Interview am 22. Juli 2013 in Kibbuz Eilon, Israel
Amira Gezow wurde 1930 als Charlotte Siesel in Coesfeld geboren. Die Familie siedelte dann nach Dortmund um, wo ihr Vater als Immobilienmakler tätig war. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, wurden seine Büros zerstört. Die Familie verlor zum ersten Mal ihre Existenzgrundlage und siedelte nach Mannheim über, wo die Eltern eine mechanische Wäscherei gründeten. Nach dem Kriegsausbruch musste die Familie jegliches Eigentum abgeben, die Schwester von Amira Gezow wurde zu Verwandten nach England geschickt. 1940 erfolgte die Deportation ins Lager Gurs in Frankreich, später kam sie zusammen mit den Eltern nach Rivesaltes. Ein wenig Kindheit erlebte Amira Gezow während der kurzen Zeit im von Schweizern und Amerikanern geführten Kinderheim La Jonchère. Als die Familie 1942 nach Auschwitz deportiert werden sollte, befahl ihr Vater sie einer Schwester des Roten Kreuzes an, die ihr zur Flucht in die Schweiz verhalf. Dort kam sie bei Verwandten in Zürich unter und fand Anschluss in der jüdischen Jugendorganisation Hashomer Hazair, mit der sie Ende Mai 1945 nach Palästina/Israel auswanderte.
Amira Gezow stellt sich zunächst vor. Sie wurde als Charlotte Siesel in Coesfeld bei Münster in Westfalen geboren. An Coesfeld erinnert sie sich kaum noch. Sie lebte später mit den Eltern und ihrer älteren Schwester Alice in Dortmund. Dort hatte der Vater ein Büro als Häuser- und Gütermakler. Der Familie ging es dort gut. Sie hatten eine schöne Wohnung. Amira Gezow und ihre Schwester gingen dort in den Kindergarten.
Als 1933 die Nazis an die Regierung kamen, war das schöne Leben vorbei. Das Büro des Vaters wurde zerstört, der Vater wurde arbeitslos und musste eine neue Existenz suchen, die er in Mannheim fand. Dort gründeten die Eltern eine mechanische Wäscherei in einem Arbeiterviertel, wo die Familie auch wohnte. Aufgrund der tüchtigen und harten Arbeit der Eltern wurde der Betrieb größer und ihr Vater konnte auch Angestellte beschäftigen.Die Mutter konnte somit wieder den Haushalt führen. Dabei hatte sie eine Hilfe, die sich auch um Amira Gezow und ihre Schwester kümmerte. Der Familie ging es gut und sie hatten viele Freunde. Die Eltern gingen gerne in Konzerte, Theater und ins Kino und waren auch in der Nachbarschaft sehr beliebt und erwünscht. Die Mutter half bei Hochzeiten und anderen Familienfesten in der ganzen Nachbarschaft.
Die Familie lebte sehr einfach in einer altmodischen Wohnung ohne Bad im 2. Stock eines Miethauses. Die Vermieterin des Hauses hieß Clementine Gonizianer und ihre Familie war unfreundlich. Sie hatten ein Möbelgeschäft.Ihr Bruder war ein Nazi und lief immer in Uniform und Stiefeln umher. Er hatte einen kleinen Hund, den er auf Amira Gezow und ihre Familie hetzte. Amira und ihre Schwester hatten Angst vor dem Hund. Der Nazi-Bruder war immer sehr gemein. Amira Gezow und ihre Schwester wurden oft geschickt, um die Miete zu bezahlen. Die Mutter der Vermieterin war gelähmt. Sie und ihr Mann waren nett, obwohl er im früheren Regime tätig war.
Amira Gezows Familie wurde oft von Pfarrer Schäfer besucht. Er blieb immer sehr lange, spielte Schach oder Karten und rauchte mit dem Vater. Amira war im katholischen Kindergarten, für den auch der Pfarrer zuständig war. Der Kindergarten wurde von Nonnen geführt, die sehr freundlich waren. Dem Vater war es sehr wichtig, dass sich die Kinder gut benahmen. Bei Prozessionen wurde Amira Gezow häufig bevorzugt. Die Mutter war eine sehr religiöse Jüdin und fand das nicht gut. Der Vater war immer angepasst und ohne Glauben. Er fühlte sich nicht jüdisch. Er liebte Deutschland sehr. Er fühlte sich als Deutscher und war assimiliert. Obwohl dies die Mutter nicht teilte, kamen sie aber gut miteinander aus.
