Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Dan Lavi

Interview am 28. September 2022 in Maalot, Israel

Dan Lavi war 11 Jahre alt, als der Staat Israel 1948 gegründet wurde. Er erzählt von dieser Zeit, aus seinem Leben, vom Militär. Er betont die Motivation, die ihn und viele Israelis antreibt: Wir machen weiter – trotz aller Kriege und Krisen. Lavi ist Heimbewohner im Altenpflegeheim von Zedakah in Maalot.

Dan Lavi erzählt aus der Zeit der Staatsgründung und von der Verteidigung Israels.

Inhaltsübersicht

00:00 - 00:57

Vorstellung

Dan Lavi stellt sich im Interview als »Dani« vor. Geboren wurde er 1937 in einem Kibbuz zwischen Haifa und Akkon. Die Menschen lebten dort in Zelten. Strom- und Telefonanschluss gab es ebenso wenig wie befestigte Straßen, und Wasser musste von Brunnen geschöpft werden.

00:57 - 04:47

Geschichte des jüdischen Volkes

Die gemeinsame Lebensgeschichte des jüdischen Volkes, sagt er, ist in jedem einzelnen seiner Angehörigen verankert. Diese Geschichte nahm ihren Anfang vor 3300 Jahren, als sein Volk den Jordan ins verheißene Land überquerte. Auch wenn sie über zweitausend Jahre in der Diaspora waren, kehrten die Juden immer wieder dorthin zurück. Dan Lavi sagt, dass bei alldem die Bibel eine große Rolle spielt, da in ihr die jüdische Tradition festgehalten ist. Die jüdische Geschichte ist davon geprägt, dass das Volk ständig ums Überlegen kämpfen musste, ob unter den Königen des alten Testaments, unter Judas Makkabäus oder im Dritten Reich. Mit der Ausrufung des Staates Israel durch David Ben Gurion am 15. Mai 1948 begann eine neue Periode, in der seine Bewohner wieder und wieder für ihr Land kämpfen mussten. Zu dieser Zeit war Dan Lavi elf Jahre alt. Er erinnert sich, wie die Kinder des Dorfes im Lastwagen nach Haifa gefahren wurden, um dort die Staatsgründung mit mehreren tausend Leuten tanzend und aus ganzem Herzen zu feiern. Als Beispiel für den Kampf Israels nennt er die Palmach-Spezialeinheit, die aus jungen Männern bestand, die oft ihr Leben im Einsatz an der Front ließen.

04:47 - 05:46

Zedakah

Israel ist ein sehr kontaktfreudiges Land. »Wir freuen uns immer, wenn wir Gäste haben«, sagt Dan Lavi. Dazu zählt auch eine Gruppe von Leuten, die keine Juden sind, Israel aber das Recht auf einen Staat anerkennen und sich vornehmen, den Holocaust-Überlebenden zu helfen, etwa mit einem Gästehaus in Shavei Zion oder auch dem Pflegeheim in Ma'alot. Diese Organisation ist ZEDAKAH, was übersetzt »Wohltat« bedeutet.

05:46 - 08:20

Familiengeschichte

Ein Altenpfleger kommt vorbei und bringt Dan Lavi einen Kaffee. Dani erzählt, wie sine Eltern im Februar 1933 nach Israel kamen, weil sie in Deutschland nicht mehr studieren durften. Sie lernten sich auf dem Schiff kennen und gingen, wie damals für Einwanderer üblich, in einen Kibbuz, wo sie Landwirtschaft betrieben.

Sein Vater kam aus Berlin, seine Mutter aus Wuppertal-Elberfeld. Sie sahen sich selbst immer als Deutsche. Auch Dan Lavis Großeltern hatten dieses Empfinden und kamen deshalb nicht mit. Erst im KZ wurde ihnen klar, dass sie trotz ihrer Verbundenheit mit der deutschen Kultur nicht als Deutsche, sondern als Juden und damit als Feinde betrachtet wurden. Dieses Schicksal ereilte einen großen Teil seiner Verwandtschaft.

