Vortrag (Englisch mit Übersetzung) am 27. Januar 2018 in Bad Liebenzell, Deutschland
Ben Lesser hat einen weiteren Vortrag in Nagold gehalten, davon gibt es eine weitere Aufnahme.
Ben Lesser wurde 1928 geboren. Zusammen mit vier Geschwistern wuchs er in Krakau (Polen) auf. Sein Vater hatte ein Lebensmittelunternehmen, doch beim Einmarsch der Deutschen wurde ihnen alles genommen. Um der Übersiedelung ins Ghetto zu entgehen, floh die Familie aufs Land, wo sich der Vater eine kleine Existenz als Bäcker aufbaute. Aber auch dort waren sie nicht lange sicher, so dass ihnen nur der Umzug ins Ghetto Bochnia blieb, wo sich immer wieder schreckliche Szenen abspielten. Einem Teil der Familie gelang die Flucht, doch die Eltern wurden verraten und getötet. Die nächste Station von Ben Lesser war Ungarn. Als die Deutschen auch in Ungarn einmarschierten, folgte im Mai 1944 die Deportation nach Auschwitz.
Bei der Ankunft in Auschwitz beobachtete Ben Lesser die Vorgänge genau und bewahrte damit sich und mehrere Angehörige vor den Gaskammern. Als die Sowjets vorrückten wird Auschwitz im Januar 1945 evakuiert. Zusammen mit seinem Cousin Isaac begab er sich auf den Todesmarsch Richtung Westen. Ihr langer Weg über das KZ Buchenwald endete schließlich in Dachau. Für seinen Cousin kam jedoch jede Hilfe zu spät. Er war so schwach, dass er kurz nach der Befreiung starb. Somit überlebten die Shoa von der ganzen Verwandtschaft nur Ben Lesser und seine Schwester Lola, die er in einem Krankenhaus wiederfand.
Ben Lesser emigrierte nach Kriegsende in die USA, wo er zusammen mit seiner Frau Jean und zwei Töchtern lebte. Viele Male war Ben Lesser dem Tod sehr nahe. Dass er als einer der wenigen alle Leiden übererlebte, war für ihn ein Fingerzeig Gottes, dass er ihn als Zeugen brauchte. Er veröffentlichte später ein Buch und hielt Vorträge. Darüber hinaus gründete er eine Stiftung und gründete die Campagne »I shout out«, die auch heute noch ein Zeichen gegen Gewalt und Vorurteile setzen will.
Link zur Stiftung von Ben Lesser https://www.zachorfoundation.org/
Link zur Kampagne "I shout out": https://www.i-shout-out.org/
Autobiographie von Ben Lesser: Living A Life That Matters -from Nazi Nightmare to American Dream, Taschenbuch 370 S., Sprache Englisch, ISBN 978-1458202727
Ben Lesser begrüßt die Zuhörer und bedankt sich bei allen, die an der Vorbereitung dieser Veranstaltung beteiligt waren. Er ist gekommen, um über eine Zeit zu berichten, als die Menschheit ihre Menschlichkeit verlor. Eine Zeit, in der es drei Arten von Menschen gab: die Mörder, die Opfer und die Zuschauer. Der größte Teil der Welt sei Zuschauer gewesen, meint Lesser.
Er selbst hat die letzten 25 Jahre der Aufgabe gewidmet, über das Geschehene zu sprechen. Viele der Überlebenden könnten das nicht, weil es sie emotional zu sehr belaste. Auch er habe vor und nach den Auftritten schlaflose Nächte. Aber jemand muss es ja tun, sagt er.
Die Zuhörer vor ihm werden wahrscheinlich die letzte Generation sein, die Zeitzeugen und ihre Lebensgeschichte noch selbst hören und erleben können. Er wünscht sich, dass sie ihren Kindern und Enkelkindern von diesen Begegnungen erzählen. Zur Erinnerung an den Holocaust hat Ben Lesser die Stiftung »Zachor Holocaust Remembrance Foundation« gegründet. Er verlange nicht von den Zuhörern, dass sie die Anstecknadel, die sie am Eingang bekommen haben, tragen. Aber wenn sie sie in einer Schatulle oder anderswo aufheben würden, und die Kinder oder Enkelkinder sehen sie eines Tages und fragen, was das sei, dann könnten sie ihnen die dazugehörende Geschichte erzählen. Die Welt dürfe den Holocaust nicht vergessen, und Ben Lesser sieht es als seine Aufgabe, dazu beizutragen.
