von Edeltraud Burkhardt und Thorsten Trautwein
a) Stellen Sie sich der Komplexität des Themas Holocaust, der abgrundtiefen nationalsozialistischen Menschenverachtung und der industrialisierten Massenvernichtung unschuldiger Mitmenschen. Schauen Sie dabei der »Banalität des Bösen« (Hanna Ahrendt) in die Augen, dem, wozu normale Menschen eines zivilisierten Landes fähig sind. www.papierblatt.de unterstützt Sie bei dieser wichtigen Arbeit.
b) Haben Sie keine Angst vor unangemessenen Äußerungen Ihrer Schüler oder vor aufkommenden antisemitischen Ressentiments (Der Einfachheit halber wird in diesem Text das generische Maskulinum verwendet, z.B. Schüler. Es sind damit Menschen aller Geschlechter gemeint). Ihre Schüler begegnen der Thematik mit dem, was sie dazu gehört haben, vor allem aber auch mit Unsicherheit und Vorbehalten. Schaffen Sie eine positive Atmosphäre, in der Ihre Schüler offen und in geschütztem Rahmen sprechen können. Nur so erfahren Sie, was Ihre Jugendlichen bisher gehört haben und tatsächlich denken. Greifen Sie diese Äußerungen auf und gehen Sie sachgemäß damit um. Begegnen Sie Ihren Schülern auch bei unangemessenen, provozierenden oder sogar antisemitischen bzw. rechtsradikalen Äußerungen mit Respekt und stellen Sie sie nicht vor der Klasse bloß. Suchen Sie lieber das klärende Gespräch unter vier Augen.
c) Scheuen Sie sich nicht vor aufkommenden Gefühlen, weder bei sich selbst noch bei Ihren Schülern. Die furchtbaren Auswirkungen des Holocausts im Leben von Menschen haben ganz wesentlich eine emotionale Seite, mit der es angemessen umzugehen gilt (siehe 6.1).
d) Schlimmer als es vermeintlich »schlecht« zu machen, ist es, die Thematik nicht zu unterrichten! Sprechen Sie mit anderen Lehrkräften und profitieren Sie von deren Erfahrung. Auch als Lehrkraft sind Sie eine Lernende. Machen Sie es das nächste Mal einfach besser!
Bevor Sie die Thematik des Holocausts unterrichten und Zeitzeugenberichte verwenden, beantworten Sie folgende Fragen für sich:
Für die Arbeit mit Lebensberichten jüdischer Holocaust-Überlebender stellt die Homepage www.papierblatt.de verschiedene Rubriken zur Verfügung:
Startseite: Hier finden Sie die Leiste mit den einzelnen Rubriken, einen Trailer und immer wieder verschiedene Neuigkeiten. Zur Startseite kommen Sie über einen Link, der sich auf jeder Seite unten rechts befindet.
Rubrik »Überlebende«: Die Seite enthält eine Übersicht über die Überlebenden, die aus ihrem Leben erzählen. Zu jeder Person gibt es ein Fenster mit Bild und mit kurzen Angaben zur Person, zum Bericht sowie zum Aufnahmedatum und -ort. Klickt man das jeweilige Fenster an, gelangt man auf eine Übersichtsseite der entsprechenden Person mit dem jeweiligen Videobericht. Für jede Person wird zudem ein Kurzüberblick und eine Kurzbiografie als Text erstellt. Sofern es einen Unterrichtsentwurf zu dem Lebensbericht der Person gibt, ist dieser mit der Übersichtsseite der Person verlinkt. Die Zeitzeugen und ihre Videoberichte sind keine repräsentative oder systematisch begründete Auswahl. Die Berichte wurden nicht für den Einsatz in der Schule erstellt. Sie entstammen unterschiedlichen Kontexten. Das macht ihre Verwendung im Unterricht bisweilen schwer, erhöht aber andererseits ihre Authentizität.
Rubrik »Suche«: Über eine Suchfunktion können die hierfür erfassten Lebensberichte nach bestimmten Stichwörtern durchsucht werden. Als Treffer werden alle erfassten Filmsequenzen angezeigt, in denen die Zeitzeugen zu dem ausgewählten Stichwort eine Aussage machen. Die Filmsequenzen können unmittelbar betrachtet werden. Mit dieser Funktion können die Nutzer selbständig Forschen bzw. die verschiedenen Berichte auf gleiche Stichwörter hin durchsuchen (z.B. Ghetto).
Rubrik »Unterricht«: Hier finden sich exemplarische Unterrichtsmaterialien zu ausgewählten Lebensberichten, die zwei Herangehensweisen unterstützen:
a) Ein eher gelenktes, kleinschrittiges und arbeitsteiliges Vorgehen, das in der Bearbeitung der angebotenen Aufgaben und Zusatzmaterialien besteht.
b) Ein stärker an den Schülerinteressen orientiertes Vorgehen, bei dem ein Lebensbericht in großen Abschnitten betrachtet wird und entsprechend der Schüler- oder Lehrerinteressen bestimmte Themen vertieft werden können. Hierbei können die Aufgaben, die angebotenen Infoboxen und Zusatzmaterialien verwendet werden.
Für Amira Gezow stehen zwei ausgearbeitete Unterrichtsentwürfe zur Verfügung. Sie können für andere Zeitzeugen überarbeitet werden.
Rubrik »Regionen«: Über diese Rubrik soll der Bezug zur eigenen Region ermöglicht werden. Diese Rubrik befindet sich noch im Aufbau.
a) Unter www.papierblatt.de erzählen reale Menschen aus ihrem Leben. Sie lassen uns an ihrer individuellen Lebensgeschichte teilhaben. Diese Menschen haben einen Namen, eine Identität. Indem wir respektvoll ihre Geschichte hören und uns mit ihr auseinandersetzen, erhalten sie ihre Würde als Menschen zurück, die das sog. Dritte Reich ihnen zu nehmen versucht hat. Lehren Sie Ihre Schüler mit Respekt und Achtung von den Menschen zu sprechen, die ihre Geschichte erzählen, und seien Sie ihnen darin ein Vorbild.
b) www.papierblatt.de bewahrt die Erinnerung an die Zeitzeugen und an ihre Geschichte. Damit wird exemplarisch dem Gedächtnismord entgegengewirkt, den das Naziregime angestrebt hat: Ihre Auslöschung aus dem menschlichen Gedächtnis (siehe 8. a)).
c) Die Arbeit mit Zeitzeugenberichten setzt beim einzelnen Menschen und bei seinen Erfahrungen an (siehe 4.2). Zeitzeugen zuzuhören ist kein Fachunterricht im engeren Sinn, sondern zunächst ein Privileg, das darin besteht, einem Menschen begegnen zu dürfen, der etwas als Augenzeuge erlebt hat, das mir unbekannt ist. Dieses Erzählen und Zuhören geschieht in der Begegnung von Mensch zu Mensch, in der eine Beziehung entsteht. Eine Beziehung zum Erzählenden sowie zu seinen Erlebnissen und Erfahrungen. Dabei geht es in erster Linie nicht um die geschichtlich bedeutsamen Ereignisse an sich, um historische Daten oder um anonyme Statistiken, sondern darum, wie sich historische Sachverhalte im Leben individueller Menschen auswirken. Zeitzeugenberichte ersetzen keinen Fachunterricht, sondern ergänzen ihn.