08:20 - 10:21

Umgeben von Feinden

Trotz der ärmlichen Verhältnisse im Kibbuz waren alle sehr zufrieden und begnügten sich mit dem, was ihnen zur Verfügung stand. Den Kindern wurde der ständige Kampf, den das Volk Israel bereits in der Vergangenheit geführt hatte und auch jetzt immer noch führte, eingeprägt. Zu jeder Zeit war es umgeben von anderen Ländern, die ihm feindlich gegenüberstanden. Das Versprechen Gottes an Mose bestätigte seine Angehörigen über die Jahre, ihr Recht auf das Land geltend zu machen. Diese Geschichte des Kampfes ist für die Juden Teil ihrer Existenz. Das zeigt sich in den Psalmen und Hoheliedern.

10:21 - 12:03

Dan Lavis Zeit als Reservesoldat

Auf die Frage, ob Dani selbst auch in den Kriegen gekämpft habe, antwortet er: »Ich war fünfmal beim Militär als Reservist. Fünfmal, und fünfmal haben wir gekämpft. Alle paar Jahre kam es wieder zum Kampf, aber in den letzten Jahren – Gott sei Dank – herrscht hier Ruhe und auch wirtschaftlich gesehen geht es uns sehr gut.«

Weiter erzählt er, dass er seinen Wehrdienst als Elektriker auf einem Kriegsschiff leistete. Als Reservist wurde er dann zu den Panzertruppen versetzt und diente dort für fünfzig Jahre. Seine Abteilung war auf den Golanhöhen stationiert und kämpfte stark, obwohl sie in der Unterzahl waren. Zu verlieren kam nicht in Frage, denn wo sollte das jüdische Volk dann hin? Israel ist bis heute für die Juden die einzige Zuflucht in der Region, weshalb mutig und stolz weiter aufgebaut und für Freiheit gekämpft wird.

12:03 - 13:54

Erlebnisse als Soldat

Über seine Erlebnisse im Krieg möchte Dan Lavi lieber nicht berichten. Diese seien sehr blutig und mit viel Schmerz verbunden. Vergessen werden dürften sie trotzdem nicht. Einmal im Jahr zu Jom haAtzma'ut wird sich gemeinsam daran erinnert, doch ansonsten wird nicht viel über Einzelheiten gesprochen. Die Leute können diese persönlichen Details sowieso nicht begreifen, sagt er. Eines von zahlreichen Beispielen für das, was die Menschen aus Verzweiflung getan haben, erwähnt er dann doch: Ein paar Jungs saßen im Zelt, als eine Handgranate in ihre Mitte kullerte. Mit nur wenigen Sekunden bis zur Explosion warf sich ein junger Mann auf die Granate und opferte so sein eigenes Leben für die anderen, die unbeschadet davonkamen.

13:54 - 17:08

Reiseleiter in Israel

Nach seinem Beruf als Reiseleiter gefragt, erzählt Dan Lavi: Ein guter Bekannter, selbst alter Reisebegleiter, forderte ihn immer wieder auf, an seine Schule zu kommen und Reiseführer zu lernen. Dieser Beruf würde gut passen, da er das Land gut kannte und es ihm am Herzen lag. Nach einigen Jahren wiederholter Überredungsversuche ließ er sich schließlich überzeugen und besuchte den Kurusus an der Haifa-Universität. Anders als bei einem normalen Studium musste man dort nicht zwei, sondern fünf Fächer studieren. In seinem Falle waren das unter anderem Geschichte, Religion, und Geographie. So lernte er auch Bescheid über das Christentum und den Islam. Tag und Nacht waren sie mit dem Studium beschäftigt und unternahmen zahlreiche Reisen quer durch das Land, um praktische Erfahrung vor Ort zu sammeln. Später, als er selbst Lehrer war, unterrichtete er seine Schüler zweimal in der Woche, und am Wochenende nahm er sie mit an die jeweilige Stätte und ließ sie sich den Ort gegenseitig anhand ihres Wissens aus dem Unterricht erklären.