Die Nationalsozialisten begannen nicht damit, Tötungsaktionen durchzuführen, das dürfe man nicht vergessen, so Ben Lesser. Sondern alles begann mit Hass und mit Hasspropaganda. Und jeder sei dazu aufgerufen sich dem entgegenzustellen. Sowohl Hass als auch Liebe seien ansteckend, und Ben Lesser bittet die Zuhörer, die Liebe zu wählen.
An der Wand erscheinen Bilder von Ben Lessers Eltern und Geschwistern. Außer einer Schwester und ihm hat niemand aus der siebenköpfigen Familie den Holocaust überlebt, alle wurden sie bestialisch ermordet. Seine ältere Schwester Lola, die vor wenigen Jahren hochbetagt gestorben ist, war in keinem Konzentrationslager. Mithilfe falscher Papiere konnte sie sich in Budapest versteckt halten. Ben Lesser berichtet, dass er 1928 in Krakau (Polen) geboren wurde. Dabei zeigt er ein Bild des Wohnhauses seiner Familie.
Im November 1939 erreichte der Krieg Krakau. Ben Lesser erinnert sich an den Moment, als alles zu vibrieren begann. Er schaute aus dem Fenster, dabei sah Panzer einrollen, und wie alle paar Meter Soldaten von den Militärfahrzeugen absprangen. Am fünften Tag der Besetzung hielt morgens um fünf Uhr ein Fahrzeug vor ihrem Haus. Es wurde an die Tür geklopft und der Hausmeister öffnete. Als die Deutschen wissen wollten, wo die jüdischen Familien wohnten, antwortete er dienstbeflissen und zeigte ihnen die Wohnungen.
Die Soldaten stürmten in ihre Wohung, wo sie noch in den Betten lagen. Sie wurden aufgefordert, alle Wertsachen abzugeben. Seinen Vater schlugen sie, damit er den Safe öffnet.
Die zweite jüdische Familie in der Wohnung nebenan hatte zwei Töchtern im Alter von Ben Lesser, dazu noch einen kleinen Jungen im Alter von zwei Monaten. Es gab ein fürchterliches Geschrei in deren Wohnung. Zusammen mit seiner Schwester Lola gelangte er über die Küchentüre in den Innenhof. Von dort aus beobachtete er, wie das Monster, das in deren Wohnung eingedrungen war, das kleine schreiende Baby an den Füßen hielt und es durch die Luft schwang. Dabei schrie er die Mutter an, sie solle es zum Schweigen bringen. Die Mutter selbst schrie völlig verzweifelt, er solle das Baby in Ruhe lassen und es nicht verletzen. Aber Ben Lesser sah am strahlenden Gesicht des Soldaten, wie er sich an dem Entsetzen der Mutter ergötzte. Schließlich schleuderte er das Baby mit voller Wucht gegen den Türpfosten und tötete es. Die Mutter wurde ins Krankenhaus gebracht, wo sie zwei Wochen später starb. Ben Lesser weiß nicht, ob die Schläge der Soldaten oder das gebrochene Herz der Grund für ihren frühen Tod waren. Und das war erst der Anfang, es war der fünfte Tag nach dem Einmarsch.
Danach entwickelten sich die Dinge ganz schnell. Alle Juden mussten einen Judenstern tragen. Außerdem mussten sie ihre Ausweise abgeben. Im Gegenzug bekamen sie neue, mit einem »J« gekennzeichnete Pässe. Sein Vater hatte ein Wein- und Sirupunternehmen, außerdem war er der erste in Polen, der schokoladenüberzogene Waffeln hergestellt hat. Als er zu seiner Fabrik kam, standen Wachleute davor. Man ließ ihn nicht mehr hinein, nicht einmal seine Brieftasche durfte er mehr holen. Alles hatten die Deutschen konfisziert.
Der nächste Schritt war, dass die Juden ihre Wohnungen verlassen mussten. Sie mussten entweder ins Ghetto übersiedeln oder wegziehen. Seine Schwester Lola war zu diesem Zeitpunkt mit einem jungen Mann zusammen. Die beiden planten zu heiraten. Ihr Verlobter kam zum Vater. Er bat den Vater inständig, dass er sich mit seiner Familie ihm anschließt. Er würde auch alles arrangieren.