Ihr Vater war ein Rebell und schon mit 17 Jahren Soldat. Er hatte sich gemeldet und ein falsches Alter angegeben, um als Soldat am Ersten Weltkrieg teilnehmen zu können. Dafür bekam er das Eiserne Kreuz als Auszeichnung. Amira Gezow konnte ihn nie fragen, wie er in Frankreich kämpfen konnte, wo dort doch auch Juden waren. Aber ihr Vater war in der Seele kein Jude. Ihre Mutter hielt jüdische Regeln ein. Sie aß kein Schweinefleisch und hat an Jom Kippur einen halben Tag gefastet. Sie machte Kompromisse mit Gott. Der Vater ließ Amira Gezow und ihre Schwester machen, was sie wollten. Die Schwester wollte sogar Rabbinerin werden.
In der Kristallnacht machte die Vermieterin, Clementine Gonizianer, der Familie Gezow das Angebot, alle Wertsachen und das Geld ihr zu geben - sie wollte die Wertsachen für sie verstecken. Bisher hatte sie nie gezeigt, ob sie für die Familie oder gegen sie war. Die Eltern glaubten ihr und gaben ihr alles. Das Haus wurde aber nie berührt.
Amira Gezows Eltern kümmerten sich um die älteren Menschen, deren Altersheime in dieser Nacht angezündet wurden. Viele starben dabei. Die Eltern brachten die Menschen mit dem Auto nach Mannheim in ein anderes jüdisches Altersheim oder sie brachten sie bei anderen Juden unter. Amira und ihre Schwester wurden bei Bekannten versteckt und später wieder von den Eltern abgeholt. Ihre Wohnung wurde nicht zerstört, da die Nachbarn Nazis nicht ins Haus ließen.
Nach der Kristallnacht wurde es ein wenig ruhiger. Doch die Synagogen und die Geschäfte der Juden waren zerstört. Die große Synagoge wurde fast vollständig zerstört. Amira und ihre Schwester hatten sie an Samstagen sehr oft besucht. Dort hatte sie sich mit ihren Freundinnen getroffen und passiv mitgemacht. Auch konnte Amira Gezow nicht mehr in ihre alte Schule gehen. So fuhr sie weiter weg in eine andere Schule. Dort waren zwei jüdische Klassen mit jüdischen Lehrern. Sie lernte u.a. Hebräisch. Mit deutschen Kindern durfte sie keinen Kontakt mehr haben.
Es war eine brenzlige Zeit, da es oft Alarm gab, auch zur Übung. Bei Alarm gingen die deutschen Kinder in den Keller, die jüdischen Kindern mussten in den Klassenzimmern bleiben. Auch durften sie in den Pausen nicht auf den Hof gehen. Nach der Kristallnacht hat man ihnen eine Kennkarte geben, die sie immer bei sich haben mussten. Die Vermieterin, Clementine Gonizianer, gab ihnen etwas später tatsächlich alle Wertsachen zurück. Die Familie lebte noch kurze Zeit in der Wohnung.
Als der Krieg begann, hat Amira Gezow auf der Straße gehört, dass Deutschland Polen erobert hat. Darüber hat sie sich sehr gefreut und es ihrer Mutter erzählt. Die gab ihr aber eine Ohrfeige. Die Familie musste alles abgeben, z.B. Schmuck, Geld, ihr Radio, das Fahrrad, und die Sachen selbst zur Polizei bringen. Über dem Neckar haben wenige Juden gelebt. Dort lebte ihr Hebräischlehrer Herr Kälbermann. Er hatte vor, mit seiner Familie nach Palästina auszuwandern, doch er bekam keine Erlaubnis. Eines Tages kam Herr Kälbermann nicht mehr in die Schule gekommen – es hieß, er habe sich das Leben genommen. Kurz danach haben alle der Familie ihre Ausweise bekommen und konnten auswandern. Das wussten sie aber damals nicht.
