Interview am 24. November 2021 in Maisenbach, Deutschland
Fredy Kahn (Jg. 1947) erlebte eine behütete Kindheit in dem früheren Judendorf Baisingen. Sein Vater Harry Kahn kehrte nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager als Einziger der einst relativ großen jüdischen Gemeinde in seine schwäbische Heimat zurück. Dieser Entschluss rief bei den Glaubens- und Leidensgenossen viel Unverständnis hervor, während manche Menschen im Dorf zu dem Schluss kamen „so schlimm war es wohl doch nicht“.
Doch es war schlimm, und dass Harry Kahn und seine zweite Frau Charlotte nach all dem Erlittenen in ihrem für jene Zeit fortgeschrittenen Alter noch einen Sohn bekamen, war für die Beiden deshalb auch ein echtes Wunder. Fredy Kahn bekam zu spüren, dass er etwas Besonderes war - fast jeder Wunsch wurde ihm erfüllt. Andererseits begehrte er auch nie gegen seine Eltern auf, weil er spürte, dass da in der Vergangenheit ein dunkler Schmerz verborgen lag, den er nicht noch verstärken wollte.
Das machte vor allem die Berufswahl für Fredy Kahn besonders schwer. Der große Wunsch seines Vaters war es, dass er einmal seine Viehhandlung übernehmen sollte. Obwohl das seinen Interessen widerstrab, war Fredy Kahn doch bereit, nach der Schulzeit im Viehhandel mitzuarbeiten und es dem Vater zuliebe zu versuchen, ob das doch etwas werden könnte.
Nach einem halben Jahr wechselte er jedoch auf die kaufmännische Hochschule. Anschließend studierte er Tiermedizin und Humanmedizin in München. Mit seinem großen Studieneifer, so sagte er, versuchte er das Hinterfragen seiner Entscheidungen zu verdrängen.
Kontakte zu anderen Juden in seinem Alter bekam er erst so richtig während des Studiums in München, wo er auch seine spätere Frau kennenlernte. Nach einer Zwischenstation als Arzt in Karlsruhe zog Fredy Kahn nach Nagold, wo er sich als Hausarzt selbstständig machte. Heute hat er drei erwachsene Kinder, von denen eine Tochter noch im Nordschwarzwald lebt.
Mehrere einschneidende Erlebnisse in den 1980er Jahren führten bei ihm zu einem Bewusstseinswandel. Das Jüdischsein prägte jetzt stärker sein Handeln und sein Engagement insbesondere gegen den neuerwachenden Antisemitismus.
Schuldekan Thorsten Trautwein begrüßt die Zuhörer.
Zehn Generationen lang war die Familie Kahn in Baisingen beheimatet. Das jüdische Leben in dem kleinen Ort blühte, bis es im Dritten Reich ein abruptes Ende fand.
Fredy Kahns eigene Geschichte beginnt mit der Rückkehr seines Vaters Harry Kahn in sein Heimatdorf Baisingen.
Als Fredy Kahn am 1. Juli 1947 zur Welt kommt, ist dies ein wahres Wunder, mit dem niemand mehr gerechnet hatte. Seine Mutter war schon 39 Jahre alt, als sie ihr erstes Kind zur Welt brachte. Beide Eltern von Fredy Kahn waren im KZ inhaftiert gewesen und bei ihrer Freilassung von dieser schweren Zeit gezeichnet. Die erste Frau seines Vaters starb während der Gefangenschaft.