Es stellte sich heraus, dass der Vater 1000 US-Dollar für schlechte Zeiten angespart hatte. Das war damals sehr viel Geld. Er versteckte das Geld in einem religiösen Buch, das sie zusammen mit anderen Gegenständen bei ihrem Wegzug mitnahmen. Als sie unterwegs nach Niepolomitz (Anm.: Polnisch Niepolomice) waren, wurden sie gestoppt. Zwei kräftige deutsche Soldaten sprangen auf ihren Wagen und alles, was sie wissen wollten, war, ob sie religiösen Bücher dabei hätten. Lola nahm mutig die Bücher und ging zu dem einen Nazi. Sie erklärte ihm, dass ihr Vater ein Autor sei, und gerade dieses Buch – seine Biographie – ihm sehr viel bedeute. Sie bat ihn, doch dieses eine Buch mitnehmen zu dürfen. Tatsächlich gab ihnen der Soldat fünf Minuten, um die Säcke zu durchstöbern. Aber weil die Bücher alle in dunkles Leder gebunden waren und ähnlich aussahen, konnten sie es nicht finden. So standen sie als siebenköpfige Familie völlig mittellos da.
Der zukünftige Schwiegersohn brachte seinem Vater einen Sack Mehl. Denn in dem Haus, wo sie nun wohnten (von dem er ebenfalls ein Bild dabeihat), gab es einen Ofen. Er dachte, so könnten sie Brot für sich backen. Das Gesicht des Vaters hellte sich auf, als er das Mehl sah. Doch statt Brot hat er Brezeln gebacken, denn dafür braucht man nur Wasser, Mehl und Salz. Die Brezeln, die dort eine Neuheit waren, hat er in der Nachbarschaft verkauft. Von dem Geld konnte dann Brot für die Familie kaufen. Das Geschäft entwickelte sich gut, und er wurde schnell zum Bäcker des Ortes. Er erinnerte sich an Rezepte und trug sie zusammen. Sein Sohn Ben half ihm bei der Arbeit. Doch leider dauerte diese Zeit nicht lange.
Wenige Zeit später heiratete Lola. Nach sechs Monaten fanden sie heraus, wo sie lebte. Es war ein Zweifamilienhaus, in dessen anderer Hälfte der Bürgermeister des Ortes wohnte. Eines Tages warnte er Lola. Er sagte zu ihr: »Flieh! Ich habe gehört, dass es heute oder morgen eine Razzia geben wird. Lolas Mann Michael konnte noch in der Nacht einen Pferdewagen finden, der sie dann wegbrachte.
Ben Lesser zeigt ein Bild von der Hochzeit seiner Schwester. Die Tragödie dieses Bildes ist, dass von der ganzen Hochzeitsgesellschaft nur das Ehepaar und er selbst überlebten. Alle anderen wurden umgebracht.
Nun waren sie wieder auf der Flucht, diesmal in das berüchtigte Ghetto Bochnia (Anm.: Deutsch Salzberg). An diesem Ort fuhren immer wieder nachts Laster durch die Straßen, die die Kinder einsammelten und unter dem lauten Geschrei sowohl der Kinder als auch der Eltern weggebrachten. Verzweifelte Eltern, die hinter den Lastwägen herliefen, wurden mit Maschinengewehren vor den Augen der Kinder erschossen. Niemand hat diese Kinder jemals wieder gesehen oder etwas von ihnen gehört. Man kann sich nur vorstellen, was mit ihnen passiert ist.
Seine Familie hatte keine andere Wahl, als in das Ghetto umzuziehen. Dort mussten sie sehr schwer arbeiten, denn ohne Arbeit gab es nichts zu essen. Seine Aufgabe als Zwölfjähriger war es, Knöpfe an Uniformen anzunähen. Zu zwölft hausten sie in einem Zimmer. Geschlafen haben sie auf dem Boden auf Stroh, zwischen den Schlafplätzen der Familien waren Tücher als Abtrennung aufgehängt.
