Interview am 19. Mai 2019 in Maalot, Israel
Rachel Miller wurde am 21. Dezember 1928 in Brünn geboren. Ihre Mutter Marina war Kinderärztin und der Vater, Rudolf Goldman, Militärarzt in der Stadt Opava im Dreiländereck Tschechien, Deutschland und Polen. Sie hatte eine zwei Jahre jüngere Schwester, Edith. Ihr Bruder Franz war sieben Jahre jünger. Lange Zeit lebten die Menschen dort im Grenzgebiet größtenteils friedlich miteinander, erst mit dem Machtaufstieg Hitlers nahmen die Spannungen zwischen den Ethnien zu, ebenso wie die Feindseligkeiten gegenüber den Juden. Mit der Eingliederung des Sudetenlandes ins Deutsche Reich begann für Rachel Miller ein langer Leidensweg, der sie in die Konzentrationslager von Theresienstadt, Auschwitz und Bergen Belsen führte. In Auschwitz wurde sie von der Mutter und den Geschwistern getrennt, und war von da an auf sich alleine gestellt. Nach Kriegsende kehrte sie zunächst zusammen mit ihrer Großmutter nach Brünn zurück, ehe sie sich auf den Weg nach Israel machte.
Rachel Miller wurde Ende Dezember 1928 geboren. Sie empfand es als Nachteil, weil sie immer ein Jahr jünger war als die meisten. Ihr Vater, Rudolf Goldman, war als Militärarzt ein hoher Offizier der tschechischen Armee. Aufgewachsen ist Rachel Miller im Grenzgebiet von Tschechien, Polen und Deutschland, wo auch viele Deutsche lebten. Lange Zeit war das kein großes Problem. Die Schüler in der Schule lernten Deutsch, die Straßen trugen tschechische und deutsche Namen und ihre beste Freundin war ein deutsches Mädchen. Aber die Spannungen nahmen mit dem Machtaufstieg Hitlers und der Agitation des sudetendeutschen Führers Henlein schon vor Ausbruch des Krieges zu – zunächst nicht zwischen den Juden und der übrigen Bevölkerung, sondern vor allem zwischen Deutschen und Tschechen.
Die Familie von Rachel Miller fühlte sich zuerst als Tschechen und erst dann als Juden. Die erste negative Erinnerung im Zusammenhang mit ihrer Religion ist ein Erlebnis aus der zweiten Klasse, als ein Junge sie mit seiner Feder stach und zu ihr sagte: »Du dreckige Jüdin.« Da weinte sie sehr und wollte nicht mehr in die Schule. Aber ihr Vater war ein Militär und meinte zu seiner Tochter: »Weißt Du warum Gott dir zwei Hände gegeben hat? Die Hände hast du zum Zuschlagen.« Da war ihr klar, dass er nicht mit in die Schule kommen würde, sondern sie sich selbst verteidigen muss. Aber zu diesem Zeitpunkt hat sie sich noch lange nicht anders gefühlt als andere tschechische Kinder.
Mit dem Münchner Abkommen 1938 fiel ihre Heimatstadt an die Deutschen und die Familie zog weg. Sie blieben zwar noch in der Tschechei, aber es war nicht mehr das gleiche Leben wie zuvor. Einen Tag bevor die Grenze zur Slowakei abgeriegelt wurde, fuhr die Mutter zum Vater nach Opava. Das Problem war, dass sie dann beide nicht mehr zurück konnten. Erst nach einiger Zeit schafften es die Eltern über Rumänien, Jugoslawien und Österreich wieder, zu ihrer Tochter Rachel zurückzukehren. Der Vater verlor seine Arbeit. Es gab kein tschechisches Militär mehr, und als normaler Arzt durfte er nicht praktizieren. So suchte er sich als Arbeiter im Dorf Beschäftigungen.