d) Die Zeitzeugen blicken auf ein langes Leben zurück. Der Holocaust ist in ihrem Leben eine entscheidende und stark prägende Zeit, aber ihr Leben lässt sich nicht auf den Holocaust reduzieren, schon gar nicht auf die Rolle des passiven Opfers. Sie sind Subjekte ihres Lebens vor, während und nach dem Holocaust:
Leben vor dem Holocaust: Die Juden sind bis zu ihrer Verfolgung aktive Bürger, kreative Mitglieder der europäischen Staaten und ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Kultur. Das Judentum hat eine lange Geschichte und eine reiche Tradition. Die Perspektive Einzelner veranschaulicht, dass »die Juden« keine homogene Gruppe sind. Vielmehr gibt es eine große Vielfalt jüdischer Identitäten und Lebenswelten: Z.B. Assimilierte, Liberale, traditionell Lebende, Konservative, Orthodoxe, mystisch Orientierte, Atheisten, Zionisten, Kommunisten, Getaufte bzw. zum Christentum Konvertierte; Juden vom Land und aus der Stadt, Juden aus Osteuropa und Westeuropa, einfache Viehhändler und weltgewandte Kaufleute, bedeutende Universitätsprofessoren und arbeitslose Musiker.
Leben während des Holocausts: Der Holocaust entwickelte sich schrittweise. Zunächst werden die Juden aus dem wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben gedrängt. Erst später kommt es zum organisierten Massenmord. In den besetzten Ländern ereignet sich die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung der Juden unterschiedlich. Auch zwischen 1933 und 1945 sind Juden denkende, handelnde und reagierende Akteure ihres Lebens. Der Unterricht darf nicht nur vom Sterben der Juden, sondern muss auch von ihrem Leben während der Zeit des Nationalsozialismus handeln. Leitthemen können hierbei sein: Selbstbehauptungs- und Überlebensstrategien in der Zeit der Verfolgung; »Alltagsleben« während des Holocausts; Dilemmata, mit denen sie sich konfrontiert sehen.
Leben nach dem Holocaust: Die Befreiung im Zuge des Kriegsendes bedeutet für die Überlebenden nicht einfach eine Rückkehr in ihr bisheriges Leben. Ihre Lebenswelt von vor 1933 ist oft vollständig zerstört. Viele Familien sind nahezu komplett ausgelöscht. Vielerorts bestehen Antisemitismus, Hass und Ablehnung weiter. Bei vielen Überlebenden wirken die traumatischen Erinnerungen bis heute nach (Angstzustände, Alpträume usw.). Hinzu kommen Schuld- und Schamgefühle, weil sie – im Unterschied zu Millionen anderen – überlebt haben. Die Folgen des Holocausts zeigen sich bis in die Generation der Kinder und Enkel von Überlebenden. Der Aufbau neuen jüdischen Lebens und das Gründen neuer Familien wird für viele zur Triebfeder des Lebens und bedeutet einen »persönlichen Triumph«. Eine wichtige Rolle spielt zudem die Gründung des Staates Israel 1948 und sein Aufbau (siehe 9.).
e) Aus den vielfältigen einzelnen Geschichten der Zeitzeugen entsteht zwar eine umfassendere Geschichte jüdischer Mitmenschen und des Holocausts, dennoch repräsentieren sie nur einen Teil der Gesamtgeschichte des Holocausts. www.papierblatt.de beschränkt sich auf Zeitzeugnisse jüdischer Mitbürger. Daneben gibt es weitere Opfer des Nationalsozialismus: Sinti und Roma, Menschen mit geistigen Behinderungen, Kommunisten, Systemkritiker, Widerstandskämpfer, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, sog. Asoziale und viele andere.
f) Informationen (Texte, Aussagen, Bilder, Filme usw.), die wir über den Holocaust haben, stammen meist von den Tätern selbst. Wenn wir den Holocaust mit Hilfe dieser Materialien betrachten, sehen wir ihn, wie ihn die Täter gesehen haben bzw. wie sie wollten, dass er gesehen werden soll. Das schließt die Demütigung, Entmenschlichung und Entpersonalisierung der Opfer ein. Die rückblickende Perspektive der Opfer selbst (Tagebücher, Briefe, Berichte, Kunst usw.) erweitert, ergänzt und korrigiert die Perspektive der Täter.
a) »Wir sind weder Historiker noch Philosophen, sondern Zeugen«, sagt der Holocaust-Überlebende Primo Levi (zitiert bei Shira Magen). Die Zeitzeugnisse sind subjektive Wahrnehmungen und persönliche Erinnerungen, nicht selten individuelle Plausibilisierungen und Interpretationen erlebter Geschichte (siehe 4.1 c)). Es sind keine objektivierten Fakten.
b) Eine der Hauptgrenzen der Zeitzeugenberichte besteht in der Wirkungsweise des menschlichen Gedächtnisses. Es arbeitet nicht objektiv, sondern ist von Überzeugungen, persönlichen Eigenschaften, Lebenserfahrungen, Emotionen, erworbenem Wissen, Verdrängung, Werten usw. beeinflusst. Gedächtnisinhalte werden mit anderen Informationen abgeglichen und durch das wiederholte Erzählen geschliffen. So kann es Unterschiede in den Berichten des gleichen Zeitzeugen geben, wenn ein Bericht kurz nach einem Ereignis erfolgt und ein anderer erst Jahre später. Bei Daten, Namen und Details können Ungenauigkeiten auftreten.
c) Der Holocaust ist die systematische Vernichtung von ungefähr sechs Millionen Juden aus ideologischen Gründen während des Zweiten Weltkriegs. Die Zeitzeugenberichte sind die persönlichen Geschichten der Lebenden und nicht die der Toten. Das kann unseren Blick auf bestimmte Sachverhalte beeinflussen. Wenn wir die Zeitzeugenberichte ehemaliger Häftlinge aus Auschwitz hören, vergessen wir leicht, dass Auschwitz-Birkenau in erster Linie ein Vernichtungslager war und nur ein kleiner Rest derer, die nicht ermordet wurden, seine Geschichte erzählen kann.
a) Reale Begegnungen mit Zeitzeugen sind einzigartig und durch nichts zu ersetzen. Ihre Vorteile sind: Man kann die Begegnung konkret vorbereiten und der Zeitzeuge kann sich gezielt auf seine Zuhörenden einstellen. Die Begegnung ist unmittelbar und authentisch. Im Anschluss an den Bericht sind Rückfragen möglich, bestimmte Aspekte können vertieft und Wahrnehmungen korrigiert werden. Andererseits sind Begegnungen mit Zeitzeugen oft schwer organisierbar (Kontaktaufbau, Kosten, Unterbringung im Schulalltag, Gesundheitszustand der Zeitzeugen). Zudem wird die Gruppe der Zeitzeugen, die ihre Lebensgeschichte erzählen können oder wollen, immer kleiner.