Amira Gezow und ihre Familie mussten in den alten Teil von Mannheim umziehen. Dort waren die Häuser hässlich und klein. Sie wohnten mit einer anderen Familie in einer Wohnung zusammen. Ihre Mutter hat eine Frau, die gelähmt war, und deren Bruder gepflegt. Der Bruder war auch krank und lief den ganzen Tag in der Wohnung umher. Amira hatte Angst vor ihm. Ihre Schwester Alice ist vor dem Kriegsausbruch mit einem Kindertransport nach England gekommen. Dahin konnten Eltern ihre Kinder hinschicken, wenn sie jemanden hatten, der dort für sie bürgt. Amira Gezows Mutter hatte eine Schwester in London, die die Schwester aufnahm. England hat viele Kinder gerettet, doch die Kinder wurden von den Engländern als Feinde behandelt.
Der Wohnungsbesitzer war ein älterer, kranker Jude, der auch von der Mutter gepflegt wurde. Es war schwer, mit den Rationierungskarten auszukommen. Sie bekamen Milch ohne Sahne, kein Fett, kein Öl, kein Fleisch und sehr wenig Brot. Einmal in der Woche, am Montag, gab es Wurst oder Fleisch. Von der Nordsee gab es Fisch. Fisch bekam man genug. Die Mutter war sehr tüchtig. Sie hat gut gekocht und kam mit allen gut aus. Sie mussten nicht hungern. Am Morgen des 22.10.1940 kamen Zivilbeamte der Gestapo und haben sie aufgefordert, innerhalb einer Stunde zu packen. Amira Gezow bekam die Rationierungskarten und sollte kaufen, was sie dafür bekommen würde. Ihre Mutter hat derweil für die anderen gepackt. Die Wohnung war für die Verhältnisse groß. Amira Gezow und ihre Eltern hatten ein Zimmer für sich alleine. Das Gepäck durfte nicht über 200 kg wiegen und sie durfte nur 100 Mark mitnehmen. Ihr Vater musste unterschreiben, dass alles, was noch in der Wohnung war, konfisziert wird. Sie hatten keinen Anspruch mehr darauf. Die Wohnung wurde verplombt und die gelähmte Frau musste in der Wohnung bleiben. Auf der Polizei wurden die Koffer gewogen. Die Mutter hatte sich und Amira Geld in den Saum der Kleidung genäht, was nicht entdeckt wurde. Der Vater nahm Arbeitskleider mit und war sich sicher, es würden ihnen nichts passieren. Sie wären doch Deutsche und er habe das Eiserne Kreuz. Es müsste ein Irrtum sein. Man würde sie zurückschicken.
Sie mussten zu Fuß zum Bahnhof und in einen Zug einsteigen. Einige waren guten Mutes und freuten sich auf eine Reise. Amira Gezow war zu dieser Zeit 11 Jahre alt. Sie hatte ihre Puppe vergessen, was ihr sehr leid tat. Ihr Vater dachte immer noch, alles sei ein Irrtum. Der Zug hatte viele Waggons und ca. 6.500 Juden waren im Zug. Es waren alte Personenzüge. Sie waren tagelang unterwegs. Keiner konnte rechnen, wie lange sie unterwegs waren. Ihre Mutter gab vielen Menschen von ihrem Essen ab. Die Reise wurde immer schlimmer. Ein alter Mann schnappte über und schrie. Bei jedem Waggon stand ein Soldat. Der Zug wurde angehalten und der alte Mann wurde hinausgeworfen und erschossen. Auch der Bruder wurde aggressiv und schlug um sich. Er wurde ebenfalls erschossen. Ihre Sachen blieben bei den anderen. Die Reise dauerte bestimmt 4 oder 5 Tage. Die Vorhänge der Waggons durfte man nicht aufmachen. Amiras Vater hatte das Gefühl, dass sie nach Frankreich fuhren, was auch stimmte. In einer Nacht kamen sie an und mussten alle aussteigen und in Lastwagen einsteigen, welche sie nach Gurs brachten. Auf dem Weg ins Lages verlor Amira Gezow einen ihrer Schuhe.