Dass er für seine Eltern eine Art Wunder war, bekam Fredy Kahn während seiner Kindheit auch zu spüren. Ein Bild gibt Einblick in die besondere Familienkonstellation. Leibliche Verwandte gab es keine mehr, stattdessen hatten seine Eltern die 76-jährige Karoline Marx bei sich aufgenommen. Diese alte Jüdin hatte ihre drei Söhne im KZ verloren. Es gab für sie keinen Ort mehr, wo sie hätte hingehen können. So wurde Karoline Marx zu Fredy Kahns Oma bis sie 1953 starb. Dass sie nicht seine leibliche Großmutter war, erzählten ihm seine Eltern nicht, so wie sie auch sonst nie über die Deportation und die Zeit im KZ sprachen. Erst als Fredy Kahn sich später selbst auf die Spurensuche machte, erfuhr er vom Schicksal seiner Großmutter Klara und seines Urgroßvaters Jakob, der noch mit 93 Jahren deportiert worden war.
Weiter wohnte eine Zeitlang ein Junge bei ihnen, der eine Art älterer Bruder für ihn war. Als Fredy Kahns Mutter nach dem Krieg aus dem KZ zurückkehrte, suchte sie nach dem Baby, das ihre Freundin vor der Deportation nach Stuttgart-Stammheim in ein Kinderheim gebracht hatte. Ihre Suche nach dem Kind war erfolgreich, denn die Freundin hatte es durch die Weggabe in ein Kinderheim tatsächlich geschafft, ihrem jüdischen Jungen das Leben zu retten. Einige Jahre blieb Peter in der Familie Kahn. Später machten sie eine leibliche Tante von ihm in den USA ausfindig, zu der er dann übersiedelte.
Das nächste Bild zeigt Fredy Kahn mit seinen Eltern. Dass im Hintergrund ein Chanukka-Leuchter steht, fiel ihm selbst lange Zeit gar nicht auf. Er erklärt auch warum - die jüdische Religion spielte bei ihnen zu Hause nur noch eine untergeordnete Rolle. Vor dem Krieg war Baisingen eine sehr fromme jüdische Landgemeinde gewesen, in der die Einhaltung der jüdischen Gesetze und Traditionen ganz selbstverständlich zum Leben dazugehörte.
Als sein Vater nach dem Krieg zurückkehrte, brach er mit all dem. Nicht weil er nicht mehr an Gott glaubte, sondern weil Religion und Tradition keine Rolle mehr in seinem Leben spielten. Der Samstag - und somit der jüdische Sabbattag - wurde für Harry Kahn als Viehhändler zum Hauptarbeitstag.
Als er 1941 ins KZ gekommen war, war er 30 Jahre alt. Die vier Jahre Haft fielen also in eine für Harry Kahn sehr prägende Zeit. Fredy Kahn schildert es so, dass er das Gefühl hatte, dass sein Vater diese für ihn verlorene Zeit irgendwie nachholen wollte.
Sein Vater arbeitete sich durch außerordentlichen Fleiß und Arbeitseifer wieder hoch und kam zu einigem Wohlstand. Das veranlasste Menschen in seiner Umgebung zu Äußerungen wie „So schlimm kann es doch gar nicht gewesen sein. Er hat es überlebt und jetzt geht es ihm doch gut.“ Baisingen war ein Dorf wie alle anderen. Die Leute redeten viel und machten sich Gedanken darüber, wie Harry Kahn es geschafft hatte, neun Konzentrationslager zu überleben. Es waren die verrücktesten Geschichten im Umlauf. Und wenn man mit den Menschen sprach, da hatte dann auf einmal jeder einem Juden geholfen und Menschen versteckt und gerettet.
Im Alltag dagegen hat Harry Kahn oft erlebt, dass noch antisemitische Grundhaltungen bei den Menschen vorhanden waren.
Als er aus dem KZ heimgekehrt war, da hatte er gar nichts mehr. In seinem Elternhaus wohnten fremde Menschen. Ein Nachbar gab ihm einen Topf und einen Anzug, damit er etwas zum Anziehen hatte und sich Essen kochen konnte.
Fredy Kahn erlebte eine sehr behütete Kindheit, in der seine Eltern ihm nahezu jeden Wunsch erfüllten. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre, als Fredy Kahn schon auf der Welt war, schafften seine Eltern sich einen Hund - einen Neufundländer - an. Für sie war es ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass ihr Kind beim Spielen im Garten von einem Hund bewacht wird.