An der Wand wird ein Bild vom Aufstand gezeigt, das Ben Lessers Schwester Lola in den 1950ern aus der Erinnerung gemalt hat. Sie selbst hatten gehört, dass es wieder eine Razzia geben sollte, weshalb sie ein Versteck suchten. Sie fanden einen Garderobenschrank, mit einem Loch in der Rückwand. Es sei zwar kaum zu glauben, aber dort haben sie sich zu zwölft zwischen den Kleidern versteckt. Die ganze Nacht hindurch drang von draußen Geschrei und Hundegebell zu ihnen durch.
Als sie am nächsten Morgen wieder aus dem Versteck herauskamen, lagen überall tote Körper verstreut, darunter Mütter, die noch ihre Babys im Arm hielten. Einige, die überlebt hatten, waren dabei, die Leichen einzusammeln.
Sie wussten, dass Lola und ihr Mann sich unter dem Hundezwinger verstecken wollten. Dort gab es ein tiefes Loch, in dem sieben Personen Platz hatten. Aber als Lola und ihr Mann zu dem Versteck kamen, war es schon voll besetzt. Den beiden blieb nichts anderes übrig als wegzulaufen. Später erfuhren sie, dass sich Michaels ganze Familie dort versteckt hatte. Weshalb das Versteck unter dem Zwinger entdeckt wurde weiß man nicht – vielleicht waren es die Hunde, die sie gewittert und verraten hatten – jedenfalls wurde Michaels gesamte Familie in diesem Versteck erschossen.
Es gelang ihnen aus dem Ghetto zu fliehen. Aber zu erzählen, wie sie das schafften, würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Ben Lesser verweist hier auf sein Buch, in dem er alles genau schildert, und berichtet nur ganz kurz von dem Kohlewagen, wo es zwischen Karosserie und Laderaum ein Versteck für 10 Personen gab. Für das Herausschmuggeln aus dem Ghetto wurde sehr viel Geld verlangt. Er selbst konnte auf diese Weise mit seinem kleinen Bruder sowie Lola und ihrem Mann fliehen. Doch als seine Eltern über die Grenze nach Tschechien gebracht werden sollten, wurden sie von einem Nachbarn verraten. Dieser verständigte die Gestapo und alle Personen wurden vom Laster geholt. Zusammen mit dem Fahrer, der kein Jude war, stellte man sie in einer Reihe auf und erschoss sie.
Eine Schwester von ihm, Goldie, wohnte zu der Zeit bei den Großeltern mütterlicherseits in Mohatsch (Ungarisch Mohács). Auch sie wurden dort von der Familie herzlich aufgenommen. Sie alle warteten in Mohatsch auf ihre Eltern, die nie kamen. Was mit ihnen passiert war, haben sie erst später erfahren. Das Leben in dieser Stadt ging weiter wie zuvor – die Kinder besuchten die Schule, die Leute gingen aus und besuchten Tanzveranstaltungen. Als sie erzählten, was in Krakau und anderswo vor sich ging, schenkte man ihnen kaum Glauben.
Dadurch, dass Ungarn mit Deutschland verbündet war, rechnete niemand damit, dass die Deutschen in Ungarn einmarschieren würden. Und doch marschierten sie im März 1944 geradewegs in Ungarn ein. Als die Deutschen Ungarn besetzten, wussten sie, wo die Juden geboren waren, wo sie lebten, welche Ausbildung sie hatten. Sie hatten ihre Namen, alles war ihnen bekannt – und das ohne moderne Computer. Vermutlich halfen ihnen dabei Stechkarten von IBM, was der Konzern nie leugnete. Aber die Verantwortlichen verweisen darauf, dass sie nicht wussten, was die Nazis mit den Daten machten.
Ben Lesser hinterfragt den völlig unlogischen Vorgang, dass ein Land, das gerade dabei ist einen Krieg zu verlieren, Soldaten von der Front abzieht, um ein verbündetes Land zu besetzen. Die Antwort seien die 850.000 jüdischen Bürger Ungarns gewesen. Hitler sei es zu diesem Zeitpunkt offensichtlich wichtiger gewesen, die Juden zu vernichten, als den Krieg zu gewinnen.