Vorteile von digitalen Videoberichten (siehe 5.3):
a) Aus entwicklungspsychologischer Sicht sollte das Thema Holocaust spiralcurricular aufgebaut werden, sodass mit zunehmender emotionaler, sozialer und kognitiver Reife der Schüler die Thematik komplexer und mehrperspektivischer erarbeitet werden kann. Mit der Pubertät beginnen die Jugendlichen ihre persönliche, aber auch ihre soziale, familiäre und nationale Identität zu festigen. Sie entwickeln ein Verständnis für Werte. Ihre kognitive und emotionale Wahrnehmung reift und sie können sich zunehmend mit komplexen psychologischen Fragen beschäftigen, die über jene, die das Opfer betreffen, hinausgehen. Sie können sich immer differenzierter mit den Dilemmata der Retter befassen, mit dem Problem der Zuschauer und Mitläufer sowie schließlich mit der Perspektive der Täter (siehe 7 d)).
b) Kriterien für die Auswahl eines Zeitzeugnisses:
Klassenstufe 4-6: Die Schüler dürfen durch die Erzählung kein sekundäres Trauma erleiden. Schreckliche Beschreibungen des Lebens und Sterbens in den Lagern müssen vermieden werden. So ist z.B. ein Überlebender, der den Krieg in einem Versteck verbracht hat, angemessener als ein KZ-Überlebender.
Höhere Klassenstufen: Die Schüler können sich mit schwierigeren Geschichten befassen. Sie können auch persönliche Materialien von Personen, die nicht überlebt haben, verwenden.
a) www.papierblatt.de bietet kein erschöpfendes Material für Holocaust-Lernen, schon gar nicht für das Thema Nationalsozialismus und Drittes Reich. www.papierblatt.de bietet Lebensberichte und stellt Arbeitsaufträge zu ausgewählten Lebensberichten zur Verfügung (siehe 3.). Die Antworten müssen sich die Schüler selbst erarbeiten. Ausgewählte Infoboxen, Links und Zusatzmaterialien helfen den Schülern dabei und ermöglichen die Bearbeitung der Aufgaben in einem angemessenen zeitlichen Rahmen. Die Schüler sollen angeleitet werden, um selbst Fragen zu stellen, Empathie zu entwickeln und die Konsequenzen für ihr eigenes Leben und für unser gesellschaftliches Zusammenleben zu ziehen.
b) www.papierblatt.de eignet sich nicht als Lückenfüller in Vertretungsstunden oder für eine Schülerarbeit ohne Begleitung durch eine Lehrkraft (siehe 6.).
c) Die Jugendlichen brauchen Zutrauen in ihre Auseinandersetzung mit dem Thema, eine wertschätzende, positive Lernatmosphäre, die es ihnen erlaubt, Gefühle zu äußern, ihre Meinung ungeschützt sagen und korrigieren zu dürfen (siehe 1. b) c)). Eine gute Arbeitsqualität muss eingefordert und gelungene Arbeitsergebnisse zeitnah gewürdigt werden. Für die Erarbeitung der Aufgaben, zur Diskussion der Ergebnisse und Fragen sowie zur Thematisierung der Gedanken und Gefühle brauchen die Schüler angemessen Zeit – nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel.
d) Die Schüler sind die Subjekte ihres Lernens. Sie haben das Recht, sich selbständig zu positionieren. Um sich einen eigenen Zugang und Standpunkt verschaffen zu können, brauchen sie die Möglichkeit, sich zu dem Lerngegenstand in kritisch-reflexive Distanz zu begeben. Eine unreflektierte, einseitig emotionalisierende Schockpädagogik ist zu vermeiden (z.B. Fotos oder Filme von Leichenbergen oder von nackten Opfern). Die Schüler dürfen nicht manipuliert oder überwältigt werden.
a) www.papierblatt.de basiert auf offenen Standards wie HTML5. Das Web-Projekt ist auf Computern aller Betriebssysteme sowie auf mobilen Endgeräten (z.B. Tablets, Smartphones) ohne Einschränkungen verwendbar (Responsive Webdesign). Es ermöglicht eine einfache Verwendung im schulischen oder privaten Kontext ohne besondere IT-Ausstattung, aber mit Internet-Zugang. Es kann von Schülern genutzt werden, die über Grundkenntnisse im Umgang mit dem Internet verfügen. Je vielfältiger die IT-Möglichkeiten sind, desto differenzierter können die Arbeitsaufträge digital bearbeitet und die Arbeitsergebnisse weiterverarbeitet und präsentiert werden.
b) Jeder Schüler kann eigene Lernziele oder Forschungsfragen entwickeln und bearbeiten, in seinem eigenen Tempo und auf seinem Niveau sowie zu seiner Zeit und an seinem Ort arbeiten (Individualisierung und Binnendifferenzierung).
c) Die Arbeits- und Sozialformen können als individuelle, kooperative und kollaborative Lernformen strukturiert werden, in denen Online-Arbeitsphasen sinnvoll mit Face-to-Face-Kommunikation wechselt.
d) Zusätzlich zu den unter www.papierblatt.de angebotenen Materialien und Links können Online-Ressourcen genutzt werden: Lexika, Karten, Texte, Bilder, Filme, Homepages von Gedenkstätten, Museen usw. Gegebenenfalls kann sogar in Kontakt mit Zeitzeugen getreten werden.
e) Die Schüler können digitale Bilder, Interviews, Grafiken, Karten, Filme, Texte usw., die sie z.B. mit Smartphone, Kamera oder Tablet selbst produzieren, in die Arbeit einbinden. Das kann z.B. für den Lokalbezug interessant sein (z.B. Lerngänge zu Erinnerungsorten bzw. Gedenkstätten; Interviews mit Zeitzeugen, Angehörigen oder mit Passanten auf der Straße).
f) Die Schüler können ihre Arbeitsergebnisse im Internet veröffentlichen bzw. sie der gesamten Lerngruppe auf der Schulplattform o.ä. zur Verfügung stellen, auf der die Ergebnisse kommentiert, korrigiert und weiterbearbeitet werden können. Die individuellen Arbeitsergebnisse stehen nicht nur der aktuellen Lerngruppe zur Verfügung, sondern können von externen oder zukünftigen Lern- bzw. Projektgruppen für die weitere Arbeit genützt werden (kollaborativer und fortschreitender Wissensaufbau).