Fredy Kahn erzählt, dass er im Dorf sehr beliebt war und nie Mangel an etwas erlebt hat.
Eine der ersten Erinnerungen von Fredy Kahn, wo er das Gefühl hatte, dass bei ihm etwas anders war, ist, als die Lehrerin vor der Einschulung mit der Mutter das Gespräch suchte. Die Lehrerin war unsicher, wie sie mit einem jüdischen Jungen umgehen sollte. Zum Beispiel ging es um das morgendliche Gebet in der katholischen Grundschule, das die Lehrerin für ein Problem hielt. Für die Mutter war das kein Problem. Sie entgegnete, Fredy solle einfach mit allen anderen aufstehen, das Vater Unser mitsprechen müsse er ja nicht.
Eine religiöse Tradition gab es zu Hause nicht mehr. Es gab weder Sabbatkerzen noch Ruhetag, höchstens am Chanukkafest den traditionellen Leuchter. An Weihnachten legte seine Mutter sogar einige Tannenbaumzweige mit Christbaumkugeln aus, damit er das Gefühl hatte, dass es bei ihnen wie bei allen anderen sei.
Erst als er etwas älter war, kam von der Stuttgarter Gemeinde ein Lehrer, der ihm einmal in der Woche nach der Schule zwei Stunden jüdischen Religionsunterricht gab. Hier lernte er Hebräisch, das Alte Testament und jüdische Geschichte. Vom Holocaust wusste Fredy Kahn gar nichts. Er wunderte sich manchmal ein bisschen, warum die Lehrer, die oft aus Israel kamen, so gut Deutsch konnten. Sie berichteten dann z.B., dass sie aus Baden kamen und ausgewandert waren. Über das Warum erfuhr er als Kind jedoch nichts.
Kontakte zu Juden ergaben sich auch durch die Besuche von Juden, die nach Baisingen kamen, um die Gräber ihrer Vorfahren zu besuchen. Diese Besucher schauten dann oft auch bei seinen Eltern vorbei. Sie saßen dann bei seinen Eltern im Wohnzimmer und zu einem bestimmten Zeitpunkt wurde Fredy meistens zum Spielen rausgeschickt. Er beobachtete, wie sein Vater an den Nachttisch ging und eine Briefmappe mit Bildern hervorholte. Das weckte natürlich seine Neugier. In einem unbeobachteten Moment ging er auch einmal zu dem Nachttisch und holte die Mappe hervor. Darin fand er Bilder von Hinrichtungen und Skeletten, die ihn mit acht, neun Jahren sehr erschütterten, aber mit denen er in dem Moment gar nichts anfangen konnte. Aber er merkte, dass da etwas Schlimmes passiert war. Die Bilder hatte sein Vater in der Uniform eines SS-Mannes gefunden, die dieser am Kriegsende weggeworfen hatte.
Seine Eltern baten ihn immer, doch brav zu sein. Heute versteht er das viel besser, dass sie einfach wollten, dass er als jüdischer Junge nicht negativ auffiel.
Zwei Mal pro Jahr gingen seine Eltern in die Synagoge nach Stuttgart: an Rosch ha-Schana (dem jüdischen Neujahrsfest) und an Jom Kippur (dem Versöhnungstag). Sie fuhren da mit dem Auto hin, was eigentlich aus Sicht der jüdischen Tradition verboten war. Ihnen ging es vor allem darum, dass Fredy die Synagoge und die jüdischen Bräuche kennenlernte. Er selbst bezeichnete die Abläufe zwar als feierlich, aber für ihn auch etwas komisch, weil er ja nichts verstand. Alles war in Hebräisch. Die Männer mit ihren langen Bärten und den Gewändern (Anm.: An Jom Kippur tragen fromme Juden ihr Totengewand) erschienen ihm fremdartig. Die katholische Religion war ihm durch den Schulbesuch und das Leben im Dorf einfach geläufiger. Zur Fronleichnamsprozession wurde bspw. auch ihr Haus geschmückt.
