Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

X, TikTok, Instagram – Antisemitische Filterblasen

von Timo Roller, 8.4.2024, nach einem Seminar am 2.3.2024 in Tübingen

Wie kann man in der Schule oder an der Uni gegen (auch israelbezogenen) Antisemitismus vorgehen? Das ist – vor allem seit dem schrecklichen Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 – eine sehr dringliche Frage, die eigentlich jeden Lehrer und jeden bildungspolitisch Verantwortlichen umtreiben sollte. Aber in der Beantwortung dieser Frage stoßen wir auf zwei extrem schlechte Nachrichten.

Unbekannte Welten: Die Kluft zwischen den Generationen

Die erste schlechte Nachricht: Die Entwicklungen der Technik in den letzten Jahren war rasant! Menschen um die Fünfzig – meine Generation – haben in der Jugend noch die 3,5-Zoll-Diskette kennengelernt, als junger Erwachsener erlebte ich die Entstehung und Verbreitung des World Wide Web mit. Vor etwas mehr als 25 Jahren wurde Google gegründet. Heute sucht Google nicht nur alles und überall, sondern übersetzt, navigiert, zeigt (auf YouTube) Videos, verwaltet Mails, Termine, Fotos und Dateien in der Cloud. Zusätzlich läuft auf allen Nicht-iPhones das Google-Betriebsystem Android.

Die Sozialen Medien sind eine Vernetzungs- und Kommunikationsform, mit der die »Digital Natives« aufgewachsen sind, es ist eine Selbstverständlichkeit, dass sie über Instagram und Snapchat kommunizieren – E-Mail ist schon wieder völlig »out«. Die Zeit, in der Jugendliche online sind, ist von 2007 bis 2018 von 106 auf 214 Minuten pro Tag gestiegen – und hat dann während der Corona-Zeit einen Wert von über 250 Minuten erreicht1. Andere Umfragen haben sogar noch weitaus höhere Werte ergeben, Suchtbeauftragte warnen vor Abhängigkeit: Man müsse »Kinder und Jugendliche mit einer anständigen Portion Medienkompetenz ausstatten«2. Bis zu 63,7 Stunden pro Woche kommunizieren, zocken und lernen Jugendliche im Netz – oder lassen sich einfach nur unterhalten. Auch Schule findet bevorzugt digital und online statt, denn alles andere ist doch völlig altmodisch …

Innerhalb einer Generation hat der technische Fortschritt alles umgekrempelt! Schüler können sich nicht vorstellen, wie ihre Lehrer und Eltern vor 20 oder 30 Jahren existiert haben, als sie im selben Alter waren: Ohne Smartphone, ohne Navi, ohne Netflix, Spotify und ChatGPT.

Ganz extrem hat sich der Medienkonsum verändert: Lineares Fernsehen oder Radio sind bei der jüngeren Generation nicht mehr üblich, Tageszeitungen nahezu unbekannt. Musik, Unterhaltungsserien und auch Informationsquellen werden gezielt ausgewählt – jedenfalls auf den ersten Blick. Denn aus den Sozialen Medien heraus hat sich ein völlig neuer Mechanismus herausentwickelt, der die Medien »auswählt«: Der Algorithmus. Dieser sorgt zum einen dafür, dass die jungen Konsumenten »am Ball bleiben«, möglichst lange auf einer Plattform oder in einer App verweilen, andererseits werden sie in einer sich immer mehr verengenden Filterblase gehalten. Sie werden mit Gleichgesinnten vernetzt, der Algorithmus erkennt genauestens die Interessen der User – geäußert durch Likes, Freunde, Suchbegriffe und Sehminuten.

Eine aktuelle Analyse der Bildungsstätte Anne Frank zeigt auf: »Schnell geraten User*innen in eine Bubble, die sie nicht so einfach wieder verlassen können.« – und: »Im digitalen Raum wird um Deutungshoheit gekämpft«.3 Die Algorithmen sind hochgradig manipulativ, Meinungen prasseln extrem zugespitzt und ohne Kontextualisierung auf die jungen Leute ein. Gegen diese Medienflut hat es klassischer Unterricht, der noch dazu von »spießigen« Erwachsenen vermittelt wird, extrem schwer.

