Vortrag am 30. Mai 2018 in Bad Liebenzell-Maisenbach, Deutschland
Ilan Brunner wuchs zunächst in einem wohlhabenden Elternhaus in Prag auf. Als er fünf Jahre alt war, vertrauten seine Eltern ihn gemeinsam mit dem älteren Bruder 1939 kurz vor Kriegsausbruch dem Engländer Nicholas Winton an, damit er die beiden Kinder nach England bringen sollte. Dort erlebte er die Kriegszeit mit all ihren Schrecken getrennt vom Bruder bei einer alleinstehenden älteren Frau. Nach dem Krieg fand die Familie in Palästina wieder zueinander. Ilan Brunner arbeitete über 40 Jahre als Pressesprecher und Fotograf für das israelische Verteidigungsministerium. (Fotos von ihm wurden auch in der Filmdokumentation »#schalom75« verwendet.) Im Laufe der Jahre hatte er dadurch viele Begegnungen mit Deutschen aller Altersgruppen. 2002 gründete er zusammen mit seiner Frau die Initiative »DisraeliS« (siehe Wikipedia), die eine Brücke der Versöhnung zwischen Deutschen und Juden bauen will. Ilan Brunner starb am 13. April 2023, möge sein Andenken zum Segen sein.
Ilan Brunner begrüßt die Besucher und bittet um Nachsicht, wenn sein Deutsch stellenweise etwas holperig sein sollte. Er wurde 1934 in Prag geboren und hatte das Glück, den Holocaust und den 2. Weltkrieg zu überleben, so dass er heute davon berichten kann, was damals geschah.
Als er geboren wurde gehörte Prag zur Tschechoslowakei. Aber im März 1939 besetzten die Nazis den tschechischen Landesteil und übernahmen alles sehr rasch. Ilan Brunner lebte zu der Zeit zusammen mit seinem Bruder und seinen Eltern in einem sehr schönen Haus mit Blick auf die Moldau. Als die Nazis kamen, bestimmten sie von da an das Leben der Juden. Der erste Schritt war, dass man alle Gegenstände wie Radio und Schmuck abgeben musste.
Die Eltern von Ilan Brunner musizierten gerne und hatten einen großen Flügel im Wohnzimmer stehen, den er als Kind nie anfassen durfte. Dann kamen eines Tages zwei Nazis und wollten den Flügel mitnehmen. Ilan Brunner erinnert sich noch genau an die Atmosphäre an diesem Tag im Haus. Die Männer hatten überhaupt kein Gespür dafür, wie man mit so einem wertvollen Instrument umgeht. Zum Beispiel wussten sie nicht, dass sie hätten die Füße abnehmen müssen, um es zu transportieren. Also transportierten die beiden Männer den Flügel mit Gewalt die vier Stockwerke nach unten und kümmerten sich nicht um die Schäden.
Später musste die Familie diese schöne Wohnung verlassen und in eine kleinere Wohnung zusammen mit drei anderen Familien ziehen, die eigentlich gar nicht zu seiner passten, wie Ilan Brunner schildert. Scherzhaft bezeichnet er seine Familie als »sehr arme Familie«, denn sie hatten eine arme Köchin, eine arme Dienstmagd, einen armen Chauffeur usw. Noch gut erinnert er sich an die angespannte Stimmung, als sie nun zusammen mit drei anderen Familien in dieser Wohnung leben mussten. Und auch wenn er noch ein kleines Kind war und sich an vieles nicht mehr erinnern kann, sieht er doch heute noch die roten Hakenkreuzfahnen in der Hauptstraße im Gedächtnis von den Dächern wehen.
Dann sprach es sich herum, dass ein Engländer namens Niki (Nicholas) Winton, der in der Tschechei die Zustände gesehen hat, mit Erlaubnis der Nazis Kindertransporte nach England organisierte. Zur Bedingung hatten die Nationalsozialisten gemacht, dass nur Kinder zwischen 5 und 15 Jahren mitfahren durften. Als bekannt wurde, dass kein Erwachsener die Kinder begleiten durfte, haben viele Eltern von dem Vorhaben wieder Abstand genommen, denn sie wollten ihre Kinder nicht alleine lassen.
