Interview am 22. Juli 2013 in Shavei Zion, Israel
Mascha Schapirstein wurde im litauischen Tauroggen (jiddisch Tavrik), einer jüdisch geprägten Kleinstadt, geboren. Ihre Mutter war schon sehr jung an Tuberkulose erkrankt und starb, als Mascha erst drei Jahre alt war, obwohl der Vater viel Geld für die medizinische Behandlung ausgegeben hatte. So wurden sie und ihr kleiner Bruder Nathan von der Großmutter großgezogen, auch eine Tante lebte noch im Haushalt.
Als die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, floh der Vater mit der Familie aus Tauroggen. Unterwegs wird Mascha Schapirstein von einem Bombensplitter schwer am Bein verletzt. Die Flucht endet im Ghetto Schaulen. Warum sie nicht gleich bei der ersten Selektion das Todesurteil erhielt, verstand sie nicht. Sie nahm es einfach als ihr unerfindliches Schicksal an, dass sie dem Tod mehrfach von der Schippe springen konnte.
Mascha Schapirstein wurde von Vater und Bruder getrennt, die Oma verstarb an Krebs. Vereinzelt fand sie Hilfe bei Mitinsassen und auch Wachleuten. Ihr Weg führte sie nach Landsberg und Dachau. Als der Krieg zu Ende war, begegnete sie einem Deutsch-Amerikaner, der für die US-Armee arbeitete und ihr bei der Suche nach ihrem Vater half.
Als sie ihn wiederfand, beschloss der Vater gegen ihren ausdrücklichen Wunsch, nach Litauern zurückzukehren. Er hatte immer noch die Hoffnung, seinen Sohn zu finden. Doch den heimkehrenden Juden wurde mit viel Misstrauen begegnet. Es war schwer, Arbeit zu finden. Besser wurde es erst, als Mascha Schapirstein in die kommunistische Jugendorganisation eintrat.
Mitte der 1950er Jahre heiratete sie, die Familie beschloss nach Israel auszuwandern. Mit einiger Verzögerung gelang es ihnen, so dass sie, ihr Mann und ihr Vater sich in Israel ein neues Leben aufbauen konnten.
Mascha Schapirstein ist in Tauroggen (jiddisch Tawrig, litauisch Taurage) in Litauen im Grenzgebiet zum damaligen Deutschen Reich und Polen geboren. Ihre Mutter war sehr schwer an Tuberkulose erkrankt. Der Vater bezahlte jeden Tag 10 Mark, damit seine Frau ein Bad nehmen konnte. Trotzdem starb die Mutter mit nur 27 Jahren. Mascha war zu dem Zeitpunkt 3 Jahre alt. Als Hitler 1933 an die Macht kam, war es von da an unmöglich ins Deutsche Reich zu reisen, wo es bessere medizinische Möglichkeiten gab. Mascha blieb zusammen mit ihrem kleinen Bruder, dem Vater, der Oma und einer Tante zurück.
