr warten.« Was sollte er tun? Wo sollte er hin? Wo war er sicher? Er hatte Angst, sich auf der Straße zu bewegen, da die polnische Polizei unterwegs war. Zudem regnete es unentwegt. Er zog sich seine Mütze tief ins Gesicht, senkte den Kopf und lief durch die Straßen der Stadt. Völlig durchnässt vom Regen, ängstlich und erschöpft kehrte er nach einigen Stunden zum Anlegeplatz des Dampfers zurück. Er sah, dass das Schiff beladen wurde und Arbeiter immer wieder hin und hergingen. In einem passenden Moment ging er ungesehen an Bord. In einem Aufenthaltsraum unter Deck setzte er sich in eine Ecke und schlief ein.3
Er wurde wach, als ihn ein älterer Mann unsanft weckte: »Hast du eine Fahrkarte?«, wollte er wissen. »Nein.« »Dann geh zur Kasse und kauf dir eine!« An der Kasse stand eine Schlange. Er stellte sich an und zog sich das Schild seiner Mütze über die Augen. Da winkte ihn eine junge Frau zu sich. »Man verkauft hier keine Fahrkarten an Juden.« Sie hatte ihn als Juden erkannt, aber nicht verraten. Außerhalb des Ghettos durften sich Juden nicht mehr aufhalten. Sie sagte ihm »Gib mir das Geld. Ich kaufe eine Fahrkarte für dich.« Was sollte er tun? Sein Herz sagte ihm, er solle ihr das Geld geben. Kurze Zeit später kam sie tatsächlich mit einer Fahrkarte in der Hand zurück! Als er das Schiff betrat, war es bereits voll besetzt. Nur sein alter Platz war noch frei, weil der triefend nass war!

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 0:13:17 – 0:20:15.

Am nächsten Morgen erreichte das Schiff Deblin. Es ging die Weichsel weiter aufwärts bis Regow, wo Mordechai das Schiff verließ und drei Kilometer zu Fuß nach Gniewoszow ging. Er war müde, hungrig und zugleich dankbar, dass er mehrere gefährliche Situationen überstanden hatte. Auf dem Weg traf er Juden, denen er über die Situation in der Hauptstadt berichtete. Fassungslos hörten sie ihm zu. Mordechai wiederum wunderte sich, wie scheinbar ungestört die Juden hier auf dem Land leben konnten.
In Gniewoszow klopfte er bei einem Verwandten an der Tür. Noah Papirblat, ein Bruder seines Großvaters, nahm ihn freundlich auf und versorgte ihn erst einmal mit einer großen Portion Essen. Als die Nachbarn erfuhren, dass einer aus Warschau gekommen war, füllte sich das kleine Haus schnell mit Menschen. Mit Schrecken hörten sie, was Mordechai erzählte. Sie unterhielten sich, bis es dunkel wurde. Bisher hatten die Menschen des Dorfes nur gerüchteweise gehört, was sich in Warschau abspielte. Doch nun hatten sie Gewissheit und waren in größter Sorge um ihre Verwandten. Als Mordechai im Bett lag, dachte er an seine Eltern und Geschwister und daran, wie sie zu ihm kommen könnten. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er richtig satt und durfte in einem frischen Bett schlafen! Am folgenden Vormittag brach er zur letzten Etappe bis Jablonow auf. Der zwölf Kilometer lange Fußmarsch kostete ihn viel Kraft. Von Zeit zu Zeit musste er sich hinsetzen und ausruhen, weil er immer noch sehr geschwächt war.

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 67 – 85.

1Abb. 1: Öffentliche Bekanntmachung des Gouverneurs Dr. Fischer, Warschau, 10.11.1941; Archives of Institute of National Rememberance, Warsaw; Public Domain; vgl. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Death_penalty_for_Jews_outside_ghetto_and_for_Poles_helping_Jews_anyway_1941.jpg (07.04.2020).
2Pessach: 12.04.1941; vgl. https://www.hebcal.com/hebcal/?year=1941&v=1&month=x&yt=G&nx=on&i=off&vis=0&D=on&d=on&c=off&geo=zip&maj=on&min=on&mod=on (20.12.2019).
3Abb. 2: Karte, David Dharsono, eigenes Werk, 2020, Rechte beim Verfasser.
4Es kann sich auch um einen Cousin des Großvaters handeln.

Autor: Thorsten Trautwein, 20.05.2020