Wie viele andere Jungs auch, interessierte sich Fredy Kahn für Fußball. Bei Länderspielen jubelte er voller Begeisterung der deutschen Nationalmannschaft zu. Wenn sein Vater dazu kam, bat er seinen Sohn, doch weniger zu schreien. Erst viel später wurde Fredy Kahn bewusst, wie es auf seinen Vater wirken musste, wenn er lautstark „Deutschland vor!“ rief.
Auf dem Gymnasium bemerkte er, wie manche Lehrer ihn „komisch“ anschauten, wenn die Sprache auf das Dritte Reich kam. Dabei war das äußerst selten und nur am Rande. Im Unterricht war die Zeit des Nationalsozialismus kein Thema. Im Gegensatz zu heute, wo man versucht die Schüler*innen für das Thema zu sensibilisieren, wurde das Dritte Reich zu seiner Schulzeit totgeschwiegen. Sowohl Täter als auch Opfer haben nicht viel erzählt.
Einmal hat ein Klassenkamerad im Unterricht behauptet, dass das mit den sechs Millionen getöteten Juden überhaupt nicht stimmen würde. Das seien doch nur zwei Millionen gewesen. Aber das war das einzige negative Erlebnis aus seiner Schulzeit, an das er sich erinnert. Ansonsten ging er gerne zur Schule und beschreibt diese Zeit als gut. Er war ein guter Sportler und als Jugendlicher stolz darauf, dass seine Mannschaft zum Beispiel Schulmeister im Handball wurde.
Sein Vater versuchte schon früh, aus Fredy einen Viehhändler zu machen. Alle ihre Vorfahren waren Viehhändler gewesen und die Viehhandlung von Harry Kahn lief ja gut.
Obwohl Fredy Kahn kein Viehhändler werden wollte, konnte er das seinem Vater nicht sagen und versuchte sich durchzumogeln. Er dachte, dass sein Vater schon so viel Schlimmes erlebt hatte und er ihm das nicht antun konnte. Also sagte er zu seinem Vater, dass er nach dem Abitur ein halbes Jahr in die Viehhandlung kommen würde, um zu schauen, ob ihm der Beruf gefällt. Sein Vater war einverstanden. Doch als er bei seinem Vater arbeitete, war der zum einen besonders streng mit ihm, und zum anderen merkte er, dass das wirklich nichts für ihn war.
Die Frage war, wie er das dem Vater beibringen sollte. So sagte er zu ihm, dass er nach Mannheim auf die kaufmännische Hochschule gehen würde. Sein Vater war damit einverstanden, denn kaufmännisches Wissen war für einen Viehhändler ja auch wichtig. Nach einem Jahr Betriebswirtschaftslehre eröffnete Fredy Kahn dann seinem Vater, dass er gerne nach München gehen würde, um dort Tiermedizin zu studieren. Auch da hatte sein Vater noch Hoffnung, dass es mit dem Viehhandel doch etwas werden könnte. Was er ihm nicht sagte, war, dass er sich nach zwei Jahren in München, auch in der Humanmedizin einschreiben ließ. Trotzdem studierte er Veterinärmedizin weiter. Erst nach bestandenem Examen als Tierarzt eröffnete er seinem Vater, dass er nicht gleich als Tierarzt arbeiten wolle, weil er sich noch für Humanmedizin eingetragen habe. Fredy Kahn schildert, „dass ihm die Kinnlade nach unten ging“. Andererseits merkte aber auch sein Vater, dass es mit der Landwirtschaft abwärts ging. Aber anders als viele andere (jüdische) Eltern, war sein Vater nicht besonders stolz darauf, dass sein Sohn Arzt wurde. Ihm wäre ein Viehhändler lieber gewesen. Doch am Ende war er mit dem Lebensweg des Sohnes ausgesöhnt und zufrieden, was er aber - wie viele Väter seiner Generation - gegenüber dem Sohn nicht ausdrücklich sagte.