Der Holocaust-Unterricht enthält zwei Gefahren: Das Thema zu stark zu emotionalisieren und das Thema zu sehr zu versachlichen. Angestrebt werden sollte ein fruchtbares Miteinander von beidem, eine angemessene Balance.
a) Die Arbeit mit Biografien verstärkt die Emotionalität des Themas Holocaust. Die Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der Juden im »Dritten Reich« wird auf der menschlich-persönlichen Ebene thematisiert. Historische Entwicklungen und Ereignisse werden in ihren Konsequenzen für reale Menschen begreifbar. Dabei sind es gerade die menschenverachtenden und gewaltvollen Erfahrungen der Zeitzeugen, die Betroffenheit hervorrufen. Diese emotionale, persönliche Betroffenheit ist eine angemessene Reaktion auf das Unmenschliche, das uns in der Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus sowie im brutalen Umgang des Regimes mit seinen Kritikern und Gegnern begegnet.
b) Die Brutalität gewöhnlicher Menschen konfrontiert uns mit der dunklen Seite des Menschen. Die persönliche Betroffenheit und die aufkommenden Gefühle (Erschrecken, Wut, Trauer, Ekel, Mitgefühl usw.) gilt es mit den Schülern wahrzunehmen, zu verbalisieren und zu deuten. Dabei muss man sensibel darauf achten, was man den Jugendlichen zumuten kann und was nicht. Wird die persönliche Betroffenheit nicht angemessen aufgegriffen, kann sie zur Blockade gegenüber der Lehrkraft führen und die angemessene Auseinandersetzung mit dem Thema verhindern. Für Schüler mit psychischen Problemen, emotionaler Labilität oder mit traumatischen Erfahrungen können einzelne Aspekte der Zeitzeugenberichte unter Umständen zum Hinweisreiz für eigene traumatische Erfahrungen werden oder kann die starke Emotionalität des Themas (z.B. in Verbindung mit Machtmissbrauch und Ausgeliefertsein) zur Überwältigung durch die erlebten, aber nicht kontrollierbaren Gefühle führen (siehe 10.). Hier gilt es wachsam zu sein und mit gefährdeten Schülern unter Umständen das Gespräch im Vorfeld zu suchen.
c) Emotionen haben für uns Menschen wichtige Funktionen: Mit ihrer Hilfe bewerten wir Ereignisse und deren Bedeutung für uns; wir erinnern uns vor allem an das, was mit Gefühlen verbunden ist. Pädagogisch angemessen wird mit der Emotionalität des Themas umgegangen, indem die aufkommenden Gefühle wahrgenommen, zugelassen, thematisiert und gedeutet werden, wenn Wege des Umgangs mit den Gefühlen gezeigt werden (siehe 5.2 b)). Empathie mit den Opfern und ethisches Lernen (siehe 7.) ist ohne (geklärte) Gefühle nicht möglich.
a) Die Sachkompetenz ist zunächst eine Anforderung an die Lehrkraft. Damit die Schüler angemessen lernen können, muss die Lehrkraft mit den grundlegenden didaktischen Herausforderungen des Holocaust-Unterrichts und mit den Lebensberichten, mit denen die Schüler arbeiten, sowie mit deren zeitgeschichtlichen Kontexten vertraut sein. Nicht zuletzt wegen der Eigenart der Zeitzeugenberichte (siehe 4.2) müssen, wo erforderlich, wichtige Ereignisse, Orte und Personen sowie der größere historische Zusammenhang von der Lehrkraft vermittelt werden können. Zudem braucht die Schülerarbeit eine angemessene Ergänzung, Korrektur und Anleitung zur Reflexion durch die Lehrkraft (siehe 5.2 b)).
b) Eine präzise und reflektierte Sprache im Unterricht ermöglicht ein sachgemäßes Verständnis:
c) Die Sacharbeit ermöglicht zunächst das Lernen historischer Sachverhalte und Zusammenhänge. Sie dient andererseits aber auch der angemessenen emotionalen Distanzierung von und der konstruktiven Auseinandersetzung mit den emotional ergreifenden Erlebnisinhalten der Zeitzeugnisse und dem, was sie bei uns auslösen. Der emotionale Eindruck braucht den kognitiv verarbeitenden Ausdruck. Zum Dritten geht es um das Verständnis des Holocausts insgesamt: Ist er eine qualitativ eigenständige Kategorie von Bösem oder ist er eine quantitative Steigerung des menschlich möglichen Bösen? Ohne eine angemessene sachliche Auseinandersetzung spricht man von »teuflischen«, »dämonischen«, »unmenschlichen«, »abartigen«, »psychopathischen«, »kranken« Tätern, Ereignissen bzw. Strukturen. Damit werden die Täter, Ereignisse und Strukturen jedoch rational unzugänglich, die Schuld wird auf wenige Einzeltäter (»Psychopathen«, »Besessene«) konzentriert und von der breiten Mehrheit damals sowie von uns heute soweit distanziert, dass sie für das »normale«, »alltägliche« Leben im Hier und Heute letztlich keine Relevanz mehr haben. Auch wenn die Ausmaße der Menschenverachtung und die Perfidität des nationalsozialistischen Systems uns immer wieder als »dämonisch« und »abartig« erscheinen, müssen wir uns um ein rational-sachliches Verstehen bemühen (siehe d)).
d) Zum Holocaust-Lernen gehört das Verständnis der komplexen Systematik mit ihren unterschiedlichen Entwicklungslinien, die ihn möglich gemacht hat:
a) Der jüdische Holocaust-Überlebende Zvi Gill sagt: »In der jüdischen Tradition ist das Gebot des Erinnerns absolut. Aber diese Verpflichtung endet nicht mit dem kognitiven Akt des Gedenkens – sie muss mit Sinn und Tat verbunden sein. … Erinnerung muss von ethisch-moralischer Tat begleitet sein. Das muss die Grundlage und der Brennpunkt eurer Energien für die Schaffung einer besseren Welt sein.« (zitiert bei Shira Magen). Überlebende betonen immer wieder, dass sie von ihren Erlebnissen erzählen, um eine moralische Botschaft für die Gegenwart und für die Zukunft zu vermitteln. Holocaust-Lernen blickt zurück, um vorwärts gehen zu können. Es ist gegenwarts- und zukunftsorientiert.
b) Das Lernen mit Lebensberichten setzt bei einem Individuum an – bei seinen Erfahrungen von Ungerechtigkeit, Hass und Ausgrenzung – und regt zur eigenen ethischen Urteilsbildung an sowie zur kritischen Reflexion der heutigen Verhältnisse. Holocaust-Lernen ist Menschenrechtslernen. Damit leistet die Arbeit mit den Lebensberichten Holocaust-Überlebender einen positiven Beitrag zur Werteentwicklung, zur Persönlichkeitsbildung und zur sozialen Kompetenz der Jugendlichen. Dies unterstützt www.papierblatt.de durch die Arbeitsmethodik, die die Jugendlichen als Subjekte ihres Lernens ernst nimmt.
