Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Avigdor Neumann

Vortrag am 27. Januar 2024 in Shavei Zion, Israel, Deutschland

Avigdor Neumann

Liveschaltung aus Shavei Zion zum Holocaust-Gedenktag 2024 in Maisenbach.

Avigdor Neumann wurde 1931 in der damaligen Tschechoslowakei geboren. Im März 1944 marschierten die Deutschen ein, Juden wurden gezwungen, einen gelben »Judenstern« auf der Kleidung zu tragen. Wenig später geschah die Zwangsumsiedlung ins Ghetto. Schließlich wurden sie in einem Viehwaggon deportiert – Richtung Auschwitz-Birkenau. Auf den Arm bekam er eine Nummer eintätowiert, die auch 80 Jahre später noch zu sehen ist: B14665.

Kurzbiografie

Die Stadt Wynohradiw liegt in der Ukraine. Als Avigdor Neumann dort 1931 geboren wurde, hieß sie Seulus und war seit dem Ende des Ersten Weltkriegs Teil der Tschechoslowakei. 1939 von Ungarn annektiert, begann die Situation für die jüdischen Bewohner schwierig zu werden. Als schließlich im März 1944 die Deutschen einmarschierten, wurden Neumann, seine Familie und alle anderen Juden gezwungen, einen gelben »Judenstern« auf der Kleidung zu tragen. Wenig später geschah die Zwangsumsiedlung ins Ghetto, wo eine unerträgliche Enge herrschte. Im Mai wurden sie in einem Viehwaggon deportiert – Richtung Auschwitz-Birkenau. Drei Tage und drei Nächte eingepfercht mit etwa hundert Personen, ohne Licht und Toiletten.

Sofort nach der Ankunft wurden Frauen und Kinder vergast. Der zwölfjährige Avigdor stellte sich mit seinem Vater zu den Männern und erlebte fortan die Schrecken des Konzentrationslagers: Kälte, Hunger, Demütigung, Zwangsarbeit. Auf den Arm bekam er eine Nummer eintätowiert, die auch 80 Jahre später noch zu sehen ist: B14665.

Am 18. Januar 1945 war von seiner Familie nur noch er übrig. Durch den hohen Schnee ging es auf den sogenannten »Todesmarsch«. Die sowjetische Armee rückte näher und die Nationalsozialisten ließen die Häftlinge durch eiskalte Nächte marschieren. Viele erfroren oder wurden erschossen. Avigdor kam ins Lager Gunskirchen, wurde Anfang Mai von der amerikanischen Armee befreit.

Zurück in der Heimat stellte sich heraus, dass auch seine ältere Schwester irgendwie überlebt hatte, alle anderen – sechs Familienangehörige – waren umgekommen.

Im Dezember 1947 kam er ins Land Israel, gründete eine Familie. Er hat zwei Kinder, sieben Enkel und einundvierzig Urenkel. Er sagt: »Das ist meine Rache an den Nazimördern.«

Inhaltsübersicht

00:00 - 03:35

Vorstellung

Mit 16 Jahren kam Avigdor Neumann ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina im Dezember 1947. Er besuchte eine Schule, ging dann zum Militär, wo er seine Frau kennenlernte. Mit ihr war er bis zu ihrem Tod 2018 63 Jahre lang verheiratet. Die beiden hatten zwei Kinder, sieben Enkel und vor Kurzem kam das einundvierzigste Urenkelkind dazu. Nach seinem Militärdienst wurde er Busfahrer und arbeitete sich ins Management hoch. Seine Geschichte als Holocaust-Überlebender wurde in der Familie lange Zeit nicht thematisiert. Avigdor Neumanns Frau stammte aus Palästina, teilte also seine Schoah-Geschichte nicht. 1996 kehrte er gemeinsam mit seiner Familie zu den Orten zurück, an denen er den Holocaust miterlebte. Seither erzählt er von seiner Geschichte, er sieht es als seine Verpflichtung, darüber zu berichten. Auch wenn er herzkrank ist und sich seine Familie Sorgen macht, ist sein Kalender voll mit Terminen, an denen er bei Veranstaltungen als Zeitzeuge auftritt.