Sein Beruf als Reiseführer machte ihm immer schon viel Freude. In den ersten Monaten führte er noch israelische Gruppen, dann jedoch ausschließlich deutsche Reisende. Zum einen macht er seine Herkunft dafür verantwortlich, die Deutschen waren für ihn aber auch einfach die »schönsten, die interessantesten, die besten Gruppen« und bereiteten ihm besonders viel Spaß.

17:08 - 22:25

Verteidigungskrieg und Einwanderung europäischer Juden

Dan Lavi greift noch einmal die Geschichte der Staatsgründung auf, als er mit den anderen Kindern aus dem Kibbuz nach Haifa gefahren wurde, um zu feiern. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich 600.000 Juden im Land, umgeben von fünf arabischen Staaten mit insgesamt 300 Millionen Menschen. Aus allen Richtungen kamen Angriffe: Aus dem Libanon im Norden, aus Ägypten im Süden, Jordanier und Iraker kamen mit Panzerdivisionen aus dem Osten und das Ganze passierte mit der Unterstützung Saudi-Arabiens. Doch Israel hielt diesen Angriffen stand. Aus heutiger Sicht ist das für viele nicht nachvollziehbar, sagt Dan Lavi. Nach der Staatserklärung wurden viele Juden aufgenommen, was zuvor während des englischen Mandats aufgrund politischer Interessen offiziell nicht möglich war. Doch auch während dieser Zeit wurden Juden aus Europa, wovon manche zuvor in Konzentrationslagern gefangen gehalten wurden, ins Land gebracht. Das geschah mit winzigen Schiffen, 63 an der Zahl, die nicht von der englischen Marine erwischt werden durften. Viele von denjenigen, die an Land gebracht werden konnten, wurden zunächst in Kibbuzim versteckt gehalten.

Teilweise gelangen solche Aktionen aber nicht. Dann nahmen die Engländer die Neuankömmlinge fest und führten sie nach Zypern, wo sie erneut in Lagern inhaftiert wurden. Aus Palästina wurden Lehrerinnen und Krankenschwestern dorthin geschickt, deren eigentliche Aufgabe es war, die Juden auf den Krieg vorzubereiten, der sie bei ihrer Rückkehr nach Israel erwarten würde. Auch in den Kibbuzim wurden Vorbereitungen für diesen bevorstehenden Krieg getroffen und unterirdische Waffenlager angelegt. Wen die Engländer beim Waffenschmuggel erwischten, steckten sie ins Gefängnis. Um zu verhindern, dass diese vorwiegend jungen Leute fliehen und sich wieder dem Widerstand anschließen würden, wurden sie zum Teil in Gefängnisse in afrikanischen Ländern wie Äthiopien verlegt. Erst nach der Staatserklärung wurden sie entlassen und kehrten in ein Kriegsgebiet zurück.

22:25 - 23:42

Große persönliche Verluste

Dan Lavi erzählt die Geschichte einer Frau aus dem Kibbuz. Im Befreiungskrieg hatte sie ihren Mann verloren. Einer ihrer Söhne meldete sich als Pilot für die Luftwaffe und fiel im Kampf. Ihr anderer Sohn war bei den Panzertruppen, auch er starb im Krieg. Die Frau gab trotz dieser schweren Schicksalsschläge nicht auf. Ihre Mentalität, immer weiterzumachen, ist kennzeichnend für das Volk Israel.