Antisemitismus in Deutschland: Mittendrin statt nur am Rande

Die zweite schlechte Nachricht: Antisemitismus ist hierzulande ein gewaltiges Phänomen. Und da hilft der vielfach beschworene »Kampf gegen Rechts« nur zu einem gewissen Teil. Gerade der israelbezogene Antisemitimus ist vor allem unter Muslimen in Deutschland sehr weit verbreitet, auch linksgerichtete Klima- und BDS-Aktivisten legen oft einen zügellosen Hass auf Israel an den Tag. Schon vor dem 7.10.2023 wurde den Israelis vielfach Apartheid, Kolonialismus und Rassismus vorgeworfen, ungeachtet der Tatsache, das 20 Prozent der Israelis Araber sind, die meisten von ihnen Muslime – in Israel herrscht Religionsfreiheit.

Ist Kritik an Israel gleich Antisemitismus? – »Man wird doch Israel kritisieren dürfen«, wird oft gefordert. Aber allzuoft ist es keine sachliche Kritik, wie sie gegenüber anderen Ländern (oder dem eigenen Land) geäußert wird. Die sogenannte IHRA-Definition der »International Holocaust Remembrance Alliance« nimmt das Phänomen differenziert unter die Lupe4.

Sehr einprägsam ist der sogenannte 3-D-Test (dämonisieren, delegitimieren und doppelte Standards)5: In den Filterblasen der Israelhasser scheint es oft so, als ob ausschließlich Israel schuld an allem Unglück im Nahen Osten oder gar weltweit ist. »Jüdische Eliten« werden regelmäßig mit dem Staat Israel in einen Topf geworfen und jahrhundertealte Verschwörungsmythen am Leben gehalten. Das ist »Dämonisierung« und eine Fortführung des Sündenbock-Vorwurfs, den es gegenüber Juden schon seit Tausenden von Jahren gibt.

»Delegitimierung« spricht Israel generell das Existenzrecht ab, ohne Berücksichtigung der historischen Vorgänge. »From the river to the sea« – vom Jordan bis zum Mittelmeer: Wenn dort Palästina sein soll, bleibt für Israel kein Platz mehr, auch nicht in den Grenzen von 1967. Israel wird oft als »Besatzungsmacht« dargestellt ohne deren Existenz die Erde ein friedlicher Ort wäre – völlig ungeachtet der historischen Hintergründe der Staatsgründung 1948.

Und schließlich die »Doppelstandards«: Unter welchen Umständen wurden andere Staaten wie Pakistan gegründet, wie groß sind menschliche Verluste und Hungersnöte in anderen Krisengebieten? Darauf wird kaum ein Blick gerichtet. Oft wird Propaganda (Opferzahlen, Fotos und Videos von Leid und Zerstörung, inszenierte Aufnahmen) der Hamas eins zu eins übernommen, vor allem von muslimischen Influencern mit eloquenter deutscher Ausdruckweise und enormer Reichweite. Wahrnehmung und Empörung steigen ins Unermessliche, sobald man Israel die Schuld geben kann. Die UNO verurteilt Israel öfter, als alle anderen Länder zusammen6.

Eine einfache Formel zum Erkennen von Antisemitismus hat der Journalist Henryk M. Broder formuliert: »Wer Juden etwas übel nimmt, das er Nichtjuden nicht übelnimmt, ist ein Antisemit.7« – natürlich lässt sich das auch auf Israelis übertragen. Die Bibel warnt: »Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.« (Sacharja 2,128) – Antisemitismus ist aus biblischer Perspektive ein direkter Angriff gegen Gott!