03:35 - 06:37

Einmarsch der Deutschen und Ghetto

Geboren wurde Avigdor Neumann 1931 in Seulus, einer Stadt in der heutigen Ukraine nahe der ungarischen und rumänischen Grenze. Damals gehörte die Stadt zur Tschechoslowakei. 1937 kam er in die Schule. Nachdem zwei Jahre später Ungarn einmarschierte, änderte sich nicht nur das Schulsystem – die Schulsprache wurde ungarisch, Avigdor Neumann daher in die erste Kasse zurückgestuft – es begann auch die Zeit der antisemitischen Gesetzgebung. Im März 1944 geriet das Gebiet erneut in fremde Hände, als die Wehrmacht einmarschierte. Aus dieser Zeit wird er nun erzählen.

Das erste Gesetz der Deutschen verpflichtete die Juden, einen gelben Davidsstern auf ihrer Brust zu tragen. Wer damit auf die Straße ging, konnte sich nicht sicher fühlen und musste ständig Angst haben. Einige Wochen später klopften die deutschen Soldaten mitten in der Nacht an der Tür, ließ die Familie antreten und befahl ihnen, mitzukommen. Avigdor Neumann hatte ursprünglich sechs Geschwister, eines davon war schon vor der Deportation gestorben. Sein Vater wurde mit den anderen reichen Juden separat von der Familie mitgenommen. Er selbst kam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern ins Ghetto von Seulus. Dort gab es weder Betten noch Bettwäsche, und die Familie hatte keine Zeit gehabt, irgendetwas einzupacken, als sie in der Nacht geweckt wurden, nicht einmal Lebensmittel hatten sie. Hinzu kam, dass die Familie kaum Platz hatten im Ghetto.

06:37 - 14:14

Deportation nach Auschwitz-Birkenau

Nach ein paar Wochen im Ghetto kam der Befehl, dass sich alle bei der großen Synagoge einfinden sollten. Von dort wurden die Juden zum Bahnhof gebracht und nach Auschwitz gefahren. Hier passierte etwas Schreckliches: In der Menschenmenge wurde Avigdor Neumann von seiner Mutter getrennt. Bei sich hatte er eine Tasche voll Lebensmittel, die er als Proviant aus dem Ghetto mitgenommen hatte. Er sah, wir ein Polizist auf seine Mutter einschlug. Aus Schreck ließ er die Taschen mit dem Essen fallen. Später fehlte dieses Essen der Familie auf der Reise.

Am Bahnhof wurden 180 Leute in einen Waggon gedrängt. Sie bekamen kein Wasser, es gab keine Toiletten und es war sehr stickig. Aneinander gekauert waren sie so drei Tage und drei Nächte unterwegs und kamen in Auschwitz-Birkenau an. Die Türen zu den Waggons wurden geöffnet, und die Passagiere wurden unter Schlägen und Hundegebell herausgetrieben. Dann stellten sich die Menschen auf und warteten darauf, eingeteilt zu werden. Auf die rechte Seite kamen die arbeitsfähigen Männer, Frauen und Kinder wurden auf die linke Seite sortiert. Um die Menge zu beruhigen, wurde den Männern versprochen, am Sonntag, ihrem arbeitsfreien Tag, die anderen besuchen zu dürfen. In Wahrheit würden die Frauen und Kinder gleich darauf zu den Gaskammern marschieren.

Als Avigdor Neumann bei Josef Mengele, dem Lagerarzt des KZ angelangt war, erkannte er seinen Vater und einen Bruder bei den anderen Männern. Obwohl er erst zwölfeinhalb war, gab er an, 15 Jahre alt zu sein. Mengele fragte ihn, was er arbeiten könne. Er sei Mechaniker, log Avigdor Neumann. Mengele glaubte ihm und teilte ihn der rechten Seite zu. Sie wurden in ein großes Badehaus geführt, wo sie sich vollständig ausziehen mussten und stundenlang nackt auf ihr neuen gestreiften Kleider warteten. Unterwäsche und Socken bekamen sie nicht, an den Füßen trugen sie Holzschuhe. In der Baracke gab es dreistöckige, harte Holzpritschen. Die Bewohner litten unter Kälte, Nässe und Hunger. Morgens standen die Häftlinge stundenlang im Regen Appell. Aus den Schornsteinen der Krematorien schossen Flammen und schwarzer Rauch stieg auf.