Gurs war ein Lager, welches früher französischen Soldaten diente. Es hat dort immer geregnet. Überall war Schlamm. Die Juden wurden aufgeteilt in Frauen und Männer. Jungen mit 13 Jahren mussten auch zu den Männern. Amira Gezow ging mit ihrer Mutter. Es waren keine Häuser, sondern Barracken, die schon ganz modrig waren. Dort gab es keine Betten, Pritschen oder Heu. Alle waren sehr müde und schliefen auf dem kaputten Bretterboden. Die Verwaltung war mit den vielen Juden überfordert. Morgens bekamen sie einen großen Kübel mit warmem Wasser als Kaffee und sehr wenig Brot. Sie hatten keine Gefäße.In den Baracken waren ganz am Ende spanische Frauen. Sie waren Republikaner Spaniens, die nach Frankreich geflüchtet waren. Die Frauen hatten sich schon organisiert und den Juden leere Konservenbüchen geborgt. Erst viele Tage später bekamen sie Essen. Frankreich litt unter großem Hunger. Das Lager war unter deutscher Kontrolle und französische Kriminelle arbeiteten als Aufseher. Sie haben die Menschen aber nicht geschlagen oder erschossen. Sie gingen auch nicht in die Baracken hinein. Das schlimmste war, dass die Baracken keine Fenster hatten, sondern nur Luken, die man aufschieben musste. Die spanischen Frauen hatten sich selbst Pritschen gebaut. Später bekamen die Juden auch Stroh. Neben Amira Gezow und ihrer Mutter lag eine Frau aus Kaiserslautern mit ihren zwei Mädchen. Sie war Christin und hätte in Kaiserlautern bleiben können, doch sie ging mit ihrem Mann. Die Mütter hatten sich angefreundet.
Amira Gezows Großmutter blieb in Darmstadt und ihre Tante in Frankfurt. Die Tante musste von frühmorgens bis spätabends Minen in den Wäldern bauen. So hatte sie kaum eine Möglichkeit sich mit Lebensmitteln zu versorgen, da die Geschäfte für Juden entweder noch nicht geöffnet oder schon wieder geschlossen hatten. Als die Gestapo sie holen wollte, beging sie Selbstmord im Badezimmer, wie Amira Gezow später erfahren hat. Die Großmutter war damals 64 Jahre alt. Sie schickte einmal im Monat über das Rote Kreuz Lebensmittel von ihrer Ration nach Gurs. Ebenso schickte sie einen kleinen Spirituskocher mit Brennmaterial, Teller, Besteck, und alles, was notwendig war. Es war auch immer ein kleiner Brief dabei. In einem Brief durfte man 25 Worte schreiben. Weil die Großmutter schon einen Rückumschlag beigelegt hatte, konnte Amira auch der Großmutter schreiben.
Die Kinder konnten in die Kinderbaracken gehen. Dort gab es mehr Essen. Trotzdem hat ihre Mutter beschlossen, dass ihre Tochter dorthin gehen solle. Dort war sie mit vielen Kindern zusammen. Aber Amira hielt es vor Sehnsucht nicht aus und ging nachts zur Mutter zurück. Sie fand es viel besser mit der Mutter auf Stroh zu schlafen, als in der Kinderbaracke im Bett. Die Mutter war eine außergewöhnliche Frau. Normalerweise hat sie die Tagesration Brot der beiden beim Austeilen an sich genommen. Das Aufbewahren war gar nicht so einfach, denn überall waren Ratten, die sich selbst noch das Brot holten, das von den Bewohnern an der Decke aufgehängt war. Über den Tag verteilt gab die Mutter dann Amira immer wieder Brocken von dem Brot. Eines Tages rebellierte die Tochter – Amira Gezow wollte selbst auf ihr Brot aufpassen. Es war dann aber so, dass sie das ganze Brot gleich auf einmal aufaß, als es ausgeteilt wurde. Gegen Abend plagte sie dann entsetzlicher Hunger, den sie kaum aushalten konnte. So ging sie zur Mutter und klagte der ihr Leid. Aber anstatt mit der Tochter zu schimpfen, gab sie ihr die Hälfte von der eigenen Tagesration. Die hatte sie – wie an jedem Tag - für Amira zur Seite getan.