Versorgt wurden sie von der Oma. Im Dezember 1940 machten sie um Mitternacht das Radio an, als Hitler eine Rede hielt. Er sagte: »Was rot ist muss schwarz werden.«. Und so wie sie in der Nacht aufgestanden waren – Mascha nur mit einem Nachthemd bekleidet – holte der Vater das Pferd mit dem Wagen, lud alles auf und machte sich mit der Familie auf den Weg in den Osten. Sie wussten nicht wirklich, wohin sie gehen sollten, der Vater beschloss dann nach Riga zu ziehen. Von dort aus gingen sie jedoch wieder zurück bis an die Grenze Litauens. Bei Ponewiesch (jiddisch Pojnewesch, litauisch Panevezys) kamen sie an ein Haus, das weder Fenster noch Türen hatte. Mascha Schapirstein vermutet, dass es ganz neu gebaut worden war. Als sie bei dem Haus standen, fiel eine Bombe. Mascha Schapirstein stürzte auf einen jungen Mann und begrub ihn unter sich. Sie stellte fest, dass es ihr einfach ein Stück Fleisch aus dem Bein gerissen hatte. Wenn sich die beiden heute begegnen, sagt er jedes Mal: »Wegen dir bin ich unverletzt geblieben.«
Sie gingen dann wieder aus diesem Haus, weil sie ein besseres Versteck finden wollten. Aus dem Haus nebenan hörten sie Rufe »Mein Bruder, mein Bruder.« Der Vater trug sie dorthin und sagte zu der Frau, schau mal, wie schwer dieses Mädchen verletzt ist. Er ging in das Haus und suchte irgend-einen Lappen oder Verbandszeug, um ihre Wunde zu verbinden. Das Haus war vier Stockwerke hoch, und sie waren unten im Keller. Mascha war noch ein kleines Mädchen, das zu weinen begann, weil die Verletzung so schrecklich weh tat. Die Frau rief daraufhin: »Nur wegen dir wird man uns jetzt bombardieren, man wird uns hören, weil du so schrecklich weinst.«
Der Vater lud sie wieder auf den Wagen, um mit der Familie weiterzuziehen. Doch die Nazis erwischten sie und hielten sie an. Man befahl ihnen, vom Wagen zu steigen und sich am Graben aufzustellen, der ihr Grab werden sollte. Mascha selbst konnte wegen ihrer Verletzung nicht vom Wagen herabsteigen. Aber als es dunkel wurde, sagte man ihnen, sie sollten gehen. Und so gingen und gingen sie immer weiter, bis sie nach Schaulen (litauisch Siauliai) kamen, wo inzwischen ein Ghetto eingerichtet worden war.
Beim Eintritt in das Ghetto bekam jeder eine Karte. Wer eine gelbe Karte erhielt, blieb am Leben, wer eine weiße bekam, wurde zur Vernichtung weitertransportiert. Aus unerfindlichen Gründen – vielleicht auch einfach aus Glück – hat Mascha Schapirstein eine gelbe Karte bekommen. Sie wurde zur Arbeit im Hauptverpflegungslager der Deutschen eingeteilt. Doch sie konnte einfach nicht arbeiten gehen. Aus ihrer Wunde wucherte wildes Fleisch. Den Gestank, der aus ihrer Wunde strömte, konnte sie selbst kaum ertragen.
Im Ghetto befand sich auch ein Arzt und auf dem Friedhof wurde eine Art Lazarett eingerichtet. Dieser Arzt meinte zu ihr: »Wir fragen, ob es nicht möglich ist, dass Du in ein Krankenhaus kommst, um ein Röntgenbild anfertigen zu lassen. Sie ging immer wieder hin und fragte wegen einem Röntgenbild. Aber zur Antwort bekam sie nur, dass keine Zeit sei oder sie keinen Platz hätten, um ein Röntgenbild zu machen. Schließlich meinte der Arzt zu ihr, er müsse ihr jetzt das Bein abnehmen. Aber Mascha wehrte sich gegen eine Amputation, auch wenn der Arzt wie ein zweiter Vater zu ihr war. Sie sagte: »Ich muss doch sowieso sterben mit einem Bein. Also kann ich auch mit zwei Beinen sterben.«
Dann begann die Selektion der Kinder. Mascha Schapirstein war schon oben auf dem Lastauto, als ein hoher SS-Mann namens Förster kam. Er sagte, sie solle wieder runterkommen und nicht in den Tod gehen, denn wer solle dann für ihn arbeiten. Der SS-Mann Förster hatte Schuhe mit Spikes an, mit denen er ihr einen Tritt in die Wunde gab, als sie ausgestiegen war. Durch diesen Tritt wurde das wilde Fleisch aus der Wunde herausgerissen. Mascha hatte starke Schmerzen und das Bein blutete fürchterlich.
Doch am nächsten Morgen war der Fuß wie durch ein Wunder in Ordnung. Vielleicht konnte die Wunde endlich heilen, nachdem das schlechte alte Fleisch alles herausgerissen worden war. Für Mascha Schapirstein war es ein Wunder.