Eine Gruppe erfahrener Häftlinge klärte die Neuankömmlinge auf, was sie dort sahen: »Du siehst die Flammen, das sind deine Mutter und deine Kinder. Dort ist schwarzer Rauch, das sind deine Geschwister.« Noch einige Tage war Avigdor Neumann mit seinem Bruder und seinem Vater im selben Ghetto, dann wurden diese nach Warschau Dachau verschleppt und dort ermordet. Die Jugendlichen in Auschwitz wurden in einen anderen Teil des Lagers verlegt. Dort hatten sie keine Namen mehr, stattdessen wurde ihnen eine Nummer tätowiert, mit der sie fortan gerufen wurden. Avigdor Neumann hält seinen Unterarm in die Kamera: B14665 war seine Nummer. Dann wurde ihnen Arbeiten zugewiesen. Avigdor Neumann sagt, er hatte eine »gute Arbeit«. Mit anderen Jagdlichen wurde er vor einen Wagen gespannt und musste diesen ziehen, eine Arbeit, die normalerweise Pferde verrichten. Die Gruppe wurde als »Scheißkommando« bezeichnet und musste Abfälle von den Latrinen wegkarren. Die tägliche Essensration bestand aus etwas Brot und einem Stück Käse oder Wurst. Morgens gab es einen »Tee« und ein wenig Suppe zum Mittagessen, insgesamt ca. 250 Gramm.

14:14 - 18:35

Selektionen und Transporte

Der Sonntag war offiziell Ruhetag. Dann kamen oft SS-Männer oder Capos, die betrunken waren und die Häftlinge verprügelten. An Rosch ha-Schana gab es eine Selektion. Wieder mussten die Gefangenen antreten und sich von Mengele begutachten lassen. Vierhundert Jugendliche wurden dabei »aussortiert« und in den Gaskammern umgebracht. Avigdor Neumann wurde für noch arbeitsfähig befunden und kehrte in sein Lager zurück.

Durch den Zaun zum Frauenlager konnte Avigdor Neumann mit seiner großen Schwester kommunizieren. Auch sie überlebte den Holocaust. Später sagte sie ihrem Bruder einmal, dass es für sie schrecklich gewesen sei, als er ihr eines Morgens zurief, er sei jetzt dreizehn Jahre alt. »Heute ist meine Bar Mizwa.«

An den Tagen nach der Selektion wurde Avigdor Neumann von verschiedenen Mädchen auf der anderen Seite des Zaunes nach deren Brüdern gefragt. Er wollte ihnen die Wahrheit nicht sagen und meinte nur, sie wären in einen Transport gekommen. Das beruhigte die Angehörigen, denn Transport bedeutete immerhin, dass man Auschwitz verließ. Diese Lüge sollte später zu ihm »wie ein Bumerang« zurückkommen, sagt er. An einem Morgen erschien nämlich seine Schwester nicht am Zaun und Avigdor Neumann erfuhr mit einem Schrecken, dass sie Teil eines Transports geworden war. Er glaubte, die Frauen wollten ihm verheimlichen, dass sie zu den Gaskammern gebracht wurde, so wie er ihnen nicht die Wahrheit gesagt hatte.

Die nächste Selektion fand an Jom Kippur statt. Avigdor Neumann war in schlechter Verfassung und wurde mit vielen anderen in einer Baracke eingesperrt, wo sie bis zum Abend auf ihre Fahrt zum Krematorium warten mussten. Dort geschah etwas, was niemals zuvor und niemals danach mehr vorgekommen war. Es ist unerklärlich, warum das geschah, sagt Avigdor Neumann. Er spricht von einem Wunder. Am Nachmittag betrat Mengele das Gebäude und suchte acht Jugendliche aus, die die Baracke verlassen durften. Avigdor Neumann war unter diesen acht. Die übrigen Jugendlichen wurden in der Nacht in einer Gaskammer ermordet.