Es gab kein Wasser und sie konnten sich nicht waschen. Sie waren völlig verdreckt und hatten Läuse. Zum Kaffee bekamen sie auch Wein, der mit viel Wasser verdünnt war. Wenn man das Brot aber mit dem Wein kochte, war es ein sehr leckeres Essen. Zum Mittag gab es Suppe mit Rüben und etwas Kichererbsen. Viele Leute wurden krank. Im ersten Monat starben schon 1.000 Juden, vor allem alte Menschen und kleine Kinder. Sie wurde in Gurs begraben. Die Leichen wurden aus den Baracken geholt und in die Waschbaracke gebracht. Der Sommer war nicht besser als der Winter. Amira Gezows Mutter hat aus einer Decke Kleidung für sie genäht. Die Menschen haben sich untereinander ausgeholfen. Die Situation brachte aber auch viel Streit mit sich. Viele der Juden waren in Deutschland reich gewesen und kamen mit der jetzigen Situation nicht zurecht.
In der Nähe von Gurs war das Lager Saint-Cyprien, welches man aufgeben musste, weil fast alle dort an Typhus gestorben sind. Die übrigen Menschen kamen nach Gurs und waren sehr abgemagert. Es waren deutsche Juden und nicht-jüdische Menschen, die 1933 aus Deutschland geflohen waren. Es war die Elite der Elite Deutschlands und der deutschen Juden. Unter ihnen waren Professoren, Ärzte, Lehrer, Schriftsteller und Schauspieler. Diese Menschen haben sich in Gurs von dem Lager Saint-Cyprien erholen können, was sehr zynisch klingt. Amira Gezow wurde auch krank und hatte Gelbsucht. Sie kam ins Lazarett und konnte sich dort vor allem durch die Schweizer Hilfe für Kinder erholen.
In Gurs war die Schwester Lisbeth Kassler, die eine Kinderbaracke aufgestellt hat. Sie war freiwillig da, um den Kindern zu helfen. Sie bekam Spenden aus der Schweiz. So hat sie den Kindern Zucker und Essen geben. Amira Gezow hat mit ihr nach dem Krieg Kontakt aufgenommen. Schwester Lisbeth Kassler ging später in die Schweiz zu ihrem Orden zurück. Auch die Künstler von Gurs haben Schwester Lisbeth Kassler sehr geschätzt. Sie hat den Künstlern Stoffe und Farben gebracht. Im Gegenzug schenkten sie ihr ihre Werke. Manche der Künstler waren sehr bekannt. Die Leute von Saint-Cyprien haben den Kindern in Gurs geholfen und sie unterrichtet. Die meisten Kinder waren nicht lange auf der Schule. Stefan Zweigs geschiedene Frau war z.B. eine Künstlerin und Schauspielern, die eine Schauspielgruppe für Kinder gegründet hat.
>In Gurs hat man sich erzählt, es gebe bessere Lager. Einmal hatte man die Möglichkeit, nach Rivesaltes in der Nähe von Perpignan zu gehen. Dort war das Klima besser, doch hatte es dort starke Winde. Sie wehten die Dächer von den Baracken weg. In Rivesaltes war das Essen etwas besser. Dort waren Zigeuner, die aber nichts mit den Juden zu tun haben wollten. Sie wollten alleine sein und hatten viel schwerere Bedingungen, da sie schon viele Jahre verfolgt wurden. Die Juden hatten im Gegensatz zu den Zigeunern noch eine Kultur, so Amira Gezow. An Rivesaltes kann sich Amira Gezow kaum erinnern, da es nicht so traumatisch war wie in Gurs. Hier konnte sie ihren Vater öfters sehen, weil sie Briefe ins Männerlager gebracht hat. Auch konnte man die Bitte äußern, sich mit den Männern zu treffen. So hat die Familie Spaziergänge im Lager machen können. Amira Gezows Vater war der Barackenälteste. Er sprach französisch und musste den Kontakt zwischen den Gefangenen und den Aufsehern herstellen. In Polen oder Deutschland war dies anders. Für ihre Botengänge hat Amira gutes französisches Brot bekommen. Das schlechte Brot war oft aus Mais und war kaum essbar. Aber aus lauter Hunger aßen sie es trotzdem.