Zu dem Zeitpunkt dachte noch niemand, dass das Ganze noch weitergehen würde. Doch dann fingen die Einschränkungen für Juden an. Es begann zunächst langsam – zuerst mussten die Juden alle Radios, die warme Winterkleidung und alle Wertsachen abgeben. Im Dorf hat man das zunächst nicht so gespürt, weil alle arm waren und nichts hatten. Anfangs besuchte Rachel Miller dort auch die tschechische Schule, bevor das jüdischen Kindern untersagt wurde. So hat sie dann bei der Großmutter in der Stadt gelebt und da das jüdische Gymnasium besucht.
Ihr Vater hätte als Angehöriger des tschechischen Militärs die Möglichkeit gehabt nach England zu gehen. Es durften aber keine Kinder unter drei Jahren mitreisen. Rachel Millers Bruder war aber noch unter drei Jahre alt, so dass die Familie in Tschechien blieb und diese Möglichkeit nicht nützte.
Der Vater wurde zu verschiedenen Anlässen herbeigerufen. Einmal hatte sich ein Pferd verletzt, als ihn der Besitzer um Hilfe bat. Rachel Millers Vater kam und half. Doch der Vorfall musste gemeldet werden, und der begutachtende Veterinär sah gleich, dass das Pferd nicht von einem Tierarzt genäht worden war. Aber das Pferd, was für die Menschen damals einen hohen Wert besaß, hat überlebt.
Die Diskriminierung der Juden nahm immer mehr zu. Sie mussten sich einen Davidstern auf die Kleidung aufnähen, und die Ausweise der jüdischen Bewohner wurden mit dem Namenszusatz »Sara« bei Frauen und »Israel« bei Männern versehen. In den Städten durften die Juden nicht mehr in den Wohnungen leben, die zur Hauptstraße hingingen. Auch der Wohnraum wurde begrenzt. Rachel Millers Großmutter blieb von da an nur noch ein Zimmer, so dass die Enkeltöchter nicht länger bei ihr wohnen konnten. Ihre Schwester beendete daraufhin den Schulbesuch, aber zu ihr sagte der Vater: »Du musst lernen. Du musst! Du musst die Beste sein in der Schule, du bist die Tochter eines hohen Offiziers.« Er ließ ihr keine Wahl, auch wenn Rachel der Schulweg sehr schwerfiel. Jeden Morgen musste sie zunächst sieben Kilometer bis zum Bahnhof laufen, und dann nochmals eine Stunde mit dem Zug fahren. Sie hat sich in der Schule sehr angestrengt, aber schließlich wurde auch diese Schule geschlossen.
Danach ging sie nochmal eine Zeit lang in die tschechische Schule. Der katholische Pfarrer hatte sie herbeigerufen, als sie spazieren lief. Er fragte sie, warum sie denn nicht die Schule besuche, es sei schließlich für ein 10jähriges Mädchen gefährlich, in der Kälte und mit all den Soldaten in der Stadt alleine herumzulaufen. Sie antwortete ihm, dass sie Jüdin sei, woraufhin er erwiderte, sie lernten doch dasselbe. So kam es, dass sie noch einmal zur Schule gehen konnte. Der Pfarrer war ein Heiliger für sie und sie genoss seinen Unterricht sehr. Allerdings fiel er von diesem hohen Sockel, als ihr die etwas ältere Nachbarin eines Tages die beiden Kinder zeigte, die der katholische Priester mit zwei seiner Köchinnen hatte. Für Rachel Miller war es ein sehr unsanftes Erwachen, dass ihr Heiliger doch nur ein ganz gewöhnlicher Mensch war.
In Theresienstadt hat man schon auf ihre Ankunft gewartet, denn dort brauchten sie Ärzte. So blieb die Familie von Rachel Miller – im Gegensatz zu vielen anderen, die gleich nach Polen gebracht wurden – in Theresienstadt. Der Vater arbeitete wieder als Arzt. Ins Lager kam ein Mann, der Leute suchte, die verschiedene landwirtschaftliche Arbeiten verrichten konnten. Rachel Miller war da zwar erst zwölf Jahre alt, aber sie konnte alles – auch Ziegen melken – obwohl sie das vorher nie gemacht hatte. So übernahm sie immer mehr landwirtschaftliche Tätigkeiten.