c) Die Auseinandersetzung mit den Zeitzeugenberichten erfolgt nicht aus einem schlechten Gewissen heraus. Die heutigen Jugendlichen haben mit den Geschehnissen der Vergangenheit nichts zu tun und müssen deshalb auch kein schlechtes Gewissen haben. Gleichwohl kann die Auseinandersetzung mit den Vorgängen in der deutschen Vergangenheit zum Aufdecken und zum Benennen von Schuld auch in der eigenen Familie oder am eigenen Ort führen. Wir müssen dabei aber sehr vorsichtig mit Schuldzuweisungen umgehen. Es ist leicht, aus der zeitlichen Distanz heraus zu urteilen. Niemand kann heute sagen, wie er sich damals in der entsprechenden Situation verhalten hätte. Darum müssen wir unterscheiden zwischen dem Benennen von schuldhaftem Verhalten (was um der Opfer und um der Gerechtigkeit willen wichtig ist) und der Beschuldigung von konkreten Personen. Bei Letzterem ist äußerste Sorgfalt geboten. Unsere Verantwortung im Bildungsprozess liegt nicht darin, Personen der Vergangenheit zu beschuldigen, sondern aus dem schuldhaften Verhalten der Vergangenheit zu lernen und unsere Gegenwart positiv zu gestalten. Diese Verantwortung ist anspruchsvoll genug! Bildung ist in dieser Hinsicht nicht neutral (siehe 11.2, 11.4).
d) Zu einem angemessenen Verständnis in ethischer Perspektive gehört die Differenzierung von Tätern, Mitläufern, Trittbrettfahrern, Profiteuren, Kollaborateuren, Zuschauern, Widerstandskämpfern, Helfern (Retter, »Gerechte«) bzw. die Frage, weshalb sich Menschen so oder anders entscheiden.
Täter: Sie erdenken, planen und führen die Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich aus. Sie sind keine zivilisationslosen »Unmenschen« oder »Dämonen«, sondern auch »normale« Menschen, Ehemänner und Familienväter.
Mitläufer: Auch wenn sie persönlich nicht von den Idealen, Lehren und einzelnen Handlungsweisen des nationalsozialistischen Regimes überzeugt sind, machen sie doch mit, um Nachteile zu vermeiden und Vorteile zu erhalten. Zuschauer: Ihnen kommt im Blick auf den Holocaust eine Schlüsselfunktion zu. Sie lassen die einzelnen Stufen der Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden als stillschweigende Mehrheit der Bevölkerung zu und halten sich heraus. Helfer/Retter: Sie geben verfolgten Juden Nahrung, Kleidung, Geld, Schutz, ein Versteck oder helfen ihnen bei der Flucht.
Immer wieder sind die Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen fließend; auch können Personen ihre Haltung ändern. Unter Umständen sind Täter auch Opfer von Bedrohung oder werden durch ihre Erziehung oder Lebensschicksale in eine bestimmte Richtung gedrängt. Herausfordernd sind die Spannungen, Dilemmata und Widersprüche, in denen sich die Angehörigen der jeweiligen Personengruppen und der Gruppen untereinander befinden. Vergleicht man die Entscheidungs- und Handlungsoptionen dieser Gruppen, fällt auf, dass Täter, Mitläufer und Zuschauer ihr Mitgefühl nur einer bestimmten Menschengruppe zukommen lassen und dem Leid anderer gleichgültig gegenüberstehen. Helfer und Retter riskieren dagegen ihr eigenes und das Leben ihrer Familie. Sie schauen hin, mischen sich ein und übernehmen Eigenverantwortung! Yad Vashem ehrt die Retter als »Gerechte unter den Völkern«. »Wer einem Menschen das Leben rettet, rettet die ganze Welt.« Eine Thematisierung des Holocausts darf die Motivation, das Verhalten und die Bedeutung der »Gerechten« nicht außer Acht lassen!
e) Der Holocaust darf jedoch nicht für Ethik-, Philosophie- oder Politikunterricht instrumentalisiert werden: Man unterrichtet nicht Holocaust, damit z.B. Ethik gelernt wird. Das würde den Holocaust verharmlosen und ihm seine Eigenbedeutung nehmen. Es muss unterschieden werden zwischen den Ereignissen des Holocausts und dem, was ethisch-moralisch aus ihnen gelernt werden kann, zwischen Darstellung und Übertragung bzw. Beurteilung.
a) Der nationalsozialistische Antisemitismus hat eine lange europäische, ja sogar eine globale Vorgeschichte in zahlreichen judenfeindlichen bzw. antijudaistischen Empfindungen, Vorurteilen, Lehren, Ideologien, Verschwörungstheorien, aber auch indem Juden immer wieder öffentlich gekennzeichnet (Judenhut, Judenfleck), ausgegrenzt (Judengasse, Judenviertel, Ghetto, keine Mitgliedschaft in Zünften, kein Landerwerb, eigene Schulen) oder verfolgt (Kreuzzüge, Pogrome) werden. Im 19. Jahrhundert wird der Begriff »Antisemitismus« geprägt. Er bezeichnet eine Form der Judenfeindschaft, die als »Rassenlehre« im Sinne einer »Naturwissenschaft« betrieben wird. Diesen »Antisemitismus« nehmen die Nationalsozialisten auf und bringen ihn staatlich forciert in sämtliche Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens handlungsleitend ein: In Recht und Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft, Theologie und Kirche, Medien und Gesellschaft, Sport usw. Konsequent wird die antisemitische Ideologie stufenweise umgesetzt: Identifizierung, Ausgrenzung, Ausbeutung, Verfolgung, Vertreibung bis hin zur Vernichtung der jüdischen Mitmenschen jeden Alters. Das Ziel ist nicht nur die physische Vernichtung der Juden, sondern auch die Auslöschung des (europäischen) Judentums aus dem Gedächtnis der Menschheit. Aufgrund der »rassischen« Begründung kann sich kein Jude der Verfolgung z.B. durch Konversion oder Aufgabe des jüdischen Glaubens entziehen. Die einzige Möglichkeit des Überlebens liegt in der Auswanderung bzw. Flucht.
b) Für das angemessene Verständnis des (nationalsozialistischen) Antisemitismus sind Grundkenntnisse über die jüdische Geschichte und Religion sowie über die tiefen Wurzeln und die verschiedenen Formen der Judenfeindschaft, des Judenhasses, des Antijudaismus und Antisemitismus in der Geschichte der europäischen Theologie, Politik, Wirtschaft und Kultur erforderlich. Zudem verläuft die Geschichte des Antisemitismus nicht geradlinig und stetig zunehmend, bis es schließlich zum Holocaust kommt. Erst recht beschreibt ein Mehr oder Weniger an Antisemitismus das Leben der Juden in Deutschland, Europa und weltweit weder angemessen noch umfassend! Wer den Holocaust und Antisemitismus thematisiert, sollte auch Beispiele der gelingenden Koexistenz und des harmonischen Zusammenlebens zwischen Juden und Nichtjuden benennen und den enormen Beitrag herausarbeiten, den Juden zur deutschen und europäischen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft erbringen. Erinnert werden kann zudem an diejenigen Nichtjuden, die sich positiv und konstruktiv mit Juden, mit dem jüdischen Glauben und der jüdischen Geschichte auseinandersetzen und zu ihrem Verständnis beitragen.
