Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

27. bis 30. Januar 2025: Veranstaltungen zum Holocaust-Gedenktag »80 Jahre nach Auschwitz« im Neuen Schloss in Stuttgart

»… denn in der Hölle war ich schon.«

Arie Pinsker als Auschwitz-Überlebender nach 80 Jahren zum ersten Mal in Deutschland – Ausstellung »Holocaust gezeichnet« wird der Öffentlichkeit vorgestellt – Aus der Erinnerung lernen: für Deutsche, Israelis, Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Kirchen und die Politik

Arie Pinsker wurde 1930 in der Stadt Oradea im heutigen Rumänien geboren. Als Jugendlicher wurde er nach Auschwitz deportiert, entkam durch großes Glück der sofortigen Vernichtung, überlebte vier Monate unter schrecklichen Bedingungen. Dann kam er in ein Außenlager von Dachau, Kaufering I – Landsberg. Nach mehreren Monaten Zwangsarbeit folgte ein sogenannter Todesmarsch in Richtung Österreich. Unterwegs wurden die Überlebenden befreit, die SS-Bewacher flohen. Für Pinsker kam die Rettung geradezu in letzter Sekunde. Er hatte das Bewusstsein verloren und »als ich aufwachte, war alles um mich herum weiß«. Er glaubte, gleich würden ihn Engel ins Paradies emporheben, »denn in der Hölle war ich schon«.

Im Lazarett wurde er versorgt, das amerikanische Militär versuchte, die völlig geschwächten Häftlinge wieder auf die Beine zu bringen. Von neun Geschwistern überlebten er und zwei Brüder. Auch die Eltern wurden umgebracht. Im Juli 1945 wanderte er aus nach Erez Israel.

Es dauerte lange, bis er über diese schreckliche Zeit sprechen konnte. Eine Enkelin überredete ihn dazu, mit einer Delegation nach Auschwitz zu kommen, als Zeitzeuge. Die Reise fiel ihm unheimlich schwer, unter dem Schild »Arbeit macht frei« in der Gedenkstätte Auschwitz dachte er, er sei wieder zurück in der Schoah.

78-mal war er dennoch seither in Polen, mit Schulklassen, Militärangehörigen und Sicherheitsleuten: »Die jungen Leute müssen wissen, dass wir den Staat Israel brauchen.« Israel ist die Lebensversicherung für das jüdische Volk.

Nach 80 Jahren kam er zum ersten Mal wieder nach Deutschland. Und er berichtete auf Deutsch! Diese Sprache hatte er lange nicht gehört und gesprochen. 500 Schülerinnen und Schülern erzählte er von seinen Erlebnissen – und bekam selbst Hoffnung: »Ihr seid eine neue Generation, gute junge Leute.«

»80 Jahre nach Auschwitz – unsere Verantwortung heute«, dieses Motto stand über den vier Tagen (27. bis 30. Januar 2025) im Neuen Schloss in Stuttgart.

Schon am Montagvormittag, am Holocaust-Gedenktag, hatte der SWR ein Interview mit Arie Pinkser geführt, das in »SWR aktuell« am Abend ausgestrahlt wurde.

Nachmittags fanden sich etwa 150 Gäste zum Podiumsgespräch ein, das der evangelische Schuldekan Thorsten Trautwein moderierte. Oberkirchenrätin Carmen Rivuzumwami begrüßte die Gäste und eröffnete die Gesprächsrunde mit Prof. Dr. Reinhold Boschki und Prof. Dr. Fahimah Ulfat von der Universität Tübingen, Prof. Barbara Traub von der IRGW, Dr. Annegret Südland vom RPI Karlsruhe sowie Ada Waits aus Israel, der Tochter der Künstlerin Ella Liebermann-Shiber. Im Hintergrund noch verhüllt war eine Gedenkwand der Ausstellung »Holocaust gezeichnet«, die Zeichnungen von Ella Liebermann-Shiber als Zeugnisse schrecklicher Erinnerungen aus der Zeit im Ghetto und im KZ Auschwitz präsentiert. Diese Ausstellung – gefördert von der Baden-Württemberg Stiftung und der Berhold Leibinger Stiftung – wurde am 27. Januar 2025 zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert.

Im Gespräch wurde deutlich, dass die Erinnerung an den Holocaust bis heute wichtig ist, um für die Gegenwart und Zukunft zu lernen. Es zeigten sich aber auch gewisse Unterschiede in den Schlussfolgerungen aus den Geschehnissen von damals: Während für Deutsche die Warnung vor Rechtsextremismus und Antisemitismus jeglicher Couleur im Vordergrund stand, war es den israelischen Gästen ein Anliegen, den Staat Israel und das israelische Militär als Absicherung für die Existenz des jüdischen Volks wahrzunehmen. Sie prägt die Sorge um die immer noch von der Hamas gefangenen Geiseln und das Erkennen, dass die Solidarität mit Israel sehr fragil ist und antiisraelische Narrative auch hierzulande auf fruchtbaren Boden fallen.

So kam es auch bei den weiteren Veranstaltungen immer wieder zum Ausdruck: »Antisemitismus kommt nicht nur von rechts, sondern auch von links, und zwar sehr gravierend«, so Dr. Fredy Kahn, der ebenfalls als Zeitzeuge zweiter Generation berichtete. Sein Vater war Viehhändler im württembergischen Baisingen und kam nach dem Krieg wieder zurück. Als Jude hat Kahn feine Antennen für die antisemitischen Tendenzen in unserer Gesellschaft. Und für ihn ist klar: Der Staat Israel ist ein Zufluchtsort für Juden aus aller Welt, notfalls auch für ihn oder seine Kinder und Enkel.