Bereits vier Wochen nach dem Einmarsch wurden die Juden in die Todeslager abtransportiert. Man sagte ihnen, dass sie nach Deutschland umgesiedelt werden. Die arbeitsfähigen Männer und Frauen würden dort Arbeit bekommen und die Kinder zur Schule gehen. Auch um die Älteren würde man sich kümmern, lautete das Versprechen. Sie sollten nur das mitnehmen, was sie tragen konnten, und alles andere zurücklassen. Jeder, der versuche etwas zu verstecken, würde erschossen werden.
Sie wurden in eine Ziegelfabrik mit Bahnanschluss gebracht, wo schon die Viehwaggons auf sie warteten. Immer 82 Menschen wurden in einen Waggon gepfercht. Es war eine schreckliche Enge – wenn jemand hinsitzen wollte, mussten andere dafür aufstehen. Im Waggon gab es keine sanitären Einrichtungen, sondern nur zwei Wassereimer, die als Toiletten dienten, und die innerhalb kürzester Zeit voll waren. Nach zwei Tagen waren sie froh, dass sie etwas Gepäck dabei hatten, auf das sie sitzen konnten, denn der Boden war zwischenzeitlich mit Fäkalien bedeckt.
Am dritten Tag fuhren sie an Auschwitz vorbei. Aber sie hielten nicht, sondern fuhren noch ein Stück weiter. Als der Zug hielt, sahen sie ein Schild mit der Aufschrift »Arbeit macht frei«. Zwei Stunden standen sie da, bevor der Zug nochmals ein Stück weiter nach Birkenau fuhr. Birkenau war der Ort, wo selektiert wurde, doch davon hatten sie ja keine Ahnung. Als das Tor geöffnet wurde, befahl man ihnen: »Frauen und Kinder auf die rechte Seite und die Männer nach links.« Ben Lesser hielt seinen kleinen Bruder und Goldie mit je einer Hand fest. Aber man riss sie gewaltsam auseinander – er sah die beiden nie wieder.
Bei der Ankunft in Auschwitz stand vor ihnen ein Mann in weißem Anzug und mit weißen Handschuhen, der wie ein Arzt aussah. Er bewegte immer seine Finger rechts und links, wir haten keine Ahnung, was das bedeutete. Als sie mit der Schlange näher rückten, bekamen sie mit, wie ein junger Mann gefragt wurde, ob er fünf Kilometer gehen könne oder lieber mit dem Laster transportiert werden wolle. Der etwa 19-Jährige gab zur Antwort, dass er Knieprobleme habe, und lieber mit dem Lastwagen fahren würde, woraufhin ihn der Mann im weißen Anzug nach rechts schickte.
Ben Lesser war damals zwar erst 15 ½ Jahre alt, aber er hatte ein Gespür dafür, dass etwas nicht stimmte. Außerdem verstand er recht gut Deutsch. Seine Verwandten ermahnte er, dass sie – egal, was der Mann sie fragen würde – zur Antwort geben sollten: »Ja, wir können laufen. Und ja, wir können arbeiten.« Er schaute, dass er selbst als Erster drankam. Als er an der Reihe war, salutierte er, stellte sich aufrecht hin und sagte: »18 Jahre alt, gesund und arbeitsfähig.« Der Mann fragte ihn, ob er fünf Kilometer laufen könne. Darauf antwortete er: »Jawohl.« und wurde auf die linke Seite geschickt. Auch sein Onkel, sein Cousin und Michael kamen auf die linke Seite. Sie bekamen Nummern, die bei ihnen aber nicht eintätowiert wurden. Dann wurden sie in die Baracken geschickt.
In jeder Baracke gab es einen Stubenältesten, der sie mit den Worten begrüßte: »Wenn Ihr ungarischen Juden denkt, ihr seid auf Urlaub hier, dann schaut Euch die Asche an, die aus dem Kamin kommt. Das sind eure Mütter und Väter, Brüder und Schwestern, und wenn ihr nicht genau das macht, was man euch sagt, dann werdet ihr so enden wie sie.
In Auschwitz hat Ben Lesser schreckliche Dinge erlebt, die er nicht alle ausführlich schildern kann. Zwei Wochen lang wurden sein Onkel, sein Cousin und er gefoltert und anschließend in ein Arbeitslager in einem Steinbruch gebracht. Es war sehr harte Arbeit. Nach den Sprengungen mussten sie die Steinblöcke mit Werkzeugen bearbeiten. Sie mussten sie in Karren verladen und hochschieben. Nach der Arbeit mussten sie sich immer zu fünft aufstellen und wurden abgezählt. Danach bekamen sie ihre Ration und gingen zurück in die Baracken.