c) Am Beispiel des christlichen Antijudaismus kann das exemplarisch veranschaulicht werden. Das Christentum entsteht aus dem Judentum und ohne Kenntnis des Judentums ist das Christentum nur unzureichend verstehbar. Im Prozess der christlichen Identitätsbildung und Loslösung vom Judentum kommt es zu antijudaistischen Aussagen (Pharisäer-Polemik, Mat 23,13-36; Mat 27,25; Joh 8,44; 1.Thess 2,15f), die jedoch nicht einfach zu beurteilen sind, da sie zunächst als innerjüdische Polemik und erst im weiteren geschichtlichen Verlauf als »christliche« Kritik am »Judentum« bzw. als Antijudaismus zu verstehen sind. Zudem sind es Aussagen einer in der Regel machtlosen christlichen Minderheit, die ihren Platz einerseits gegenüber der jüdischen Mutterreligion und andererseits im Römischen Reich erst finden und sichern muss. Die Entwicklung des Christentums zur staatstragenden Mehrheitsreligion stellt diese Aussagen jedoch in ein völlig anderes Licht und zeigt immer wieder verheerende Auswirkungen. Im Laufe der Kirchengeschichte werden zudem antijudaistische »Überzeugungen« aus der Umwelt aufgenommen (Juden als Sondergruppe, die mit Nichtjuden keine Kult-, Tisch- und Ehegemeinschaft pflegt) und neue gebildet (»Brunnenvergifter«, »Hostienschänder«, »Kindermörder«). In der Kirchengeschichte gibt es Beispiele für ein harmonisches Zusammenleben mit wechselseitiger Bereicherung, von friedlicher Koexistenz, aber auch von antijudaistischer Polemik und Propaganda bis hin zu brutalen Verfolgungen. In der Geschichte des christlichen Antijudaismus wird erkennbar, dass es selten rein theologische Gründe sind, die zu judenfeindlichen Äußerungen und Handlungen führen. In der Regel ist es eine Verquickung mit machtpolitischen, wirtschaftlichen, sozial bzw. psychologisch motivierten Faktoren, die oftmals religiös überhöht werden. Möchte man den christlichen Antijudaismus angemessen beurteilen, muss man ihn jeweils in seinem soziokulturellen und historischen Kontext betrachten, ohne ihn dadurch zu relativieren.
Für die weite Verbreitung und breite Akzeptanz des Antisemitismus in der Zeit des Nationalsozialismus spielt der christliche Antijudaismus eine entscheidende Rolle. Für die evangelischen Kirchen sind hier besonders die judenfeindlichen Aussagen Martin Luthers zu nennen (z.B. Vermahnung wider die Juden, 1546). Darin ist auch eine der Ursachen zu sehen, weshalb sich die christlichen Kirchen nicht klarer gegen den nationalsozialistischen Antisemitismus positioniert haben, sondern ihn vielfach sogar geteilt haben – zumindest in seiner ideologischen, weniger in seiner gewaltvollen Gestalt. Der Protest und Widerstand gegen den nationalsozialistischen Antisemitismus geht in der Regel nur von einzelnen Christen aus.
Mit Verzögerung setzt nach dem Zweiten Weltkrieg ein Prozess der Aufarbeitung der Geschichte des christlichen Antijudaismus und der bleibenden (theologischen) Bedeutung des Judentums für das Christentum ein (Jesus und seine Jünger als Juden, Erwählung Israels durch Gott und Bund Gottes, bleibende heilsgeschichtliche Bedeutung Israels). Wichtig hierbei sind der jüdisch-christliche Dialog, Studienmöglichkeiten in Israel, Judentums- bzw. Israelbeauftragte der Landeskirchen, jüdische Gelehrte bei Kirchentagen, in den kirchlichen Akademien, Toralernwochen usw. So kommt es zu christlichen Schuldbekenntnissen und zu Neubestimmungen des Verhältnisses der Kirchen gegenüber dem Judentum.
d) Muslimischer Antijudaismus: Der Begriff »Antisemitismus« ist hier unscharf, da die arabischen Muslime selbst Semiten sind. Die Geschichte der Muslime und des Islams mit dem Judentum ist genauso vielschichtig und wechselvoll wie die der Christen. Es gibt Beispiele friedlicher Koexistenz und des wechselseitig bereichernden Zusammenlebens. Auch gibt es Muslime, die Juden in Zeiten der Verfolgung unterstützen und retten. Gleichzeitig gibt es im Koran, in der muslimischen Tradition und Geschichte sowie in Moscheegemeinden unterschiedliche Formen des Antijudaismus und der ideologischen Israelkritik bis hin zu offenem Hass und Feindschaft gegen den Staat Israel. Bei Letzterem vermischen sich immer wieder die teilweise berechtigte Kritik am Staat Israel im Zusammenhang des Nahostkonflikts und der israelischen Besatzungspolitik mit ideologischer Kritik (siehe 9. c)).
Da Muslime und der Islam ein Teil der deutschen Gesellschaft geworden sind, muss der muslimische Antijudaismus und die ideologisch motivierte Israelkritik auch ein Gegenstand der wissenschaftlichen Erforschung und des deutschen Bildungssystems sein. Die muslimisch-theologische Aufarbeitung des Themenkomplexes gehört jedoch in die Verantwortung der Muslime, ihrer Theologen, Verbände und Vereine. Ob und wie dies sinnvollerweise seinen Niederschlag im Curriculum des muslimischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen finden kann, ist zu prüfen.
e) Auch nach dem Ende des sog. Dritten Reiches leben antijudaistische und antisemitische Gedanken und Haltungen in der Bundesrepublik Deutschland und lebten in der Deutschen Demokratischen Republik fort, die sich immer wieder auch als ideologische Kritik am Staat Israel äußern (siehe 9. c)). Entsprechende Aussagen oder Verhaltensweisen kommen vor allem aus links- und rechtsextremen Kreisen, aber immer wieder auch aus der Mitte der Gesellschaft. Entsprechende Zeitungsartikel oder Videos können im Unterricht diskutiert werden. Dabei ist interessant, wie Schüler zu Beginn und wie sie am Ende der Lernsequenz zum Thema Holocaust darauf reagieren und wie sie argumentieren. Vermeintlich »harmlose« oder als »pubertär-provozierend« interpretierte Äußerungen sollten ernst genommen und thematisiert werden, da ein Faktor der Ausbreitung und Zunahme von Antisemitismus gerade das schweigende Tolerieren und die Entwicklung in kleinen Schritten ist (siehe 1. b), 8. f), 12 c)).