In Baisingen war Fredy Kahn ein Unikat, in Stuttgart waren noch drei, vier andere Kinder/Jugendliche in seinem Alter. Zu Freizeiten ließen ihn seine Eltern nicht mit, weil sie Angst hatten, er würde dort „verdorben“. Die Religionslehrer erzählten oft begeistert von Israel und sie fürchteten, er würde dann womöglich nach Israel auswandern wollen. Es nervte Harry Kahn schon, wenn er immer wieder darauf angesprochen wurde, wie er als KZ-Überlebender in Deutschland bleiben könne. Fredy Kahn hatte keinen starken Drang, auf diese Freizeiten gehen zu wollen, vor allem wollte er aber auch nichts gegen den Wunsch seiner Eltern tun. Sie hatten als kleine 3-köpfige Familie letztlich nur sich selbst plus den Bruder seines Vaters in London.
Erst als er nach München kam, lernte er gleichaltrige Juden in größerer Zahl kennen. Mit ihnen machte er auch Reisen nach Israel. Sein Vater hatte da nichts mehr dagegen. Fredy Kahn selbst beschreibt diese Zeit als phänomenal schön, es sei einfach toll gewesen, mit anderen jungen Juden zusammen zu sein. Gerade die Einfahrt in den Hafen von Haifa beschreibt er als äußerst beeindruckend. Obwohl er nicht vorhatte, in Israel zu leben, empfand er die Ankunft als Art Heimkehr.
In Israel besuchte er auch Shavei Zion, einen Ort, der von Rexinger Auswanderern gegründet worden war. Die Häuser, Gärten, aber auch die Anzüge mit Krawatte erinnerten sehr an die schwäbische Heimat. So stammt auch der Spitzname „Jeckes“ für die Juden deutscher Abstammung in Israel von der Tradition her, dass diese selbst bei großer Hitze noch Jackett trugen. Auch die Begegnung mit den schwäbischen Juden in Shavei Zion war für ihn ein sehr schönes Erlebnis.
Vom Wetter und den jungen Leuten her, hätte sich Fredy Kahn durchaus eine Zukunft in Israel vorstellen können. Aber was ihm nicht gefiel, war die Ellbogen-Mentalität, dass jeder immer der Erste sein wollte.
Beim Studium in München lernte er dann auch seine Frau kennen, die aus Paris stammt. Neben der standesamtlichen Hochzeit in Bayern wollten sie gerne auch eine richtige jüdische Hochzeit feiern. Diese fand 1974 in Straßburg in der Synagoge statt. Die Stadt bot sich an, weil die eine Seite der Verwandtschaft kein Deutsch konnte, und seine Eltern kein Französisch sprachen - in Straßburg wurden (damals) beide Sprachen gesprochen.
1975 kam in München das erste Kind, die Tochter Nathalie, zur Welt. 1976 übersiedelte die Familie nach Karlsruhe, wo Fredy Kahn am Krankenhaus arbeitete. 1977 kam hier die Tochter Deborah zur Welt, die heute im Nordschwarzwald lebt. 1980 zog die Familie nach Nagold. 1982 kam der Sohn Samuel zur Welt.
Eine seiner Töchter lernte in München einen jungen jüdischen Mann kennen und lieben. Als die beiden heiraten wollten, fuhren sie zunächst nach Straßburg und sahen sich dort den Gemeindesaal als. Die Einrichtung aus Plastik war aber nicht sonderlich ansprechend, weshalb Fredy Kahn vorschlug, die jüdische Hochzeit in Nagold zu feiern. Zunächst gab es einige Vorbehalte, vor allem wegen den frommen jüdischen Freunden des Paares, die sie gerne zu der Feier einladen wollten. Aber Fredy Kahn war sich sicher, dass sich alle Probleme lösen lassen würden. Er sprach mit dem Rabbiner in Stuttgart, der dann die Trauung in der Alten Seminarturnhalle in Nagold durchführte. Der Koch der Alten Post machte zuvor beim Rabbiner noch einen Kurs über die Zubereitung von koscherem Essen. Außerdem kaufte er sich neues Kochgeschirr, damit Töpfe und Pfannen nicht vorher irgendwie in Berührung mit Schweinefleisch gekommen waren.