18:35 - 21:57

Dem Tod entkommen

Auch an Simchat Tora gab es eine weitere Selektion. Wieder war Avigdor Neumann in einem schlechten Zustand und wurde, wie schon zuvor, in einer Baracke eingesperrt. Die Jugendlichen beschlossen, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Sie brachen Türen und Fenster auf, wurden allerdings sehr schnell gefasst. Da entschied die Lagerverwaltung, nicht bis zur Nacht zu warten, und befahl den Gefangenen, sofort zu den Krematorien zu marschieren. Dort angekommen, kam ihnen eine Gruppe von Häftlingen entgegen, die soeben die Gaskammern verlassen hatten. Keiner wusste, warum, doch Avigdor Neumann wurde mit den anderen Jugendlichen zurückgeschickt und entkam ein weiteres Mal dem sicheren Tod.

In den Krematorien wurden Juden in sogenannten »Sonderkommandos« beschäftigt, deren Aufgabe es war, de Toten von den Gaskammern in die Öfen zu überführen und deren Goldzähne zu entfernen. Alle paar Monate wurden die Mitglieder der Kommandos ermordet und ersetzt. So wollten die Nazis verhindern, dass sie zu viel wussten und davon erzählen konnten. Die Juden im Sonderkommando wussten davon, dass man sie bald »austauschen« würde und sprengten einen Teil des Krematoriums. Es wurde spekuliert, dass manche der Todgeweihten deshalb abgewiesen wurden. Avigdor Neumann zweifelt jedoch daran, dass das der einzige Grund war, denn es war üblich, dass Menschen außerhalb des Krematoriums verbrannt wurden, wenn es keinen Platz mehr gab. Sogar Kleinkinder wurden vor dem Gebäude lebendig verbrannt. Ein anderer Grund könnte sein, dass die Rote Armee schon sehr nahe an das Konzentrationslager herangerückt war.

Mengele kam zu ihnen in die Baracke und fragte sie, ob sie arbeiten wollten. Sie sagten »Jawohl, jawohl« und er entgegnete »Wenn nicht, dann mach’ ich euch alle aus!« – Sie waren diesen Umgangston mittlerweile gewöhnt.

21:57 - 26:28

Todesmärsche

Es war Winter geworden. Die Gefangenen trugen noch immer dieselbe dünne Kleidung, die sie bei ihrer Ankunft im KZ erhalten hatten und froren darin. Avigdor Neumann musste mit den anderen Jugendlichen Kartoffeln vom Bahnhof zu einem Platz schleppen und dort in der Erde vergraben, um sie vor dem Frost zu schützen. Die Wachmänner, die sie dabei beaufsichtigten, prügelten vor Langeweile immer wieder auf sie ein.

Im Januar 1945 kam der Befehl zum Todesmarsch. Die Temperatur war auf minus 25°C gesunken und es lag eine Menge Schnee. Die Soldaten drohten, die Zurückbleibenden zu erschießen. Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Menschen wurden so ermordet. Drei Tage und drei Nächte dauerte der Todesmarsch, der sie zu einem Bahnhof in einem Ort namens Althammer führte. Heute hat der Ort einen anderen Namen, sagt Avigdor Neumann. Mit den Waggons wurden sie nach Mauthausen in Österreich gebracht. Auf der Strecke von der Bahnstation bis zum Lager galt wieder: Wer zurückblieb, wurde erschossen. Erneut verloren viele Menschen ihr Leben.

Avigdor Neumanns Häftlingskarte wird eingeblendet. Im Lager angekommen, mussten die Gefangenen in der Kälte Appell stehen, wobei die Personalien aufgenommen wurden. Von dort wurden sie in eine unmöblierte Baracke gebracht, wo sie dicht an dicht auf dem Boden saßen. Später wurden sie in ein Zeltlager geführt. Die Zelte hatten keinen Boden, und sie setzten sich in die kalte und nasse Erde. Dann ein weiterer Todesmarsch von 60 Kilometern nach Gunskirchen. Nach drei Tagen und einem Großteil der Strecke waren sie in der Stadt Wels angelangt. Avigdor Neumann merkte, dass seine Kraft aufgebraucht war und er nicht mehr weitergehen konnte. Hier sei sein Leben zu Ende, dachte er sich. Wie er dort saß, kam ein SS-Mann mit gezogener Waffe auf ihn zu. Plötzlich stand Avigdor Neumann auf und schloss sich der Menge wieder an. Woher er diese Kraft nahm, wusste er nicht.