23:42 - 26:34

Früher Lebensmittelknappheit, heute Hightech

Als die Siedler ankamen, gab es außer britischen Polizeistationen nichts. Alles mussten sie sich selbst beschaffen. Die einzige Möglichkeit der Nahrungsversorgung waren Landwirtschaft und Viehzucht. Um Lebensmittel importieren zu lassen, fehlte es an Geld. Für circa zwei Jahre ab 1952, so schätzt Dan Lavi, mussten Lebensmittel rationiert werden. Es wurden Hefte ausgeteilt mit einem Punktesystem. Nahrungsmittel konnten nicht mehr mit Geld gekauft werden, sondern man löste die Punkte für Brot oder Margarine ein.

Schritt für Schritt hat sich das Land jedoch entwickelt. Heute hat es die besten Krankenhäuser der Welt, ist Vorreiter im Gebiet der Solarenergie und hat eine zwar zahlenmäßig kleine, aber dennoch sehr starke Armee, sagt Dan Lavi. Weil jeder Berufs- und Reservesoldat genau weiß, weshalb er die Uniform trägt, ist die Armee so stark, ergänzt er. Auch im Bereich der Landwirtschaft und Hightech-Elektronik mischt Israel im weltweiten Vergleich ganz vorne mit.

26:34 - 27:44

Bereit, nochmal zu kämpfen

Dan Lavi möchte noch ein paar persönliche Sätze sagen. Er ist jetzt 85 Jahre alt. Fünfmal wurde er als Reservist zu Kriegszeiten eingezogen. »Wenn es heute dazu kommt und ich kann, mach' ich wieder mit. Egal wie alt ich bin, egal wie es mir geht.« Damit ist er nicht alleine, viele Veteranen denken wie er.

Während seiner Dienstzeit wurden einmal die Truppen einberufen, um an die Front gebracht zu werden. Dan Lavis Aufgabe war es, einzutragen, wer sich bei der Armee meldete. Da kam ein älterer Mann in das Zimmer, in dem er saß, schlug mit der Faust auf den Tisch und sagte: »Wer hat dir das Recht gegeben, mich nicht zu rufen?« Das wird er nie im Leben vergessen.

27:44 - 31:28

Aufgabenteilung

Die stehende israelische Armee ist sehr klein. Doch zu Kriegszeiten kommen aus dem ganzen Land Reservisten, teilweise noch bevor man sie dazu auffordert. Damals hatte jeder sein Codezeichen. »Berg Sinai« war das Codezeichen von Dan Lavi. Wenn er das Zeichen hörte, nahm er seinen bereits fertiggepackten Rucksack mit Kleidung, Essbesteck, Waschzeug und mehr. Als Offizier wurde man abgeholt, einfache Soldaten suchten eine Sammelstelle für den Bus auf. Aufgabe der Berufssoldaten war es, solange die Panzer und Maschinengewehre vorzubereiten. Die erste Einheit, die bereit sein musste, waren nicht die Fallschirmjäger, wie man vielleicht vermuten würde, sondern die Autofahrer, die Kraftstoff, Munition und Wasser zum Einsatzort brachten. Als der Milchwagenfahrer, der jeden Morgen Milch aus dem Kibbuz Kfar Giladi nach Tel Aviv brachte, eingezogen wurde, sprang für ihn sein Vorgänger, der schon seit etlichen Jahren im Ruhestand war, ein. Dan Lavis Mutter war für die Abholung verschiedener Offiziere in der Gegend zuständig. Sogar die Schulkinder ersetzten verbrauchte Munition für Maschinengewehre oder füllten Sandsäcke. Frauen halfen in Krankenhäusern mit oder gingen als Sanitäter aufs Schlachtfeld.

31:28 - 31:57

Schlusswort

Wenn es wieder zu Krieg kommen sollte, betont Dan Lavi, dann »muss jeder wissen, wir machen alle weiter. Egal wo wir sind, egal wie alt wir sind, egal wie es uns persönlich geht. Wir gehen und wir machen alles zusammen, denn wir gehören zusammen und wir wissen warum.«