Wo stehen wir? Die bereits zitierte und sehr lesenswerte Analyse der Bildungsstätte Anne Frank stellt fest: »Für Personen, die nicht auf TikTok sind, kommt die Schulhof-Radikalisierung wie aus dem Nichts.« – »Eine Welle, auf die die Gesellschaft schlichtweg nicht vorbereitet ist.« – »Das unbekannte Massenmedium: Erzielte Reichweiten übertreffen die relevanter klassischer Medien wie Zeitungen, Radio etc. um ein Vielfaches.« Was zu tun ist? – »Die Notwendigkeit, in Medienbildung und politische Bildung zu investieren, ist angesicht der Propaganda-Investitionen politischer Extremisten so evident wie nie.«

Die Lage erscheint ziemlich hoffnungslos. Die Ausgangssituation für den Kampf gegen Antisemitismus im Unterricht kann man nur als verheerend bezeichnen! Eine kleine Geschichte soll jedoch ein wenig Hoffnung vermitteln – und zu einer Aufforderung aus einem Gleichnis Jesu führen, der uns ja bekanntlich verheißen hat: »Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.« (Matthäus 28,20)

Die Geschichte vom Seestern-Werfer: Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit

Loren Eiseley (1907–1977) war ein amerikanischer Naturwissenschaftler und Philosoph. Er beschreibt im Essay »The Star Thrower«9 ein Erlebnis, das ihn geprägt hat. Die Geschichte wurde vielfach – auch in abgewandelter Form und ohne auf Eiseley zu verweisen – wiedererzählt, von Motivationsrednern, Predigern und auf Internetseiten10.

In seiner Geschichte wandert Eiseley an einem Strand entlang, an den die Flut in der Nacht Tausende von Seesternen angespült hatte. Die Sonne ließ sie langsam austrocknen und sterben. Eiseley sah jemanden in weiter Ferne stehen, am Fuße eines Regenbogens. Dieser Jemand – in manchen Versionen ein »Junge« – hatte seinen Blick nach unten gerichtet. Eiseley kam näher und beobachtete, wie der andere einen Seestern aufhob und zurück ins Meer warf. »Er lebt noch«, stellten sie fest. »Er soll weiterleben!«, sagte der Seestern-Werfer.

Das weitere Gespräch zwischen den beiden ist in der Originalversion anders erzählt, fokussiert sich aber in den Nacherzählungen auf den wesentlichen Gedanken der gesamten Geschichte: »Ich werfe Seesterne ins Meer zurück«, sagte der Junge. »Es ist Ebbe und die Sonne brennt herunter. Wenn ich das nicht tue, dann sterben sie.«

Eiseley wunderte sich und wollte den Jungen von der Sinnlosigkeit seines Tuns überzeugen: »Junger Mann, ist dir eigentlich klar, dass der Strand viele Kilometer lang ist? Überall liegen Seesterne herum. Die kannst du unmöglich alle retten, das hat doch keinen Sinn!« – Der Junge hörte höflich zu, bückte sich wieder, hob einen weiteren noch lebenden Seestern auf, warf ihn ins Meer zurück, lächelte und sagte: »Aber für diesen hier hat es einen Sinn.«

In Eiseleys Originalgeschichte dachte er in der folgenden Nacht über dieses Erlebnis nach und kam am nächsten Morgen an den Strand zurück. Er überwand seine Hoffnungslosigkeit und Letargie – und begann selbst, Seesterne zurück ins Meer zu werfen …

In der Erzählung von Loren Eiseley lässt sich ein Bezug zum Thema Antisemitismus erkennen11: Eiseley setzt die in einer materialistischen Welt lebende Menschheit mit dem »umherziehenden (ewigen) Juden« gleich, einer Figur, die im (christlichen) Antisemitismus eine Rolle spielte. »Verweile bis ich wiederkomme« – dieser aus Johannes 21,20–23 abgewandelte Satz Jesu ist einer der Ursprünge der alten Volkssage vom »Ewigen Juden«: Er wurde auf die Juden im Allgemeinen bezogen, die Jesus als ihren Messias ablehnten und zur Strafe bis zu seiner Wiederkunft rastlos und orientierungslos in dieser Welt verweilen und umherziehen müssen (englisch: »Wandering Jew«). Die Nationalsozialisten machten daraus den antisemitischen Propagandafilm »Der ewige Jude« (1940). Die Aussage Jesu in Johannes 21 hat in Wirklichkeit eine völlig andere Bedeutung.