In einem Dorf in der Nähe von Theresienstadt vermuteten die Nationalsozialisten die Attentäter des Anschlags auf den stellvertretenden Reichsprotektor Heydrich. Zur Strafe wurden alle Männer über 15 Jahren umgebracht, genauso wie alle Hunde. Was mit den Frauen und Kindern geschah, weiß Ruth Miller nicht (Anm. Hrsg.: vermutlich schildert sie, was sie über die Liquidierung des Dorfes Lidice im Lager gehört hat). Die Arbeit in der Landwirtschaft tat ihr gut, man fühlte sich dabei ein Stück frei und nicht mehr eingesperrt.
Eines Tages sollte auch Rachel Millers Familie mit einem Transport nach Polen gebracht werden. Wohin die Transporte in Polen gingen, wusste von den Menschen in Theresienstadt niemand. Aber die Bauern, bei denen sie und andere arbeiteten, wussten es vermutlich, denn sie wollten die Leute nicht gehen lassen. Rachel Miller sagte zu ihrem Vater, sie hätte gute Arbeit und wolle dableiben. Da war sie 15 Jahre alt und diesmal stellte der Vater ihr die Entscheidung frei. Sie entschied sich dann doch mitzufahren.
Zu Auschwitz fehlen Rachel Miller zunächst die Worte. Noch gleich am Zug fand die erste Selektion statt, in der die Männer auf die eine Seite geschickt wurden, und die Frauen mit den Kindern auf der anderen Seite. Ihre Mutter hielt die beiden jüngeren Geschwister fest, weil sie Angst hatte, sie in der großen Menge von ungefähr 2000 Menschen zu verlieren. Zu Rachel sagte sie, sie solle hinter ihr gehen. Und so kam es, dass die Mutter mit den Geschwistern links ging, während sie selbst nach rechts ausgemustert wurde. Mehr braucht man dazu nicht mehr sagen, stellt Rachel Miller nüchtern fest.
Auschwitz sei so gewesen wie das, was man ihnen als Kinder immer als Hölle vorgezeichnet hatte. Jede Nacht sind sie draußen gestanden, weil es in den Baracken nicht genügend Platz gab. Meistens standen sie neben dem Krematorium, und so wussten sie auch schnell, was mit ihrer Familie passiert war. Auf all die Dinge, was man ihnen angetan hat, wie bspw. die Haare abgeschnitten, will sie gar nicht so ausführlich eingehen, weil sie davon ausgeht, dass das allgemein bekannt ist.
Ob es Tage oder Wochen waren, die sie dort so verbracht hat, weiß sie nicht mehr, weil sie mit der Ankunft in Auschwitz jedes Zeitgefühl verloren hat. Jedenfalls hat man nach einiger Zeit sie und andere Frauen woanders hingebracht. Dort weigerten sich einige der Frauen in die Baracke zu gehen und schrien »Gas, Gas.« Aber man prügelte sie in die Baracke hinein wo sie mit Kleidern ausgestattet wurden. Rachel Miller bekam ein Kleid, einen Mantel und ein paar Männerschuhe. Sonst gab es aber nichts – auch keine Unterwäsche.
Anschließend wurden sie zum Zug geschickt, dort bekamen sie das erste Mal nach Tagen wieder etwas zu essen – für jeden ein Stück Brot und ein Stück Wurst. Dann wurden sie in die Viehwaggons gepfercht. In jedem Waggon fuhren zwei SS-Männer mit. Wozu weiß Rachel Miller nicht, denn weglaufen konnte ja ohnehin niemand.
Einer der Wachleute fragte, wer Deutsch könne. Diese Mädchen setzte er neben sich und fing an zu reden. Er ermahnte sie durchzuhalten, denn der Krieg sei bald zu Ende. Durch die abgedichteten Fenster durch zeigte er ihnen, wie die zerbombten deutschen Städte aussahen. Das war 1944. Das erste, was der Wachmann zu ihnen gesagt hat, war, dass sie ihm ihr Brot geben sollten. Er würde es ihnen dann nach und nach wieder geben, aber für etwas Brot würden die Menschen hier töten. Tatsächlich handhabte er es so, dass er den Mädchen immer wieder ein bisschen von dem Brot gab. Rachel Miller berichtet, dass sich der Hunger sehr lange aushalten ließ, aber der Durst war besonders schlimm. Immer wenn der Zug stehen blieb, holte der Wachmann Wasser zum Trinken für alle. Zu den Mädchen, die Deutsch sprachen, sagte er, sie sollten Gott dafür danken, dass sie aus Auschwitz, diesem schrecklichen Platz, herausgekommen seien.