26:28 - 29:20

Endlich frei – und nun?

Gunskirchen lag tief im Wald und das Wetter war schrecklich. Außerdem wurde kein Essen ausgeteilt. Dieser Hunger sowie Typhus andere Krankheiten hatten zur Folge, dass minütlich Menschen starben. Selbstverständlich hatte die Baracke keinen Fußboden und war an den Seiten offen.

Auf einmal hörte Avigdor Neumann Geschrei und lauten Lärm. Die Menschen um ihn herum fragten sich, was passiert war. Wie sich herausstellte, waren die Deutschen weg, die amerikanische Armee hatte die Gefangenen befreit. Die Amerikaner waren sehr gut zu ihnen und teilten entlang der weiten Strecke von Lager bis zur Hauptstraße Lebensmittel aus. Tragischerweise starben manche Menschen jetzt vom Essen, da ihr Körper nicht mehr daran gewöhnt war.

Im Alter von 14 Jahren war Avigdor Neumann nun also befreit und musste keine Wachleute mehr fürchten. Ihm stellte sich jetzt die Frage, wohin er gehen sollte. Er wusste, dass seine Eltern tot waren. Seine große Schwester hielt er auch für tot. Er fing an zu verstehen, was eigentlich passiert war und wurde von Depressionen überfallen. Während der Zeit in den verschiedenen Lagern hatte er sich über solche Dinge keine Gedanken machen können. Dort beschäftigte er sich nur damit, was er als nächstes essen würde und wie er die Schläge des Wachpersonals vermeiden konnte, nicht mit dem, über das ein Kind normalerweise nachdenkt.

29:20 - 36:06

Neuanfang und Wiedersehen mit der Schwester

Avigdor Neumann ging zurück nach Wels. Die Stadt, in der er sein Leben aufgegeben hatte, war nun ein Ort des Neuanfangs für ihn. In Wels befand sich ein Lazarett, das von den Amerikanern betrieben wurde. Hier wurde er mit vielen anderen ehemaligen Gefangenen versorgt und gefragt, wohin er gehen wolle. Er bat darum, zurück nach Seulus gebracht zu werden. Avigdor Neumann glaubte zwar, seine Schwester sei tot, doch sie erfuhr von seinen Mitgefangenen davon, dass er auf dem Weg nach Seulus war. Um seine Ankunft nicht zu verpassen, ging sie jeden Tag zum Bahnhof, außer am Tag, an dem er tatsächlich zurückkehrte. Als er seine Schwester wiedersah, konnte er es nicht fassen. Seine siebzehnjährige Schwester war für ihn wie Vater und Mutter zugleich. Sie war es auch, die den Entschluss fasste, nach Palästina auszuwandern.

Zu der Zeit war die Region Mandatsgebiet der Briten, die keine Juden einwandern ließen. Die Hagana und die Jewish Agency brachten Auswanderer auf illegalem Wege nach Palästina. Voraussetzung dafür war, dass man Mitglied einer Partei oder religiösen Gruppe war. Avigdor Neumann schloss sich daher der Jugendorganisation Bnei Akiva an. In ganz Europa erlaubten nur Frankreich und Italien die Ausreise per Schiff mit Palästina als Ziel. In Marseille bestiegen sie mit 2600 anderen das Lastschiff Theodor Herzl. Nur bei Nacht konnten sie an Deck, da die Briten nach ihnen Ausschau hielten. Nach 13 Tagen auf See erreichte das Schiff Tel Aviv. Dort wollte die Besatzung zweier britischer Militärboote das Schiff kontrollieren. Die Passagiere wehrten sich jedoch dagegen, indem sie Konserven auf die Briten warfen. Ein Kampf entbrannte, bei dem Gasgranaten zum Einsatz kamen und drei Auswanderer erschossen wurden. Diese Leute hatten alles durch- und überlebt, was Avigdor Neumann bis hierher geschildert hat, und wurden dann so kurz vor ihrem Ziel ermordet – und das nicht von den Deutschen, sondern von britischen Soldaten.