Eiseley scheint diese Rastlosigkeit und Orientierungslosigkeit auf sich selbst als Teil einer Menschheit zu beziehen, die im endlosen Universum und in den Jahrmillionen der Evolutionsgeschichte zum anonymen und unbedeutenden Staubkorn geworden ist, er selbst sieht sich als jemanden, »der einsam an den Ufern der Welt entlangwandert, gefühllos und ohne Hoffnung«. Eiseleys Essay »The Star Thrower« ist ein Ausdruck der Hoffnung in dieser von Gott losgelösten Weltsicht.

Was wir Christen wirklich tun sollen, bis Jesus wiederkommt, erklärt er in Lukas 19,11–26, im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden: Ein »Mann von edler Herkunft«, der Jesus selbst repräsentiert, »ließ zehn seiner Knechte rufen und gab ihnen zehn Pfund und sprach zu ihnen: Handelt damit, bis ich wiederkomme!« (Lukas 19,13) – Dies ist eine wichtige Aufforderung an uns: Mit den Gaben, die uns geschenkt und anvertraut sind, zu handeln und im Sinne Gottes Gutes zu tun. Zum Beispiel: Seesterne retten!

Und so sollen am Ende dieses Artikel, der mit zwei schlechten Nachrichten begann, vier Punkte stehen, die Mut machen können:

Konkret kann das heißen, dass man sich Tipps aus der Analyse der Bildungsstätte Anne-Frank holt, z.B. empfiehlt diese eine »Wasserloch-Strategie«: Mit hochwertigen Inhalten sollen Menschen, die um Aufklärung bemüht sind, angelockt werden. Oder »Digital Streetwork«: Jugendsozialarbeiter müssen in den virtuellen Welten aktiv werden. Auch Influencer könnten geschult werden und Vertrauenspersonen von Jugendlichen in ihren Communities werden. In Schulen sollte die Medienkompetenz gestärkt werden, Bildungspolitik muss sich den Herausforderungen der Zukunft stellen. Durch Plattformen wie »Papierblatt« kann Wissen in die Gesellschaft, Unterricht, Studium und Ausbildung eingebracht werden, durch Zeitzeugenberichte und konkrete Unterrichtsentwürfe steht eine Fülle an Material zur Verfügung.

Eine »Hoffnungs-Erinnerung« mit der Überschrift »Rette Seesterne!« kann als PDF-Datei heruntergeladen werden (2 Seiten, 70 kB)

Fußnoten

(zuletzt aufgerufen am 8.4.2024)

1 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/168069/umfrage/taegliche-internetnutzung-durch-jugendliche/
2 https://www.zeit.de/news/2023-06/27/jugendliche-surfen-63-7-stunden-pro-woche-im-netz
3 »Die TikTok-Intifada – Der 7. Oktober & die Folgen im Netz«: Analyse & Empfehlungen der Bildungsstätte Anne Frank, 2024 – https://www.bs-anne-frank.de/fileadmin/content/Publikationen/Weiteres_P%C3%A4dagogisches_Material/TikTok_Studie-Bildungsst%C3%A4tte_2024-WEB.pdf
4 https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus
5 https://de.wikipedia.org/wiki/3-D-Test_f%C3%BCr_Antisemitismus
6 https://unwatch.org/un-general-assembly-condemns-israel-14-times-in-2023-rest-of-world-7/
7 https://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article130594653/Es-gibt-ja-genug-Gruende-uns-Juden-nicht-zu-moegen.html
8 So mit Luther 1984, Luther 2017 übersetzt: »seinen Augapfel«.
9 Eine Originalversion des Essays »The Star Thrower« aus dem Buch »The Unexpected Universe« gibt es z.B. hier: http://www.brontaylor.com/courses/pdf/Eiseley--StarThrower.pdf
10 Beispielsweise hier: https://www.mindwerkk.de/der-sternewerfer/
11 Siehe S. 76 im PDF aus Fußnote 9