Eines Tages mussten sie sich nach der Arbeit wieder aufstellen. Sie wurden gezählt, nochmals gezählt und wieder gezählt. Etwas stimmte nicht – drei Lag Insassen waren entkommen. Da trat der Kommandant mit seinem Fräulein vor uns sagte: »Euch Schweinehunden werde ich zeigen, wie das hier läuft.« Er ließ sie in einer Reihe aufstellen und rief den Henker herbei, der jeden zehnen liquidieren sollte. Als sie zu zählen begannen sah Ben Lesser, dass sein Onkel auch eine Nummer zehn sein würde. Deshalb befahl er ihm, sich hinter ihn zu stellen, so dass er seinen Platz einnahm.
Alle mit der Nummer zehn wurden in die Mitte des Hofes gerufen. Dort stellte man einen Sägebock und ihnen befahl, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, den Holzbalken zwischen die Beine zu nehmen, ohne die Spitze zu berühren. Einer musste dann die Hosen runterziehen und ein anderer hat zugeschlagen. Die Opfer mussten mitzählen. Wenn sie sich verzählten, mit dem Bauch das Holz oder mit den Fersen den Boden berührte, mussten sie wieder bei null anfangen.
Ben Lesser war die Nummer vier. Als der erste geschlagen wurde, sah man wie bei jedem Schlag ein Blutstrahl durch seine Hose sickerte. Vor lauter Schmerzen verzählte er sich, so dass die Schläge wieder bei null anfingen. Und als er sich vor Schmerzen krümmte und das Holz berührte, fing wieder alles von vorne an. Irgendwann brach er zusammen. Als er auf dem Boden lag, trat ihm der Kommandant mit seinem Stiefel ins Gesicht und befahl ihm aufzustehen. Doch der Mann konnte nicht mehr aufstehen. Da zog der Kommandant seinen Revolver und erschoss ihn. Sein Fräulein ging darauf hin zu ihm, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss, gleich als ob er eine große Heldentat vollbracht hätte.
Der Nummer zwei ging es gleich wie dem ersten, derselbe Vorgang wiederholte sich. Der dritte war ein junger Mann, der um Gnade flehte und den Kommandanten bat, ihn nicht umzubringen. Der Kommandant rief ihn zu sich her. Doch nach drei Schritten gaben seine Beine nach und er wurde gleich erschossen. Da lagen nun drei tote Körper auf dem Boden, und der nächste in der Reihe war Ben Lesser. Er weiß nicht mehr genau, wie er das gemacht hat. Aber er stellte sich auf Zehenspitzen und nahm den Sägebock zwischen die Beine. Als die Schläge begannen schrie er: »Eins, zwei, drei,….« Als er tatsächlich bei der Zahl 25 ankam, sagte der Mann, der ihm die Hose stramm gehalten hatte, er solle sich beim Kommandanten bedanken. So ging er zu ihm hin, salutierte vor ihm und sagte: »Dankeschön Herr Kommandant.« Dieser packte ihn am Genick, drehte ihn zu den anderen Abgezählten um und sagte zu ihnen, dass sie nichts zu befürchten hätten, wenn sie es so wie er machten. Er habe doch gesagt, dass man das schaffen kann, und sie sollten sich ein Beispiel an ihm nehmen.
In dem Augenblick hörten sie einen Aufruhr am Tor, wo man die drei Flüchtigen blutüberströmt herbeibrachte. Als der Kommandant das sah, verlor er – wie ein Kind an einem Spielzeug– das Interesse an den Abgezählten. Er ließ mobile Galgen herbeiholen, wo die Flüchtigen einzeln aufgehängt wurden. Sie mussten das alles mit ansehen.
Er selbst konnte mehrere Wochen lang nicht mehr auf dem Rücken liegen, weil alles so stark geschwollen war. Nach ungefähr drei Monaten hörten sie nachts Kanonenfeuer. Am nächsten Morgen gab es den Befehl, dass das Lager evakuiert würde und heute keiner zur Arbeit gehe.