Anfangs gab es zwei Lager. Als die zusammengelegt werden sollten, aber nicht alle Platz hatten, wurde ein Teil einfach zur Vernichtung weiter geschickt. Zunächst wurden sie in das KZ Stutthof gebracht. Bevor sie dort hingekommen sind, verteilte ihr Vater die Habseligkeiten der Familie. Mascha Schapirstein bekam einen Ring – einen in Gold gefassten Brillanten - von Ihrer Mutter. Beim Bruder versteckte er eine goldene Kette im Schuh, den er anschließend wieder so zuklebte, dass man nichts sah. Er sagte zu den beiden, dass wenn sie eines Tages befreit würden, sie diese Schmuckstücke ihren Befreiern geben sollen.
Dann wurde Mascha Schapirstein zusammen mit 200 anderen Frauen in ein Zimmer gesperrt, das nicht besonders groß war. Es war drückend heiß und alle Frauen waren in Sekundenschnelle durchschwitzt. Sie mussten sich ausziehen. Und als sie dann nackt dastanden, kamen die SS-Leute. Auch eine Frau mit einer Peitsche war dabei. Diese peitschte Mascha Schapirstein aus, bis ihr ganzer Rücken voller Blut war. Der Grund war, dass sie den Ring nicht von ihrem Finger runter bekommen konnte, weil er so eng war. Daraufhin zogen sie ihr den Ring mit Gewalt vom Finger, so dass der Knochen herausschaute.
Wer einen Rock bekam, der bekam keine Unterhose. Sie selbst erhielt einen äußerst kurzen, grauen Rock, mit dem sie sich ganz nackt fühlte. Es waren Polen da, die ihr helfen wollten. Sie boten ihr einen Gürtel an und wollten ihr helfen, aus dem Lager zu kommen. Doch Mascha meinte, sie wolle in keinem Fall gehen, denn der Vater und der Bruder seien ja noch im Lager.
Die 200 Frauen mussten sich in vier Reihen aufstellen. Dann kamen wieder SS-Männer. Diesmal ritten sie hoch zu Ross durch die Reihen, um nach starken Frauen Ausschau zu halten. Und je nachdem wie der Mann zu ihr stand, drehte sie das Gesicht, so dass er nicht das volle Gesicht sah. Sie hatte Angst, dass er sehen würde, wie jung sie war. Vom Vater hatte sie noch Schuhe mit Absätzen bekommen, damit sie größer wirkte.
Dann mussten sie zur Toilette. Neben ihr in der Reihe stand eine ältere Frau. Als sie von der Toilette zurückkehrte, winkte ihr der SS-Mann zu. Sie erschrak fürchterlich, weil sie dachte, das bedeute jetzt ihren Tod. Er hieß sie so und so herumzugehen und sich zu beugen. Und weil sie glaubte, es würde sowieso mit ihrem Tod enden, nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte zu dem SS-Mann: »Du hast doch sicherlich auch Kinder.«
Das ließ den Mann aufmerken. Er sagte zu Mascha: »Wenn sie dich irgendwo hinnehmen wollen, dann ruf mich.« Er hieß sie in die Reihe mit den Leuten zu treten, die zur Arbeit gingen. Da gab es nun zu essen. Allerdings war es Futter, das sonst die Kühe bekommen – aber nicht einmal normales Gras, sondern es schmeckte schlimmer. Aber da der SS-Mann sie von seinem Pferd aus beobachtete, mussten sie das aufessen. In dem Moment, als er sich umdrehte, spuckte sie es wieder aus.
Als sie mit den 200 Frauen marschierte, sah sie in einiger Entfernung den Vater. Sie konnten sich Zeichen geben und er signalisierte, dass ihr Bruder Nathan nicht mehr bei ihm war. Später erfuhr sie, wie sie ihren kleinen Bruder verloren hat. Auch wenn sie sich als Jüdin dafür schämt, scheut sie sich trotzdem nicht, davon zu erzählen. Im Lager, wo ihr Vater und Nathan untergebracht waren, gab es einen polnischen Juden, der bereits seine Kinder verloren hatte. Der sagte zu ihrem Vater: »Wenn ich schon keine Kinder mehr habe, dann sollst Du auch keinen Sohn mehr haben.« Er ging zur Gestapo und sagte ihnen, dass im Lager ein kleiner Junge versteckt sei. Daraufhin wurde Nathan abgeholt und sie haben nie mehr etwas von ihm gehört.