Auch der Konditor fertigte die Hochzeitstorte nach den genauen Angaben des Rabbiners und von Fredy Kahns Frau an. Dessen Zuversicht zahlte sich aus. Es wurde eine schöne Hochzeit gemäß jüdischer Tradition.
Für Fredy Kahn war diese Hochzeit gleichzeitig ein Zeichen. Er sagt, dass er 10 bis 15 Jahre zuvor wahrscheinlich selbst noch gar nicht bereit gewesen wäre, eine jüdische Hochzeit in Nagold auszurichten. Früher hatte er in Gesprächssituationen oftmals das Gefühl, dass er etwas Bestimmtes besser nicht erzählt, oder er fragte sich, was sein Gegenüber wohl schon alles gemacht hat oder über Juden denkt. Er war da eher zurückhaltend.
Fredy Kahns Familie gehört zur besonders frommen Untergruppe der Kohanim (daher stammt auch der Name Kahn) aus dem Stamm Levi. Sie verrichteten zur Zeit des Tempels besondere Dienste im Heiligtum. Auch heute ist das noch so. Männer aus den Familien, die Namen wie Kahn, Kohn oder Katz tragen, treten noch heute segnend vor die Gemeinde. Aus diesem Grund trägt auch das Grabmal von Fredy Kahns Eltern zwei segnende Hände.
Selbstkritisch vermerkt Fredy Kahn, dass er zwar auch noch aus dem Stamm der Hohenpriester ist, dass es aber mit seiner Frömmigkeit nicht so weit her sei. Doch er hat Respekt vor dieser Tradition. Auch für ihn ist das heute noch eine Ehre, an den hohen Feiertagen zusammen mit den anderen Kohanim den Segen weitergeben zu dürfen, weshalb er das Recht auch wahrnimmt. Eingeübt wird dieser Dienst nicht extra, wichtig ist, dass der Mann aus der Linie der Kohanim stammt.
Auf manchen jüdischen Grabsteinen sind Wasserkannen zu sehen. Das sind Kirchendiener, Nachfahren aus dem Stamm der Leviten. Sie gießen den Kohanim das Wasser zur symbolischen Reinigung vor dem Segen über die Hände. Fredy Kahn schätzt, dass es allein auf dem Baisinger Friedhof 30 Grabmale mit den segnenden Händen gibt. Es lebten zehn Familien Kahn hier, die nicht miteinander verwandt waren.
Seinen Berufseinstieg als Landarzt in Nagold bezeichnet er als leicht, nicht zuletzt kam ihm die Bekanntheit seines Vaters zugute. Oftmals kam er in die gleichen Häuser, in denen auch sein Vater schon verkehrte. Aber es gab doch einen gravierenden Unterschied. Im Gegensatz zu seinen Vorfahren kam er nicht als Bittsteller, der etwas kaufen oder verkaufen wollte, sondern er kam, weil er gerufen wurde. Für Fredy Kahn war das wichtig. Denn wenn ihn jemand extra herbestellte, so wusste er, dass er als jüdischer Arzt akzeptiert war. Gleichzeitig wusste er auch, dass er als jemand kam, der alle demokratischen Rechte auf seiner Seite hatte.
Als er schon einige Zeit in Nagold wirkte, kam es innerhalb kurzer Zeit zu mehreren Ereignissen, die ihn zum Nach- und Umdenken brachten. Eines davon war eine Vortragsreihe des damaligen Oberbürgermeisters Dr. Joachim Schultis zur NS-Zeit. Kahn bezeichnet dies als mutiges Vorhaben in der einst braunen Stadt, in der die NSDAP ihre besten Ergebnisse in ganz Württemberg erzielte. Bis dahin wusste Fredy Kahn selbst wenig von den Vorgängen in seiner Heimat in den 1930er und 1940er Jahren.