Das war der Tag, als der Todesmarsch begann. Er hielt seinen Cousin fest an der Hand, während sie sich aufstellten. Der Onkel arbeitete zu der Zeit in der Küche, so dass sie sich nicht mehr von ihm verabschieden konnten. Was mit ihm passierte, haben sie nie erfahren.
Man nannte diese Märsche »Todesmärsche«, weil jeder, der mit den Soldaten nicht Schritt halten konnte, erschossen wurde. Das Geräusch der Gewehre, wenn die schwachen Häftlinge erschossen wurden, war ein ständiger Begleiter.
Als sie zwei Wochen unterwegs waren, setzte sein Cousin sich in den Schnee und sagte zu ihm: »Lass mich hier sitzen, ich kann nicht mehr.« Die anderen sollten an ihm vorbei gehen, es war ihm egal, wenn er erschossen würde. Doch Ben Lesser ließ das nicht zu und befahl ihm, er solle sich bei ihm einhängen. So hat er ihn eine Woche lang mitgeschleppt, bis sie an einen Ort namens Buchenwald kamen.
Dort zählte man sie. Ihnen wurde gesagt, dass sie sich duschen und dann in die Baracken gehen sollten. Sie würden frische Kleider bekommen, und am nächsten Morgen um halb neun müssten sie bereit zum Abmarsch sein, da auch Buchenwald evakuiert würde.
Am nächsten Morgen wurden sie aus dem Lager getrieben. Draußen warteten wieder die Viehwaggons. Ben Lesser schob seinen Cousin vor uns sagte zu ihm, er solle für sie einen Platz an der Wand reservieren. Denn bei der Deportation nach Auschwitz hatte er sich in der Mitte des Waggons befunden, und es war schrecklich mit all den Menschen um ihn herum.
Dem Cousin gelang es tatsächlich, zwei Plätze an der Hinterwand zu bekommen. Doch als die Tür geöffnet und die Essensration gebracht wurde – ein Brot für jeden – schnappten sich die Menschen vorne vier fünf Brote. Sie selbst standen ganz hinten und gingen leer aus. Weil sie nicht wussten, wie lange die Fahrt dauern würde, beschloss er, für sie Brot zu besorgen. Sein Cousin war zu krank, er konnte ihm dabei nicht helfen. Ben Lesser begann über die Köpfe hinweg zur Tür zu krabbeln. Einer muss ein Taschenmesser dabeigehabt haben. Er stieß damit gegen Ben Lessers Kiefer. Der zuckte zwar zusammen und schmeckte Blut im Mund, aber er konnte nicht stoppen, er musste weiter. Vorne kam er zu einem Mann mit fünf Brotlaiben. Obwohl der ihm ins Gesicht schlug, gelang es ihm, ein Brot zu entwenden.
Als er wieder zu seinem Cousin kam, meinte der, dass er blutüberströmt sei. Als er sich an die verletzte Stelle fasste, konnte er durch den Kiefer bis zur Zunge durchgreifen. Er versteckte das Brot unter seiner Jacke. Immer nachts, wenn ihn niemand sah, brach er davon ein Stück, das in etwa so groß war wie ein halbes Ei, davon für sich und seinen Cousin ab. Das ging zwei Wochen so. Woher er die Beherrschung nahm und sich nicht vom Hunger überwältigen ließ, das weiß er selbst nicht. Aber wenn ihn jemand bemerkt hätte, dann wäre er für das Brot umgebracht worden. Nach zwei Wochen war auch ihr Brot aufgebraucht. Danach hat es nochmals eine Woche gedauert, bis sie in Dachau angekommen sind.
Dort wurde die Türe aufgemacht und man sagte ihnen, dass alle, die laufen könnten, über die Schienen zum Lager gehen sollten. Von den 82 Insassen, die man in Buchenwald in den Waggon gepfercht hatte, konnten noch vier oder fünf noch aussteigen und den Waggon verlassen. Er und sein Cousin waren zwei von ihnen. Das erste, was sie im Lager sahen, war ein riesengroßer Leichenhaufen. Wie er später erfuhr, waren es von den 3.000 Menschen, die man von Buchenwald nach Dachau transportiert hat, nur 18, die noch aus den Waggons aussteigen konnten. Heute ist er der einzige, der von diesem Transport noch am Leben ist.