Auch Arie Pinsker betonte im Interview mit dem christlichen Nachrichtenmagazin Idea: »Insbesondere unter dem Eindruck des Gaza-Krieges hat die Kritik an Israel weltweit zugenommen. Sie wird von islamistischen Extremisten befeuert. In den Nachrichten liest man vor allem, wie schlimm die Lage in Gaza ist, aber die Ursachen und Hintergründe werden nicht erklärt … Israel ist nicht für die Unruhe im Nahen Osten verantwortlich.«

Höhepunkt am 27. Januar war der Gedenkabend, dem 180 geladene Gäste im Saal des Neuen Schlosses beiwohnten und noch einmal 300 Zuschauer im YouTube-Livestream. Würdig und auf qualitativ höchstem Niveau wurde die Abendveranstaltung von einem etwa 50-köpfigen Chor des Ev. Heidehof-Gymnasiums Stuttgart musikalisch umrahmt.

Grußworte sprachen der Antisemitismusbeauftragte Dr. Michael Blume als Vertreter der baden-württembergischen Landesregierung, Prof. Barbara Traub von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs sowie Ernst-Wilhelm Gohl, Landesbischof der Ev. Landeskirche in Württemberg.

Nun standen die Zeitzeugen im Mittelpunkt: Arie Pinsker, Ada Waits und Dr. Fredy Kahn. Nach Gesprächen und Statements wurde die Ausstellung enthüllt und als Erinnerung an die Opfer der Schoah – und des 7. Oktober 2023 – Kerzen gezündet. Nathan Goldman, jüdischer Kantor in Stuttgart, sorgte für Gänsehaut und Tränen der Ergriffenheit, als er das Gedenkgebet »El male rachamim« sang. Mit Psalm 43 auf Deutsch und Hebräisch sowie der Hoffnungs-Hymne »Hatikva« endete der denkwürdige Abend.

Nicht nur für die Musik, sondern auch für die Verpflegung sorgten Schülerinnen und Schüler: Das Berufskolleg für Ernährung und Haushaltsmanagement der Mildred-Scheel-Schule Böblingen bereiteten für die Nachmittags- und Abendveranstaltung Fingerfood vor – von der Planung bis zur Durchführung erwarben die Schüler dabei handlungsorientierte Kompetenzen.

Am Dienstag waren Lehrkräfte zu einer Fortbildung eingeladen: Begegnung mit Zeitzeugen, Kennenlernen der Ausstellung »Holocaust gezeichnet« sowie der Internetplattform »www.papierblatt.de« und Facetten des jüdischen Lebens heute – in Deutschland und Israel. Über 40 Lehrerinnen und Lehrer nahmen daran teil.

Der Dienstagabend war der Begegnung von Führungskräften und Verantwortlichen aus Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit gewidmet. Wieder waren etwa 150 geladene Gäste da und bekamen Impulse von den Zeitzeugen Arie Pinsker, Ada Waits und Dr. Fredy Kahn. Im Podiumsgespräch diskutierten die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper (Die Grünen), Manuel Hagel MdL (CDU-Landtagsfraktionsvorsitzender) sowie die israelische Generalkonsulin Talya Lador-Fresher (München). Lador-Fresher sprach deutlich den gefährlichen Judenhass radikaler Muslime an, hauptsächlich wegen ihnen könne sie sich nur unter Polizeischutz in der Öffentlichkeit bewegen. Manuel Hagel forderte diesbezüglich konsequente repressive Maßnahmen, Antisemitismus könne nicht geduldet und müsse hart bekämpft werden. Die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper sprach sich für persönliche Begegnungen mit Juden aus. Desweiteren erwähnte sie Handreichungen für Lehrkräfte nach dem 7. Oktober 2023.

Am Mittwoch und am Donnerstag kamen mehrere Schulklassen mit über 500 Schülerinnen und Schülern ins Neue Schloss, um eine Führung durch die Ausstellung mit Ada Waits zu erleben oder die Zeitzeugenberichten von Arie Pinsker und Fredy Kahn zu hören. Viele von ihnen werden es sicherlich als einzigartiges Erlebnis wahrgenommen haben: Nicht mehr lange wird es die Gelegenheit geben, einem Menschen gegenüberzusitzen, der aus erster Hand von den schrecklichen Erinnerungen an Auschwitz berichten kann.

Pressespiegel:

SWR Aktuell: Holocaust-Gedenken in BW: 80 Jahre Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau

Hitradio Antenne 1: Jugendliche treffen Zeitzeugen

Israelnetz: Schoa-Überlebender: »Sie sollen wissen, was Israel für uns bedeutet«

Idea: »Israel ist nicht für die Unruhe im Nahen Osten verantwortlich«

Idea: Holocaust: Zeitzeugen beklagen Erstarken des weltweiten Antisemitismus

Dr. Michael Blume: We remember 2025 – Meine Rede zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus in Stuttgart

Manuel Hagel (Facebook, Instagram, LinkedIn)

Manuel Hagel, Landtagsrede zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

Mildred-Scheel-Schule Böblingen: Schüler:innen der MSS übernehmen Catering bei Gedenkveranstaltung und Ausstellungseröffnung im Neuen Schloss