Amira Gezow kam in ein Kinderheim in einem gut erhaltenen Schloss. In der Gegend um Rivesaltes gab es viele Ruinen von Schlössern. Dort hat man Kinderheime für jüdische Kinder eingerichtet, veranlasst und finanziert von Schweizern und Amerikanern. Es war dort sehr schön und sie war glücklich. Die Aufseher waren Juden und Lehrer, die auch sehr religiös waren. Die meisten Kinder wussten aber kaum, was Religion ist, doch sie mussten machen, was man ihnen sagte. Die Eltern konnten den Kindern schreiben und so Kontakt halten. Amira Gezow schrieb fast täglich und schickte auch ihren Eltern getrocknetes Brot. Wenn am Sabbat der Briefträger kam, hat der Leiter die Briefe an sich genommen und erst nach dem Sabbat verteilt. Im Heim machte man auch Ausflüge in die Wälder, in denen man Beeren und Nüsse sammeln konnte, und zu einem Badeteich.
1942 kam ein Laster zu dem Kinderheim. Es hieß, die Eltern wollten die Kinder sehen. Das war eine Lüge, doch man wusste das damals nicht - und die Kinder wollten ja auch zu ihren Eltern. Als der Laster mit den Kindern im Lager Rivesaltes ankam, waren viele der Eltern schon gar nicht mehr da, weil man sie nach Auschwitz gebracht hatte. Amira Gezows Eltern waren aber noch da und sie freute sich sehr, ihre Eltern zu sehen. Ihre Mutter wurde zur Zwangsarbeit in die Weinberge geschickt und ihr Vater nach Perpignan in eine Schreinerei. Beide Eltern waren in einer sehr schlechten Verfassung.
Die Organisation in Rivesaltes wurde immer chaotischer. Jeden Morgen wurde man früh geweckt und auf den Appellplatz geschickt. Dort standen schon die Viehwagen. Ihre Familie wurde aufgerufen, doch die Papiere waren noch nicht da. Irgendwann mussten sie aber doch gehen. Vor dem Viehwagen bekamen sie noch etwas Essen. Ihr Vater dachte wieder, es sei alles ein Irrtum. Schwestern vom Roten Kreuz aus Frankreich kamen und sagten, dass die Kinder bleiben oder mit ihnen mitkommen könnten. Amiras Mutter wollte, dass sie bei ihnen bleibt, doch der Vater meinte, dass sie gehen solle. Sie sollte es besser haben als sie. Er machte ihr klar, dass sie noch viel lernen müsse. Die Schwestern haben viele Kinder aus den Waggons geholt und sie in die Baracke des Roten Kreuzes auf das Dach gebracht. Keiner würde das Rote Kreuz angreifen. Die Waggons fuhren in der Nacht weg. Bis heute hört Amira Gezow das Weinen und das Geschrei der Kinder, die wegen der Trennung von ihren Eltern verzweifelt waren. Erst viel später hat sie erfahren, dass die Schwestern vom Roten Kreuz von der Widerstandsbewegung Résistance waren.
Amira Gezow bekam ein Kind auf den Arm, um das sie sich kümmern musste. Sie waren ein bis zwei Nächte in dieser Baracke. Eine Frau vom Roten Kreuz meinte, dass Amira und ein anderes Mädchen aus dem Lager gebracht werden würden. Sie waren dann eine Nacht in einem Hotel in Perpignan. Am nächsten Tag fuhren sie nach Grenoble und wurden zu einer jüdischen Familie aus dem Elsass gebracht. Die Familie hat beide sehr lieb aufgenommen. Amira Gezow war krank und wurden von der Familie gesund gepflegt.