Drei Tage später hörten sie die Worte »Befreiung, Befreiung. Die Amerikaner!«
Dann wurde das Lager wurde von den Amerikanern befreit. Ein amerikanischer Soldat öffnete eine Konservendose, und es roch so gut. Da machten sie den Fehler davon zu essen. In der Nacht nach der Befreiung starb sein Cousin in seinen Armen. Die Soldaten kamen und nahmen ihn mit. Ben Lesser wollte folgen, aber seine Beine waren zu schwach. Er fiel zu Boden und man schob ihn zur Seite. Nach einer Weile stellte sich ihm ein Mann im Anzug vor. Es war ein jesuitischer Priester, der mit Nonnen, Krankenschwestern und Ärzten ins Lager gekommen war. Der Priester sagte zu ihm, dass es in der Besatzungszone ein Lazarett gebe, wohin er ihn mitnehmen würde. Er hob Ben Lesser auf und legte ihn über seine Schulter. Er war da nur noch ein Bündel Knochen, das 32,5 kg wog.
Einige Sätze, die der Priester zu Ben Lesser sagte, wird dieser nie vergessen. Er meinte, sie (die Häftlinge) hätten einen schrecklich hohen Preis dafür bezahlen müssen, dass sie als Juden geboren worden waren. Aber er solle nie vergessen, dass das eine edle Religion sei. Das 1945 von einem jesuitischen Priester zu hören war äußerst bemerkenswert.
Man brachte ihn ins Krankenhaus, wo man ihm den Blutdruck maß und eine Spritze gab. Er wurde bewusstlos und wachte erst nach zweieinhalb Monaten wieder im Kloster St. Ottilien bei München auf.
Letzten Endes überlebte er, wofür er dankbar ist. So dass er auch heute hier stehen zu den Besuchern sprechen kann. Bevor er zur Fragerunde übergeht, bittet Ben Lesser die Zuhörer, sich an den Händen zu fassen und 3x die Aussage »Never again« (niemals wieder) zu wiederholen.
Immer wieder fragen ihn Menschen - vor allem Schüler*innen - was sie denn tun könnten, um diese Welt zu verbessern. Gleichzeitig meinen sie, sie seien doch nur eine/einer oder jedenfalls wenige. In dem Zusammenhang macht Ben Lesser auf die Stiftung aufmerksam, die er gegründet hat. Er verweist auf die Website der Kampagne »I shout out« (https://www.i-shout-out.org/ ) und betont wie wichtig es ist nicht zu schweigen. Diese Website bietet eine Möglichkeit, um die Stimme zu erheben und ein Zeichen zu setzen. Denn das war das größte Problem während der nationalsozialistischen Herrschaft, dass so viele Menschen einfach geschwiegen haben. Sein großer Wunsch ist es, dass auf dieser Plattform 6 Millionen Menschen ihre Stimme gegen Rassismus, Vorurteile und mehr erheben – symbolisch für die 6 Millionen zum Schweigen gebrachten Stimmen der Juden.
In der Fragerunde äußert Ben Lesser, dass er die Stolpersteine für ein schöne Art des Gedenkens hält, die er sehr schätzt.
Auf die Frage, wie er seine Erlebnisse und Erinnerungen verarbeitet habe, antwortet er, dass sie ihm in seinem Leben viele schlaflose Nächte bereitet haben. Gerade wenn er Vorträge hält, beschäftigt ihn das Thema in den Nächten vorher und nachher sehr stark. Alpträume plagen ihn. Aber er sagt, jemand muss es tun. Es sind so wenige übrig, die diese Aufgabe (noch) übernehmen und von dem Schlimmen berichten können. Deshalb hat er ihr sein Leben gewidmet.
Zum Schluss wird er gefragt, was ihm den starken Überlebenswillen gegeben hat. Da sagt Ben Lesser, dass er sich diese Frage selbst oft gestellt hat. Die Antwort, die er darauf gefunden hat, ist, dass er glaubt, dass Gott einen Zeugen brauchte und er ihn deshalb am Leben erhielt. Nicht jeder konnte darüber reden. Es gab andere Überlebende, denen es unmöglich war, über das Leiden zu sprechen. Es tut ihnen einfach zu sehr weh, ihre Geschichte zu erzählen.