Sie kamen dann ins Lager Landsberg, wo alle möglichen Verbrecher, z.B. auch politische Gefangene, untergebracht waren. Als sie da lief, winkte sie auf einmal ein SS-Mann zu sich her. Sie erkannte ihn als den SS-Mann Förster, der ihr mit seinen Nagelschuhen in die Wunde getreten hatte. Wieder dachte sie, das wäre jetzt ihr Ende – aber er hat sie weitergeschickt. Sie wurden zur Arbeit in einer Waffenfabrik eingeteilt. Ihr Vater arbeitete in der Fabrik und Mascha dort in der Küche. Sie waren in zwei verschiedenen Lagern untergebracht. Der Vater hatte keine Strümpfe in seinen Schuhen an. Mascha Schapirstein fand Unterhosen, die sie ihm zusammenschnitt. Sie versuchte, ihm diese selbstgemachten Socken zukommen zulassen. Aber als sie noch am Schreiben war, kam ein Mann dazu, der noch schlimmer war als die SS. Er hatte eine braune Uniform mit einem Hakenkreuz darauf an und wollte von ihr wissen, was sie da geschrieben habe. Sie antwortete, dass sie ihren Vater gefunden habe, und dass das Paket für ihn sei. Doch das stimmte nicht ganz. Eine Frau, die etwas hinter ihr stand, nahm den Zettel und übersetzte ihn für den Aufseher. Der merkte, dass er von Mascha Schapirstein belogen worden war. Beim Lügen erwischt zu werden, war normalerweise ein Todesurteil. Er sagte zu ihr, sie solle ihm folgen. Während sie so gingen, kamen sie an einem Uhrmacher vorbei, der eine goldene Uhr hatte. Die bot er dem Aufseher an, wenn er dafür Mascha am Leben lassen würde. Auch ein Maler, den sie trafen, bot ihm an, ein wunderschönes Bild zu malen, wenn er Mascha verschonen würde. Aber seine Antwort war: »nein!«
Sie wurde dann doch mit den anderen zusammen zur Arbeit genommen. Als sie um vier Uhr fertig waren, nahmen sie Abschied voneinander. Mascha Schapirstein war sich sicher, dass sie jetzt in den Tod gehen würde. Doch dann wurden sie als Gruppe ins Lager gelassen. Sie erschraken, weil sie dachten, dass nun alle zusammen sterben müssten. Es stellte sich aber heraus, dass der Soldat doch die Uhr und das Bild genommen hatte. Jedoch machte er deutlich, dass er sie nie wiedersehen wolle.
Danach kam sie in die Küche der SS, wo sie die Kartoffeln schälte. Immer wieder wurden ihr Bonbons und andere Süßigkeiten, die sie mit den anderen teilte, zugesteckt. Die Deutschen mochten sie, weil sie das einzige Kind war. Auch vom Schweinefleisch wurde ihr etwas zugeteilt, was ihr aber gar nicht gut bekam. Obwohl sie nur einen Biss davon nahm, wurde sie ganz gelb. Die Deutschen riefen: »Gelbsucht« und hatten Angst sich anzustecken. Also musste sie wieder zurück ins Lager.
Im Lager gab es ein Lazarett, wo man sie unterbrachte. Vier Wochen durfte man dableiben. War man nach vier Wochen nicht gesund, gab es nur noch die Öfen. In diesem Lager gab es auch eine Küche, wo man sie aber nicht so freundlich behandelte. Doch mithilfe von Zucker und Kartoffelschalen wurde sie wieder gesund. Sie und ihr Vater hatten je ein Paket aus der Schweiz erhalten, in dem Zigaretten und andere Dinge waren, die der Vater eintauschte – unter anderem eben in Zucker und Kartoffeln.