Trotzdem haben Ilan Brunners Eltern ihre beiden Söhne nach England geschickt, auch wenn sie nicht genau wussten, wo sie hinkommen würden und es damals kaum möglich war Kontakt zu halten. Viele aus dem Bekanntenkreis der Familie hatten überhaupt kein Verständnis für diese Entscheidung. Sie machten ihnen Vorwürfe und viele Bekannte wandten sich von den Eltern ab. Doch die hielten an ihrem Entschluss fest. So wurden Ilan Brunner und sein Bruder Ende Juni 1938 mit einem Kindertransport mit dem Zug von Prag aus über Holland nach England geschickt.
Für den Organisator des Transports, Niki Winton, gab es mehrere Probleme: z.B. musste für jedes Kind 50 £ (britische Pfund) Kaution bezahlt werden, was damals viel Geld war. Außerdem wollten die Behörden einen Nachweis dafür, dass eine Familie sich um die Kinder kümmert. Da viele Menschen aber davon ausgingen, dass es sich höchstens um die Dauer von wenigen Monaten bis zu einem halben Jahr handelt, fanden Winton und seine Helfer genügend Familien, die bereit waren, für die Kinder zu sorgen. Allerdings hat er wohl auch an der einen oder anderen Stelle getrickst und Papiere gefälscht, weil er sah, dass die Zeit drängte – so Ilan Brunner.
Am ersten Juli 1939 kamen Ilan Brunner und sein Bruder in England an, genau zwei Monate später begann der 2. Weltkrieg mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen. Die beiden Buben, von denen keiner ein Wort Englisch sprach, wurden bei einer ledigen älteren Frau, einer Schuldirektorin untergebracht. Ilans Bruder kam später woanders unter. Die Frau, die selbst Christin war, erzog den kleinen Jungen im christlichen Glauben. Dazu gehörte auch, dass er sonntags dreimal zur Kirche gehen musste. Für ihn war es aber eher eine gute Erfahrung, vor allem mit dem Weihnachtsfest verbindet er schöne Erinnerungen. Das Wissen über den christlichen Glauben hat ihm später im Leben aber sehr geholfen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit seinem Projekt »DisraeliS«. Dass er eigentlich ein jüdischer Junge war, spielte in seinem Bewusstsein keine Rolle.
Das Leben in England während des Krieges war nicht leicht. Sechseinhalb Jahre lebte er im Süden Englands in der Nähe von Eastbourne und Brighton. Viele der Flugzeuge mit Bomben an Bord, die das europäische Festland – vor allem Deutschland – zum Ziel hatten, flogen über Ilan Brunners Wohnort hinweg. Auch die deutschen Flugzeuge, die auf dem Weg nach London waren, flogen über ihre Köpfe hinweg. Oft gab es lauten Lärm, wenn die Briten versuchten die deutschen Bomber abzuschießen. Häufig gab es Fliegeralarm und wenn es gelang Flugzeuge abzuschießen, explodierten sie nicht selten in der Nähe der Häuser. Ilan Brunner wohnte alleine oben im vierten Stock des alten Hauses aus dem 19. Jahrhundert. Es gab kein elektrisches Licht und bei jedem Alarm musste er als kleiner Junge viele Stunden allein in dem dunklen, kalten und schmutzigen Kohlekeller verbringen, denn seine Betreuerin wollte nicht mitgehen. Aber auch sonst hat er seine Eltern sehr vermisst. Er fühlte sich oft einsam, denn es gab niemand, der ihm in der Angst Trost und Nähe schenkte.
Nach dem 2. Weltkrieg ging er nach Israel, wo er noch einmal vier Kriege erlebte und selbst als Soldat diente. Auch diese Zeit war nicht einfach, sagt Ilan Brunner, aber diese Kriege wurden vor allem entlang der Grenze geführt und kamen bei Weitem nicht an die Schrecken des 2. Weltkriegs heran, wo auch die Zivilbevölkerung – auch in England – stark litt.