Soldaten haben zu der Zeit die Häuser nach illegalen Flüchtlingen durchsucht. Während der Razzia wurde Amira Gezow in ein Hotel gebracht. Erst später hat sie erfahren, dass auch diese Familie von der Résistance war. Die Leute haben kein Geld für die Hilfe bekommen und haben alles aus gutem Willen gemacht. Die Familie war katholisch und sehr fromm. Im Hotel traf Amira Gezow später eine Familie, die auch Juden rettete. Als keine Gefahr mehr war, kam sie wieder zu der Familie aus dem Elsass. Diese hatte auch eine Tochter in Amiras Alter. Die Familie hat sich sehr gut um die beiden fremden Mädchen gekümmert. Sie taten, was sie nur konnten. Es gab noch eine weitere Familie, die war sehr arm. Die Frau verkaufte Blumen und ihr Mann Säcke auf dem Markt. Der Mann hatte nur einen Arm, da er im Ersten Weltkrieg verwundet wurde. Dorthin wurde Amira Gezow gebracht. Der Mann war ein starker Trinker. Als er betrunken war, hat er über die Deutschen und Italiener geflucht. Amira Gezow fand dies sehr gefährlich, da er und sie verhaftet hätten werden können. Wenn er nicht trank, war der Mann aber sehr nett und freundlich.
Man wollte jüdische Kinder nach Amerika bringen. Amira Gezow wollte aber immer in die Schweiz, weil die Eltern ihr gesagt hatten, dass sie dorthin soll. In der Schweiz hatten sie Freunde und dort wollten die Eltern sie nach dem Krieg wieder abholen. Amira Gezow wurde drei Monate in Grenoble versteckt und manchmal konnte sie sich auch frei bewegen.
Eines Tages kam eine Frau von der Résistance und wollte sie in die Schweiz bringen. Amira Gezow durfte niemanden sagen, dass sie gehen würde, doch wollte sie sich gerne noch von der netten Familie verabschieden. Durch einen Schmuggler wurden Amira Gezow, ein anderes Mädchen und ein Mann in die Schweiz gebracht. Die Schweizer wollten den Mann nicht aufnehmen, doch Amira behauptete, der Mann sei der einzige Mensch, den sie noch habe. Die Schweizer waren sehr zurückhaltend. Sie kamen in ein Flüchtlingslager bei Genf. Da waren jüdische Kinder und Erwachsene. Amira Gezow fand auch dort Menschen, die ihr halfen. Nach ein paar Monaten wurde sie zu ihren Verwandten gebracht, die sie aufnahmen. Sie fuhr nach Zürich, wo sie dann auch in die Schule ging. Die Verwandten haben alles finanziert. Bis zu ihrem Tod waren sie mit Amira Gezow verbunden.
Amira Gezow ging in die jüdische Jugendbewegung. Viele der Mitglieder wollten nach Palästina ausreisen, doch Amira Gezow wollte zunächst nicht mitgehen, weil ihr Vater immer gesagt hatte, dort seien Juden, die sich untereinander nicht verstehen. Aber in der Jugendbewegung hat es ihr gut gefallen, und so reiste sie gleich nach dem Kriegsende, Ende Mai 1945, nach Palästina. Mit einem spanischen Schiff fuhr sie zusammen mit ca. 1000 anderen jüdischen Kindern und Jugendlichen und ganz wenigen Erwachsenen von Barcelona nach Haifa. Eigentlich waren die Flüchtlingslager in Haifa, aber ihre Gruppe kam gleich nach Eilon, wo sie seit ihrem ersten Tag in Israel lebt. In Eilon hat Amira Gezow auch ihren Mann kennengelernt und mit ihm zusammen ein neues Leben aufgebaut. Sie haben miteinander vier Kinder, acht Enkel und acht Urenkel. Ihre Eltern mussten zwei Jahre in Auschwitz arbeiten und wurden dann ermordet.