Ein anderes Erlebnis war ein Zeitungsartikel, der in der Zeit um 1983/1984 darüber berichtete, wie junge NPD-Anhänger in Rohrdorf ein Plakat aufhängten, mit dem sie dem Führer zum Geburtstag gratulierten.
In Nagold wurde daraufhin von Parteien, den Kirchen und weiteren Vereinigungen eine Demonstration gegen rechts organisiert, für die man Fredy Kahn als Redner anfragte. Das war das erste Mal, dass er ganz bewusst als Jude auftrat. Er rief dazu auf, den Anfängen zu wehren, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.
An der Stelle schlägt Fredy Kahn den Bogen zu heute, wo rechte Parteien wieder sehr erfolgreich sind und zwischenzeitlich in fast jedem ostdeutschen Parlament und Gemeinderat sitzen. Wenn sie noch lebten, würden seine Vorfahren ihn vermutlich warnen und sagen: „Kerle, sei vorsichtig.“
Aufgerüttelt durch diese Ereignisse beschäftigte er sich intensiver mit der Lokalgeschichte. Erschüttert haben ihn zum Beispiel die Geschehnisse um Dr. Stähle, der als Gauamtsleiter für Volksgesundheit im Gau Württemberg für das Euthanasieprogramm für (christliche) behinderte Menschen in Grafeneck verantwortlich war. Noch im Entnazifizierungsprozess nach dem Krieg gab er zu Protokoll, dass das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ kein Gebot Gottes, sondern eine jüdische Erfindung sei. Leider, so merkt Fredy Kahn an, gab es damals wie heute Menschen, die einfach unverbesserlich seien. Zum Beispiel seien auch am Bundesgerichtshof in der Nachkriegszeit viele nationalsozialistische Richter beschäftigt gewesen.
Eine einschneidende Wende in der Biographie von Fredy Kahn brachte die 1994 erstellte Studienarbeit „Gewalt und Gedächtnis“ von Franziska Becker über das Judendorf Baisingen. Der Betreuer ihrer Magisterarbeit war der gebürtige Nagolder Prof. Dr. Utz Jeggle, zu dessen Fachgebiet die Judendörfer in Württemberg gehörten.
Im Rahmen ihrer Studienarbeit interviewte Franziska Becker mehrere ältere Einwohner von Baisingen zum Leben wie es früher war. Um möglichst ehrliche Antworten zu erhalten, versteckte sie ihre Fragen zu den jüdischen Mitbürgern zwischen solchen bspw. zur Landwirtschaft und zum Vereinsleben. Auf diese Weise erfuhr Fredy Kahn, was Menschen, die bei ihnen ein- und ausgingen, und die seinem Vater teilweise sehr nahe standen, noch für antisemitisches Gedankengut hegten.
Als er so von der wahren Einstellung zahlreicher Menschen in seinem Heimatdorf erfuhr, beschloss er symbolisch zu emigrieren. Fredy Kahn berichtet, dass er auch heute noch einige gute Kontakte nach Baisingen hat, zum Beispiel zu früheren Fußballkameraden. Aber insgesamt wollte er mit diesem Ort nichts mehr zu tun haben, und brach mit der jahrhundertelangen Heimat seiner Vorfahren, indem er das elterliche Haus verkaufte.
Als weitere Konsequenzen setzte er sich noch intensiver mit der jüdischen Geschichte auseinander. Er wurde aktiv in der israelitischen Kultusgemeinde in Stuttgart und er brachte entsprechend jüdischer Tradition am Eingang seiner Praxis in Nagold eine Mesusah (jüdische Schriftrolle) an. Ebenso ließ er am Eingang seines Wohnhauses in Nagold eine hebräische Schrifttafel anbringen. Auch dass er sich heute als Jude zu Vorträgen einladen lässt, gehört zu dieser Wandlung.