In den sechseinhalb Jahren in England hatte Ilan Brunner viel Freiheit. Dadurch dass die Frau viel mit ihrer Arbeit beschäftigt war, hatte er mehr Freiräume als Kinder normalerweise haben. Dass er eines Tages mit dem Zug allein quer durch England zu Verwandten fahren durfte, machte ihn stolz. Er bekam damals etwas Geld in die Hand gedrückt und dann hat man ihm erklärt, wo er umsteigen und welches Taxi er nehmen muss. Unangenehm war ihm, dass er überallhin seine Gasmaske mitnehmen musste.
Seine Eltern hatten viel Glück und bekamen – da sie keine Kinder hatten - 1940 die offizielle Erlaubnis der Nazis, nach Palästina auszuwandern. So gut es unter den damaligen Umständen möglich war, hielten sie Briefkontakt.
Die Eltern lebten nach der Emigration in einem der neuen Viertel von Tel Aviv. Als Ilan Brunner nach den gut sechs Jahren in England zu ihnen kam, war er fasziniert von dem neuen Haus. Er fühlte sich ganz glücklich. Sie hatten zwar nur zwei Zimmer, aber im Gegensatz zu dem alten Gebäude in England gab es fließendes Wasser und elektrisches Licht.
Nach dem Abitur ging Ilan Brunner zum Militär, wo er 55 Jahre diente. Am Anfang seiner Dienstzeit war er Fotograf, aber da er mehrere Sprachen konnte wurde er später Militärsprecher. Eine seiner Hauptaufgaben war die Begleitung von deutschen Besuchern z.B. zu verschiedenen israelischen Stützpunkten. So kam er erstmals in Kontakt mit deutschen Soldaten, die auch schon in der Wehrmacht gedient hatten. Als er im Bus als Offizier – und somit als lebender Beweis dafür, dass ihre Politik der Endlösung gescheitert ist – vor den deutschen Militärs steht, empfindet er auch Stolz. In den ersten Jahren waren viele der deutschen Besucher betreten, wenn er so vor ihnen stand und erzählte. Denn eigentlich waren sie ja Gäste von ihm und seines Landes, und sie wussten nicht so Recht, wie sie sich verhalten und damit umgehen sollten. Manche kamen auch nach der Fahrt mit Tränen in den Augen zu ihm und baten um Verzeihung, für all das, was geschehen war. Auch ihn bewegen diese Erinnerungen heute noch.
Auf der anderen Seite hat er viele der deutschen Besucher – Militärs, einfache Besucher und Regierungsmitglieder – die er im Laufe der Jahre begleitet hat, nach ihrer Geschichte gefragt. Aber bis heute haben alle geantwortet, dass sie zwar Soldaten waren, aber an der Ostfront gedient und nie von Auschwitz und den Vernichtungslagern gehört hätten. Erst nach dem Krieg hätten sie davon gehört und gelesen. Nicht einer war dabei, der bekannt hätte »ja ich habe davon gewusst und war dabei«.
1960 kehrt Ilan Brunner das erste Mal für einen Besuch an der Münchner Universität nach Deutschland zurück. Er macht die Feststellung, dass in den Geschichtsbüchern dem 2. Weltkrieg und der Zeit des Nationalsozialismus meist nur ein Kapitel gewidmet ist. Es wird darüber diskutiert, ob die deutsche Bevölkerung überhaupt wusste, was alles während der Jahre des Nationalsozialismus passiert ist. Im Gespräch mit Studenten und anderen Leuten berichten manche ihm davon, dass sie ihre Eltern gefragt haben, was sie denn in diesen Jahren gemacht haben. Und meist kam keine Antwort. Für Ilan Brunner war dieses Schweigen eine unangenehme Erfahrung. Er weiß, dass der heutige Geschichtsunterricht anders aussieht und ist froh darüber.