f) Alle Formen des Antisemitismus widersprechen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung! Sich mit ihnen auseinanderzusetzen und ihnen zu widerstehen ist eine wesentliche Aufgabe des deutschen Bildungssystems. Bildung ist hier nicht neutral, sondern dient dem Lernen der Menschenrechte, die unaufhebbar sind (siehe 7.). Ihr Ziel besteht in mündigen Staatsbürgern, die mutig Position beziehen und aktiv für die Rechte aller Menschen eintreten. Die Beschäftigung mit den Zeitzeugnissen jüdischer Holocaust-Überlebender und mit den Formen von Antisemitismus in der Zeit des Nationalsozialismus kann uns darüber hinaus sensibel machen für alle Formen von Ausgrenzung, Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft (sozialer Status, ethnische Zugehörigkeit, Behinderung, sexuelle Orientierung usw.). Wenn wir uns mit den Ursachen und Strukturen des Antisemitismus befassen, lernen wir auch, ihn zu verhindern (siehe 6.2 d)).
a) Die Staatsgründung Israels im Jahre 1948 wird immer wieder in Beziehung zum Holocaust gebracht. Ein starkes Motiv zur Anerkennung des Rechts der Juden auf ein eigenes Land durch die Vereinten Nationen war sicher der moralische Druck, mit dem der Holocaust die Nationen der Welt konfrontiert hat (versuchte Auslöschung des europäischen Judentums, Tatenlosigkeit der Alliierten während des Krieges usw.). Historisch, politisch und theologisch sind jedoch weitere Gründe wichtig: Die Verbindung mit dem Land Israel ist tief im jüdischen Glauben und in der jüdischen Geschichte verwurzelt; es gibt eine ununterbrochene jüdische Existenz in Palästina/Israel; der jüngere Zionismus mit seinen Einwanderungswellen ins »Land der Väter« seit dem 19. Jahrhundert; mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind zahllose Juden heimatlos, teilweise kommt es zu erneuten Pogromen und für viele Länder gibt es Einwanderungsverbote für Juden. Für die Gründung des Staates Israels im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina muss zudem die europäische Kolonialgeschichte im Nahen Osten und die damalige Situation der arabischen Bevölkerung sowie ihrer Organisationsformen berücksichtigt werden.
b) Für viele Überlebende des Holocausts hat die Tatsache, dass es einen jüdischen Staat gibt, einen hohen Stellenwert. Viele von ihnen finden in ihm eine neue Heimat, in der sie sich entfalten und eine neue Existenz mit jüdischer Identität aufbauen können. Vor allem stellt er für viele Überlebende eine Sicherheit vor erneuter potentieller Anfeindung, Verfolgung und Vertreibung dar, auch wenn sie selbst nicht in Israel leben.
c) Der Staat Israel muss sich wie jeder andere Staat auch der Kritik stellen (siehe 8. d)). Von möglicher berechtigter Kritik ist allerdings diejenige »Kritik« zu unterscheiden, hinter der sich verschiedene Formen des Antijudaismus bzw. Antisemitismus verbergen: Wenn ihm z.B. sein Existenzrecht aberkannt wird, wenn er »dämonisiert« wird (»Die Israelis machen mit den Palästinensern, was die Nazis mit den Juden gemacht haben«), wenn in der Kritik Doppelstandards erkennbar werden (von Israel wird z.B. die Einhaltung bestimmter Menschenrechte gefordert, nicht aber von anderen Staaten) oder wenn es in der Beurteilung und Berichterstattung zu Tatsachenverfälschungen kommt (es wird berichtet, dass ein Palästinenser erschossen wurde, nicht aber, dass dieser zuvor die Polizei angegriffen hat). Gleichzeitig darf mit dem Stigma, dass sich hinter der Kritik am Staat Israel Antisemitismus verberge, eine sachliche Kritik nicht moralisch ausgehebelt werden.
Für die Kinder und Jugendlichen mit Fluchterfahrungen ist die Auseinandersetzung mit Lebenszeugnissen jüdischer Holocaust-Überlebender doppelt herausfordernd. Zum einen haben diese Jugendlichen unter Umständen eigene Verfolgungs- und Fluchterfahrungen gemacht und können Traumatisierungen erfahren haben. Die Konfrontation mit Lebenszeugnissen Holocaust-Überlebender kann unter Umständen zur Reaktivierung dieser Traumata führen (siehe 6.1 b)). Hier ist eine besondere Aufmerksamkeit erforderlich und sind Vorgespräche mit den Jugendlichen bzw. mit deren Eltern sinnvoll. Zum anderen können die (muslimischen) jugendlichen Flüchtlinge mit Formen des muslimischen Antijudaismus bzw. der ideologischen Feindschaft gegenüber dem Staat Israel aufgewachsen sein, die ihren Umgang mit der Thematik des Holocausts prägt (siehe 9 c)). Die Arbeit mit Lebensberichten kann für diese Jugendlichen ein geeigneter Zugang zur Thematik sein, um sich neuen Lernprozessen zu öffnen und bisherige (bewusste oder unbewusste) Überzeugungen zu hinterfragen. Zudem kann die selbstkritische Art und Weise, wie wir mit unserer deutschen Geschichte umgehen, ein Vorbild und eine Ermutigung für sie sein, sich der Geschichte ihres Landes und Volkes kritisch zu stellen. Die selbstkritische Auseinandersetzung mit dem christlichen Antijudaismus im konfessionellen Religionsunterricht kann ihnen ferner ein Beispiel dafür sein, dass man sich auch mit religiösen Formen des Antisemitismus/Antijudaismus in der eigenen religiösen Tradition kritisch-konstruktiv auseinandersetzen kann. So kann gerade das Holocaust-Lernen mit Zeitzeugenberichten ein besonderer Beitrag zur Integration in die aufgeklärte freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Landes sein.
Zusammenfassend werden hier acht Perspektiven benannt, die sich aus einem angemessenen Holocaust-Lernen mit Lebenszeugnissen ergeben.
Im Holocaust-Lernen darf es nicht nur um Zahlen, Daten und Ereignisse gehen. Die besondere Dramatik des Holocausts und des Nationalsozialismus liegt in ihren massiven Auswirkungen auf Menschen, die mehr sind als »nur« Opfer (oder Täter, siehe 7 d)). Die Zeitzeugen sind historische Personen, souveräne Ich-Erzähler (siehe 4.1 d)), die mit den besonderen Herausforderungen ihres Lebens zurechtkommen müssen. An ihrem Leben wird Exemplarisches deutlich, das für uns von bleibender Bedeutung ist.
Holocaust-Lernen ist Lernen der Vergangenheit für unsere Gegenwart und Zukunft; es ist Menschenrechtslernen und erfordert ein Zurechtkommen mit ethischen Dilemmata sowie die Ausbildung von Werthaltungen und von entsprechendem Verhalten (siehe 7.).