Als Kind hatte er nur bemerkt, dass bei ihnen etwas anders war. Was und warum, das verstand er nicht, es rief bei ihm jedoch Unsicherheit hervor.
Den Zwiespalt zwischen dem assimilierten Leben seiner Familie und dem Leben der frommen Juden bemerkte er vor allem im Kontakt mit seinem Onkel aus England und anderen jüdischen Menschen. Wie sein Vater hatte auch Fredy Kahn ein starkes Heimatgefühl im Herzen. Aber auf der anderen Seite standen die Vergangenheit und der Reiz des neuen, modernen Staates Israel. Und genau wie sein Vater arbeitete auch er sehr viel, um sich nicht zu viele Gedanken darüber zu machen, ob seine Entscheidung zu bleiben richtig war. Darüber hinaus wollte er durch den beruflichen Erfolg erreichen, dass seine Eltern stolz auf ihn sein konnten. Schließlich hatte er den Vater schon dadurch enttäuscht, dass er nicht in seine Fußstapfen als Viehhändler trat.
Fredy Kahn hebt die seiner Meinung nach vorbildliche Aufarbeitung jüdischer Geschichte im Rahmen des Jubiläumsjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ und in dem von Schuldekan Thorsten Trautwein herausgegebenen Sammelband „Jüdisches Leben im Nordschwarzwald“ hervor. Viel zu lange habe man sich auf Mahnwachen und Reden zu offiziellen Gedenktagen konzentriert. Fredy Kahn freut sich über das Interesse der Menschen am Judentum, und dass Menschen kommen, um seinen Schilderungen zuzuhören. Doch gleichzeitig mahnt er, wachsam zu sein. Man mache es sich viel zu einfach, immer gleich nach einem Schuldigen zu suchen. So seien auch im Zusammenhang mit der Coronakrise in den sozialen Netzwerken Berichte kursiert, nach denen die Juden schuld an der Pandemie seien. Er fordert die Menschen in dem Zusammenhang auf, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Die Ausprägung des Antisemitismus sieht er als Gradmesser für die moralische Verpflichtung jedes Einzelnen und auch des Staates. Nach Schätzungen seien ca. 40% der Einwohner Deutschlands antijüdisch eingestellt. Und das obwohl die meisten Leute noch nie einen Juden kennengelernt haben, weil ihre Anzahl in Deutschland so gering ist. Doch derzeit werde der Antisemitismus vor allem auf Israel projiziert. Das Handeln der israelischen Regierung dürfe durchaus hinterfragt werden, aber er stellt fest, dass oftmals mit zweierlei Maß gemessen wird.
Lange Zeit lebten die noch übriggebliebenen jüdischen Familien im Nachkriegsdeutschland auf gepackten Koffern. Das sei heute nicht mehr so, berichtet Fredy Kahn. Heute seien diese Deutschen mit jüdischer Religion in ihrer Heimat fest verwurzelt. Sie haben Gemeinden gegründet und wieder Synagogen aufgebaut. Was es aber in jedem jüdischen Haus gebe, sei ein unsichtbarer Koffer voll mit langer jüdischer Tradition, Geschichte und Erinnerungen. In dem Koffer befinde sich natürlich auch ein Karton mit 13 Jahren Nationalsozialismus. Dieser gehöre selbstverständlich dazu und werde sorgfältig aufbewahrt, nicht um Vorwürfe zu machen, aber um die Erinnerung zu bewahren, was dem jüdischen Volk passiert sei. Es gebe viele unterschiedliche Juden in Deutschland - von orthodoxen über liberale bis hin zu areligiösen - die nicht allein auf diese 13 Jahre reduziert werden wollen. Juden, so Fredy Kahns Schlussplädoyer, seien Menschen wie du und ich.