Dann stand mal wieder ein Tag an, an dem sich die Frauen waschen mussten. Sie wurden zusammengetrieben und mussten sich ausziehen. Die SS-Leute beobachteten sie dabei. Einer davon, der Hans hieß, rief: »Mädchen, was ist denn mit Dir? Du bist ja so traurig.« Eine hohe und eine niedrigere SS-Frau waren auch dabei. Als sie nach Stutthof kam, hat sie 25 Kilo gewogen. Eine der Frauen hat sie irgendwie liebgewonnen. Sie meinte auch, wenn das ein Junge wäre, dann wäre er nicht hier gelandet. Irgendwo fand sie ein Rasiermesser. Mit ihren zwölf Jahren beschloss sie für sich, wenn sich jemand an ihr vergehen würde, dann würde sie sich die Venen aufschneiden.
Diese eine SS-Frau veranlasste, dass sie wieder in der Lagerküche arbeiten und dort eine Frau mit geschwollenen Beinen ersetzen sollte. Mascha Schapirstein hatte aber gemerkt, dass diese Frau sie mochte und ihr etwas Gutes tun wollte. Deshalb fasste sie ihren Mut zusammen und sagte zu ihr: »Wenn du wirklich etwas Gutes tun willst, dann beschäftige uns beide.« Dann ist sie weggerannt. Es war mitten in der Nacht und es war kalt. Wenn das die Gestapo gesehen hätte, hätten sie sie sofort aufgehängt.
Irgendwie hat sie es geschafft, dass der Vater in ihr Lager kam. Sie hat noch darum gebeten, dass man ihrem Vater nichts von dem Vorfall erzählt. Aber andere Gefangene sind dann erst recht zu ihrem Vater gelaufen und haben ihm davon berichtet, was sie gesagt und wie sie gehandelt hat. Doch er reagierte anders als sie befürchtet hatte – er war sehr stolz auf seine Tochter.
Sie meint, es sei im April 1945 gewesen, als das Lager dicht gemacht wurde und man sie zunächst in die Tiroler Berge zum Sterben schicken wollte. Doch irgendwie fehlte der Lagerleitung die Kraft und so wurden die Häftlinge nach Dachau geschickt. Sie kamen tagsüber in Dachau an, aber anderntags wurden sie schon wieder weitergeschickt. Die Männer haben sie nicht mehr gesehen, es waren nur 200 Frauen. Aber sie haben sich geweigert zu gehen. Sie haben eine Art Demonstration gemacht und gesagt: »Wenn es kein Wasser gibt, dann bleiben wir hier.«
Mascha Schapirstein war so müde, dass sie sich in einen Schneehaufen legte. Als sie den Blick in den Himmel richtete, sah sie dort Flugzeuge mit weißen Fahnen. Und als sie umherblickte, sah sie auch keine SS-Aufseher mehr. Sie rief: »Leute wir sind schon befreit!« Doch dann kamen die Deutschen wieder zurück, weil sie Angst vor den Bomben hatten. Die sagten dann zu den Frauen, sie sollten noch 200m weitergehen, da hätte es Wasser. An der Stelle fanden sie ein Loch mit ganz schwarzem Wasser vor. Doch das war den Frauen egal. Sie stürzten sich darauf und tranken es leer. Nach kürzester Zeit war kein Wasser mehr da. Dann wurden sie in ein Gebäude geführt. Was sie nicht wussten war, dass sich unter ihnen eine Waffenfabrik befand. Mascha Schapirstein hörte Geräusche von einem Motorrad und rief wieder: »Leute, wir sind befreit!« Aber die anderen dachten nur, was will dieses verrückte Mädchen. Sie meinten, sie solle aufhören. Aber Mascha sprang auf und rannte zur Tür, wo sie einem englischen Soldaten in die Arme lief.
Dieser Soldat wollte sie mit zu seiner Mutter nehmen, damit die Leute sehen, wie die Kinder hin-eingekommen und wie sie herausgekommen sind. Doch sie verstanden ihn nicht richtig. Hinter diesem Soldaten tauchte noch ein schwarzer Soldat auf, der ihr ein Fahrrad brachte.