Das Lastschiff wurde nach Haifa geschleppt, won wo die Auswanderer in Internierungslager in Zypern überführt wurden. Acht Monate wurden sie dort festgehalten. Am 29. November 1947 beschloss die UN, das Land unter Juden und Arabern aufzuteilen und das britische Mandat im Mai 1945 zu beenden. Zum Zeitpunkt seiner Entlassung war Avigdor Neumann 16½ Jahre alt. In Israel fanden schon Kämpfe gegen die Araber statt, als er dorthin gelangte.

36:06 - 40:33

Militärdienst und die Entscheidung, zu erzählen

Avigdor Neumann ging auf eine Jeschiwa, eine Tora-Schule für Männer. Ein Jahr darauf trat er freiwillig ins Militär ein und kämpfte im Befreiungskrieg, obwohl er noch nicht volljährig war. Im Dienst lernte er auch seine Frau kennen. Er kämpfte in den Kriegen von 1956, 1967 und im Jom-Kippur-Krieg 1973, wobei er verwundet wurde. Lange Zeit sprach Avigdor Neumann nicht über seine Vergangenheit, nicht einmal mit seiner Familie. Erst, als er gemeinsam mit seiner Familie das Lager besuchte, veränderte sich etwas in ihm und er begann zu erzählen: Vor seiner Familie, in Schulen, im Militär und bis zur Corona-Pandemie auch in Deutschland. Schließlich konnte Avigdor Neumann sogar seine Bar Mizwa bei einem Besuch in Auschwitz mit der israelischen Armee nachholen. Avigdor Neumann hat heute eine wunderbare Familie. Avigdor Neumann schließt seinen Bericht mit der Bitte, seine Geschichte weiterzugeben. Nur ein Volk, das nicht vergisst, kann verhindern, dass sich die Vergangenheit wiederholt. Das jüdische Volk ist nicht besiegt und wird niemals besiegt werden.

40:33 - 48:00

Nach dem 7. Oktober

Der Moderator fragt nach, wie Avigdor Neumann als Holocaustüberlebender mit den Ereignissen vom 7. Oktober umgeht, die den größten Pogrom an Juden seit dem Holocaust darstellen. Avigdor Neumann stellt klar, dass man den Terrorangriff allein nicht mit dem Holocaust gleichsetzen dürfe. Einen Tag lang fand ein Pogrom statt, bei dem Menschen auf ähnliche Weise misshandelt und ermordet wurden wie zur Zeit des Nationalsozialismus. Für einen Tag musste Israel erfahren, was sich im Holocaust jahrelang so abspielte. Doch sobald die Armee eingriff, hörte der Pogrom auf, das sei der Unterschied. »Wir sind nicht im Holocaust«, sagt Avigdor Neumann. Obwohl es ein sehr schrecklicher Tag war, der zum Krieg geführt hat, kann sich das jüdische Volk nun – anders als im Holocaust – vor seinen Gegnern schützen. Avigdor Neumann spricht zu allen, die Angehörige am 7. Oktober verloren haben oder noch vermissen bzw. selbst in den Händen der Hamas waren. Er selbst hat all das schon mitgemacht und versichert, dass sich alles zum Besseren wenden wird. Auch er kennt die Sorge um die eigenen Kinder von den Armeeeinsätzen seines Sohnes. »Seid nicht traurig«, spricht er seinem Volk zu.

Der Moderator erwähnt, dass Avigdor Neumann in seinem Vorgespräch erklärte, wie er die Dinge, von denen er erzählt, so noch einmal erlebt. Avigdor Neumann bestätigt, dass er, als er sich mit den befreiten Kindern traf, sehr gut verstehen konnte, wie sie sich fühlten. Er will ein Beispiel dafür sein, wie man das Leben genießen kann, auch wenn man schreckliche Dinge erlebt hat.