Jahreszahlen, Personen- und Ortsnamen oder besondere Einzelereignisse ermöglichen noch kein Verstehen des Holocausts. Er ist ein Gesamtphänomen, das Auswirkungen auf sämtliche Bereiche des Lebens hat und vielfältige Fragen aufwirft. Die historische Perspektive muss durch weitere ergänzt werden: Politik, Wirtschaft, Theologie, Recht, Psychologie, Soziologie, Kunst, Musik, Literatur usw.
Der Holocaust und der Nationalsozialismus betreffen Deutschland und seine Bewohner. Sie haben mit unseren Orten und mit unseren Familien zu tun. Lokale und familiäre Ereignisse tragen einerseits zum Verständnis bei und können andererseits in den historischen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden. Dafür können Zeitzeugen interviewt werden bzw. Tagebücher oder Briefe gelesen werden. In Archiven der Rathäuser oder Zeitungen kann geforscht werden und Erinnerungsorte aufgespürt (Häuser, Stadtteile, Leidensorte) und das dortige Leben vergegenwärtigt werden. Es gilt ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem »Holocaust in Europa« und dem »Holocaust bei uns«. Der Orts- und Familienbezug schafft für unsere Jugendlichen eine innere Nähe zum Thema und erhöht die Motivation zur Auseinandersetzung damit. Er enthält aber auch die Gefahr der Ablehnung, wenn z.B. an Verdrängtes oder mit Scham Behaftetes gerührt wird.
Ohne die deutsche Verantwortung und Schuld zu relativieren, ist der Holocaust kein bloßes Phänomen der deutschen Geschichte, schon gar nicht hat er sich nur auf dem Boden des Deutschen Reiches abgespielt. Er hat vielmehr europäische, ja, globale Wurzeln und Ausmaße. Der Holocaust im Zeitalter der nationalsozialistischen Herrschaft findet in den Ländern Europas Unterstützer, Opfer und Widerstand. Der Antisemitismus und seine Überwindung sind europäische, ja, globale Herausforderungen. Blickt man auf Europa, so ist neben allen wirtschaftlichen Interessen im Zeitalter der Globalisierung, die Überwindung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, der Ursachen, die zum Zweiten Weltkrieg führten, und der Aufbau einer neuen Friedensordnung, die auf den allgemeinen Menschenrechten beruht, eine wesentliche Motivation für ein vereintes Europa und für eine einheitliche Werteordnung. Holocaust-Lernen ist darum europäisches Lernen, das die spezifischen Nationalgeschichten, Mentalitäten, wirtschaftlichen Interessen, sozialen Gefüge und religiösen Traditionen erst nimmt und auf ihrem Hintergrund die sehr verschiedenen Erinnerungskulturen der einzelnen Länder wahrnimmt, um sie weiterzuführen.
Im klassischen 45-Minuten-Fachunterricht einer einzelnen Lehrkraft können die erforderlichen Lernschritte, wie sie hier dargelegt sind, nicht realisiert werden. Holocaust-Lernen erfolgt darum am besten im Team mehrerer Kollegen und fächerverbindend; auch Projekt-Unterricht bietet sich an (evtl. als Ergänzung bzw. zur Vertiefung) (siehe 5.3 f)).
Letztlich lässt sich der mehrperspektivische Zugang, der sich am Entwicklungsstand der Schüler orientiert (siehe 5.1) und zudem Konsequenzen für das Verhalten der einzelnen Schüler wie auch für die Gesamtheit der Schulgemeinschaft hat (siehe 7.), nur durch ein entsprechendes Schulcurriculum realisieren. Dazu gehören z.B.:
Aufgrund der enormen Komplexität und der sehr verschiedenen Ressourcen, die in das Holocaust-Lernen einbezogen werden können, bietet sich die Digitalisierung von Lernprozessen gerade bei dieser Thematik und ihrer vielfältigen Implikationen an (siehe 4.3, 5.3). Die Chancen der Digitalisierung ermöglichen und unterstützen ein sachgemäßes Lernen, das analog kaum bewältigbar ist.
a) Überfordern Sie sich nicht und gehen Sie die Schritte, die Ihnen im Rahmen Ihres Unterrichts an Ihrer Schule möglich sind. Reduzieren Sie angemessen: Weniger ist mehr. Wählen Sie das Elementare, Wesentliche, Fundamentale, Exemplarische.
b) Haben Sie realistisch begrenzte Erwartungen hinsichtlich Ihrer erzieherischen Erfolge im Leben Ihrer Schüler: Haltungen, Werte, Einstellungen lassen sich in der Schule nur begrenzt verändern. Überschätzen Sie die Wirkung von Arbeitsblättern und schulischen Arbeitsaufträgen nicht. Unterschätzen Sie Ihre Wirkung als Beziehungsperson nicht!
c) Beachten Sie die Unterscheidung zwischen historischen Ereignissen und aktuellen Geschehnissen (Neonazismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit usw.). Der vorschnelle und vereinfachende Vergleich von aktuellen Ereignissen mit dem Holocaust kann einerseits heutige Täter bzw. Ereignisse in einem unangemessenen Ausmaß verurteilen und andererseits zu einer Verharmlosung des Holocausts führen (siehe 8. e)).
In den oben ausgeführten Text sind Vorträge eingeflossen, die bei der Fortbildungsreihe »Erinnerung für die Zukunft – Zukunft für die Erinnerung« der Landesakademie für Lehrerfortbildung und Schulentwicklung Bad Wildbad gehalten wurden; 10.-11.07.2017 Vorbereitungsseminar, Bad Urach; 27.10.-04.11.2017, Yad Vashem Jerusalem; 05.12.2017 Nachbereitungsseminar, Stuttgart.
How to Teach about the Holocaust in Schools, in: https://www.holocaustremembrance.com/educational-materials/how-teach-about-holocaust-in-schools (06.04.2018).
Reinhold Boschki, Art. Erinnerung/Erinnerungslernen (erstellt: Jan. 2015), permanenter Link zum Artikel: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100048/ (06.04.2018).
https://www.bibelwissenschaft.de/wirelex/das-wissenschaftlich-religionspaedagogische-lexi-kon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/erinnerungerinnerungslernen/ch/17f3508aa7e5204858639a9e68cd547a/ (18.06.2017).
Martin Sander-Gaiser, Was ist »gutes« E-Learning? In: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 9 (2010), H.1, 28-51; vgl. http://www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2010-01/05.pdf (14.09.2016).
Shira Magen, Die Verwendung von Zeitzeugnissen im Holocaust-Unterricht, Übersetzung und Redaktion: Chani Hinker, Franziska Reiniger, Anna Stocker. Aus: https://www.yadvashem.org/yv/de/education/learning_environments/testimony.asp (06.04.2018).