Mascha Schapirstein machte sich auf die Suche nach ihrem Vater. Unterwegs wurde sie von Deut-schen angesprochen, die auch auf der Flucht waren. Einige meinten: »Da wo ihr hingeht, wird man euch umbringen.« Aber Mascha erwiderte kühn: »Nein, jetzt wird man uns nicht mehr umbringen.«
Neben ihr hielt ein Volkswagen. Am Steuer saß ein Deutscher, der zeitlebens in Amerika gelebt hatte, und neben ihm ein jüdischer General. Der Fahrer fragte sie: »Wo geht ihr hin?« und Mascha antwortete, dass sie ihren Vater suche. Da schaute der Mann auf seine Uhr und meinte, er müsse diesen General noch zur Armee ins Lager bringen. Aber um vier Uhr wollte er wieder zurück sein und sie mitnehmen.
Neben dem Platz, wo sie dem Auto begegnet sind, war ein Haus. Der Mann klopfte mehrmals, doch niemand öffnete die Tür. Da trat er sie einfach ein. Drinnen stand eine Frau in SS-Uniform. Der Mann schrie sie an: »Wie konntet ihr einfach sechs Millionen Juden umbringen? Dazu noch solche Kinder darunter!« Die Frau gab ihm zur Antwort: »Wir haben nichts gewusst.« Aber er schrie sie an: »Was, du hast nichts gewusst – in so einer Uniform!« Er hat nochmals gesagt, dass er um vier wie-der da sein wird. Doch zuerst ging er im Haus noch auf die Suche nach Essen und brachte es ihnen. Sie trauten sich aber nicht, das Essen anzurühren, weil sie Angst hatten, dass es vergiftet wäre. Außerdem ließ sie die Gegenwart der Frau zittern. Sie saßen einfach da und warteten, bis es end-lich vier Uhr war.
Tatsächlich tauchte er um vier wieder auf und nahm sie mit. Aber sie musste sich erbrechen, wes-halb sie darum bat, hinter dem Auto drein laufen zu dürfen. Aber er lachte nur und gab ihr eine Tüte, in die sie reinspucken sollte. Er fragte sie, wo sie suchen sollten. Aber Mascha Schapirstein war fremd im Land und kannte sich nicht aus.
In einer Pause gingen sie wieder in ein Haus. Dort saß ein dicker Mann bequem auf einem Sofa. Der Fahrer ging zu ihm hin und packte ihn am Schlafittchen. Er fragte auch ihn: »Wie könnt ihr hier so bequem sitzen? Und dann nehmt ihr Kinder und steckt sie ins Lager.« Er solle sich das Mädchen anschauen, wie die Kinder dann herauskommen. 57:25 Der sagte dann, sie müssten zurück in eine Schule fahren, wo Himmler einen Schwur getan habe.
Letztlich wurden sie von den Amerikanern befreit. Sie trafen auf eine Menschenmenge, in der sie einen Mann in einem braunen Mantel sah, den sie für ihren Vater hielt. Mascha Schapirstein rief »Abba« und der Mann drehte sich auch um. Aber es war nicht ihr Vater.
Man hat sie und ihre Freundin nach München gebracht. Einige haben zu ihnen gesagt, sie sollen wieder in ihre Heimatorte zurückkehren. Es waren aber auch Leute aus Palästina da, die sagten zu ihnen: »Ihr müsst nicht mehr in die Länder zurückkehren, in denen ihr geboren wurdet. Es gibt Palästina, da gehören wir hin.«
Dann traf sie ihren Vater. Er plante wieder zurück nach Litauen zu gehen. Doch Mascha wollte ihn davon abhalten. Sie sagte, wenn Nathan noch hinter dem Eisernen Vorhang lebt, dann könnten sie ihn von hier herausholen. Aber wenn sie auch hinter den Vorhang gehen würden, dann käme niemand von ihnen mehr heraus. Der Vater meinte jedoch nur, sie sei ein Egoist. Auch andere redeten auf den Vater ein und wollten ihn davon abhalten, nach Litauen zu gehen. Er ließ sich aber nicht umstimmen, und so zogen sie los. An der Grenze trafen sie auf einen Schwarzen, der ihnen ebenfalls sagte, dass Russland nicht gut und Amerika besser sei.