Niki Winton hat bis zum Kriegseintritt Englands versucht, Kinder aus Deutschland herauszuholen. Dann hat er alle Unterlagen auf dem Dachboden verstaut und ist in die britische Luftwaffe eingetreten. Viele Jahre nach Kriegsende entdeckte Wintons Frau die Dokumente auf dem Dachboden. Nicholas Winton selbst hatte sie schon längst vergessen. Im Gespräch mit einem Journalisten berichtete sie dann von der Geschichte und so verbreitete sie sich. Niki Winton war zu dem Zeitpunkt schon fast 80 Jahre alt. Von der BBC wird er zu einer Sendung eingeladen. Winton sitzt in der ersten Reihe und der Moderator geht zu ihm hin und fragt ihn, ob er denn jemand unter den Gästen kenn. Winton schaut sich um und verneint dann. Da sagt der Moderator: »Hier sitzen über 200 Menschen, denen Sie das Leben gerettet haben.« Als die längst erwachsen gewordenen Kinder von damals aufstehen, um ihn zu begrüßen und ihm zu danken, war das war ein sehr bewegender und wichtiger Moment (s. Link unten zum Kurzfilm auf Youtube).
Auch in Israel fand ein großes Treffen statt, das die einstigen Kinder für und mit Niki Winton organisierten. Jede und jeder brachte einen Gegenstand mit, den er oder sie mit der Zeit in England verband. Einer hatte bspw. eine Bibel dabei, ein anderer ein Gebetsbuch. Ilan Brunner aber brachte zwei Enkelkinder mit und sagte zu Niki Winton »das sind deine«. Als sie beim Mittagessen beieinander sitzen, gehen ihm Gedanken durch den Kopf und er fragt sich, wie er jemandem danken kann, der ihm das Leben gerettet hat. Einfach »Danke« sagen – macht das Sinn? So fragt er Niki Winton schließlich und dessen Antwort lautet schlicht: »Du hast dich schon bedankt.«
Viele der Menschen, die heute in Israel leben, wissen es zu schätzen, was Organisationen wie Zedakah tun, und er möchte sich ausdrücklich dafür bedanken, denn das Leben heute in Israel ist auch nicht ganz einfach.
In seinem beruflichen Leben hatte Ilan Brunner viel mit den Medien zu tun. Er war Fotograf und Journalist und hat viel geschrieben. Und so weiß er, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte, weshalb er auch einen Kurzfilm mitgebracht hat, der aufzeigt, was es bedeutet, wenn Kinder und Eltern getrennt werden. Was geht in den Herzen vor, was spüren die Eltern und was spüren die Kinder? Wie groß ist der Schmerz, selbst wenn die Eltern sich freiwillig dazu entschieden haben, die Kinder wegzugeben, um sie zu retten? (Aus rechtlichen Gründen ist der Ausschnitt aus dem Film »Landgericht – Geschichte einer Familie« nicht in diesem Papierblatt-Beitrag enthalten.)
Das Projekt »DisraeliS« ermöglicht verwundeten Soldaten und verwaisten Eltern, die Kinder beim Militär verloren haben, einen Aufenthalt in Deutschland bei Organisationen und Privatpersonen. Anliegen dieses Projekts ist es, ein Band der Liebe und des Verständnisses zwischen dem deutschen und israelischen Volk zu knüpfen und zu stärken. Ilan Brunner weiß, dass heute eine andere Generation von Menschen in Deutschland lebt als damals, und er spürt, dass viele Deutsche heute ein großes Herz für Israel haben.
Manchmal fragt er sich, was wohl seine Eltern dazu gesagt hätten, dass er ein Projekt gemeinsam mit dem Volk macht, das seiner Familie so viel Leid zugefügt hat. Über 50 Familienmitglieder hat er verloren. Da er seine Eltern nicht mehr fragen konnte, hat er seinen Bruder gefragt und der hat ihm geantwortet: »Wenn Du das, was Du tust, aus Überzeugung machst und glaubst, dass es das Richtige ist, dann würden sie ihre Hand darauf legen."