Hinter der Grenze wurde der Vater zunächst eingesperrt. Man nahm ihm die Kleider ab und kontrollierte, ob er Geld oder Wertsachen dabei habe. Alles, was sie noch hatten, nahmen ihnen die Russen ab. Auch Mascha wurde durchsucht. Sie hatte noch ein Bild von sich in Sträflingskleidern. Selbst das musste sie abgeben.
Als sie in Wilna (heute Vilnius) ankamen, hielt man sie für Spione. Egal wo sie hinkamen, nie bekamen sie Arbeit. Immer wurde ihnen vorgeworfen, sie seien Spione. Ihr Haus stand sogar noch. Aber auch als sei da hinkamen sagte ein Soldat zu ihnen: »Ihr werdet das Haus nicht wiederbekommen, ihr seid Spione. Warum seid ihr überhaupt noch am Leben?« Ihr Vater war aber nicht um eine Antwort verlegen und fragte den Mann, ob er in der Armee war. Der antwortete mit »ja«. Dann wollte ihr Vater wissen, ob er auch an der Front gewesen sei. Wieder war die Antwort »ja«. Darauf erwiderte ihr Vater: »Komisch, dass du dann noch am Leben bist.« Da hat der Mann dann doch unterschrieben, dass sie ihr Haus wieder zurückbekommen würden.
Sie blieben dann zunächst in dem Haus, obwohl es keine Fenster und Türen mehr hatte. Ihre Schuhe waren oben noch gut, aber unten hatten sie fast keine Sohle mehr. Von einem Freund bekamen sie Geld, von dem sie drei Monate lang leben konnten. Maschas Vater fand Arbeit, aber für sie gab es keine. Da machte sie ihrem Vater den Vorschlag, in die Jugendorganisation der kommunistischen Partei einzutreten. Sie hoffte dadurch das Stigma einer Spionin loszuwerden. Das klappte auch, sie bekam sofort Arbeit. Aber den Bruder fanden sie nicht mehr.
1956 wollten sie dann nach Israel auswandern. In der Zeit hat sie auch geheiratet, zunächst saßen sie aber zwei Jahre in Polen fest, so dass sie erst 1959 nach Israel kamen. Der Mädchenname von Mascha Schapirstein ist Gos. Ihr Vater Elijahu starb 1985 in Israel. Die Großmutter starb im Ghetto an Krebs. Über den Verbleib des kleinen Bruders Nathan weiß sie nichts. Dann berichtet Mascha Schapirstein noch von ihrer Familie. Sie hat eine Tochter, die Zahnärztin ist. Ihr Sohn malt und ist im IT-Bereich tätig. Von ihm hat sie zwei Enkeltöchter und von der Tochter drei Enkelsöhne. Einer ist Bankkaufmann und einer ist am Kammertheater tätig. Der jüngste Enkelsohn kam jetzt in die Armee. Die ältere der Enkeltöchter wurde kurz vor der Aufzeichnung mit 22 Jahren aus der Armee entlassen. Die jüngere beginnt gerade ihre Laufbahn als Ausbilderin bei der Armee.
Mascha Schapirstein entschuldigt sich, falls sie unangenehme Dinge gesagt haben sollte. Die heutigen Zuhörer gehörten ja nicht mehr zu der Generation an, die die Verbrechen begangen hat.
Wenn heute am Holocaust-Gedenktag Feiern stattfinden, dann kann sie das nicht anschauen. Sie hat dabei immer noch das Gefühl, man würde sie gleich in das Loch reinwerfen. Auch sonst gibt es immer wieder Tage, die für sie sehr schwer sind. Sie sagt, das ist einfach unauslöschlich ein Teil des Lebens, und man kann nicht anders, als damit leben. Es lässt sich nicht ändern, man muss damit vorwärts gehen. Es fällt ihr auch heute noch schwer, von diesen Sachen damals mit Gestapo, SS und anderen zu erzählen. Die Zuwendung und Wertschätzung, die sie in Shavei Zion (Anm. von Deutschen) bekommt, findet Mascha Schapirstein bemerkenswert – als ob all das Schlimme nie passiert wäre.