Nach zwei oder drei Tage kamen sie in Bergen Belsen an. Bei Nacht haben sie zunächst nicht gesehen, dass es ein Lager ist. Sie dachten, es wäre eine normale Station. Der deutsche Wachmann sagte wieder zu ihnen: »Haltet aus. Es kann nicht mehr lange dauern.« Da fragten sie ihn, warum er – trotz SS-Uniform - denn so anders wäre. Er gab zur Antwort, dass ihn seine Mutter so erzogen habe.
In Bergen Belsen gab es ein großes Lager. Sie selbst kamen in ein kleineres Lager mit zwei großen Zelten. Im ersten Zelt waren schon Leute, im zweiten hat man sie untergebracht. Ihr Platz war ganz am Rand, wo das Zelt am Boden befestigt war und man nur noch liegen und nicht mehr sitzen konnte. Der Boden war mit Stroh angefüllt. Einmal fing es stark an zu Regnen und ein heftiger Sturm zog auf. Rachel Millers Liegeplatz glich bereits einem Bassin. Als das Essen verteilt wurde, meldete sie sich schon gar nicht, weil sie dachte, bis das Essen in die hinterste Reihe kommt, würde sowieso nichts mehr für sie übrig sein. Dann nahm der Sturm immer mehr zu, bis das Zelt in der Nacht zusammenfiel. Rachel Miller sagt, sie sei mit ihren 15 Jahren kein guter Mensch gewesen. Sie schrie nur. Nun war es ihr Glück, dass sie ganz am Rand lag und unter der Plane herauskriechen konnte. Sie hatte solche Angst vor dem Sturm, dass sie nur daran denken konnte, ein Stückchen Mauer zu suchen, wo sie vor dem Sturm geschützt wäre. Dort saß sie dann die ganze Nacht. An die anderen im Zelt dachte sie nicht, wie sie zugibt – ihre Gedanken kreisten nur um sich selbst und die eigene Furcht. Bis heute bezeichnet sie sich als »windkrank« – wenn es stürmt, ergreift sie Panik.
Am nächsten Morgen kam eine junge Frau auf den Platz und rief alle Mädchen, die Deutsch konnten, zu sich. Sie brachte die Mädchen dann doch in Baracken unter. In diesen gab es kleine Pritschen, immer drei übereinander. Auf jeder der Pritschen mussten sie zu dritt liegen.
Bergen Belsen gehörte damals zur Wehrmacht und nicht zur SS. Die Situation im Lager beschreibt sie als eine große Unordnung. Es gab keine richtige Arbeit, die Aufträge, die sie bekamen, machten keinen Sinn. Bspw. führten die Wegarbeiten nur dazu, dass die Wege bei Regen unbrauchbar wurden. Doch wichtig war – was sie zweimal betont - »Aber es gab kein Gas.«
Wer wirklich krank war, der wurde nicht wieder gesund. Neben ihr lag eine Frau, die ihre Haare noch hatte. Woher der andere kam, fragte man nicht – das spielte keine Rolle mehr. Diese Frau war ihr sehr sympathisch. Sie sang ihr immer wieder ein Lied vor. Nach dem Krieg fragte Rachel Miller in Bergen Belsen nach dem Lied. Ihr wurde geantwortet und sie bekam sogar eine Cassette dazu. Sie erfuhr, dass das ein Lied war, das die deutschen Häftlinge sangen. Vermutlich war die Frau also eine nichtjüdische Deutsche.
Eines Tages sagte die Frau zu ihr, dass sie sich heute nicht gut fühle, und nicht zum Zählappell, den es zweimal am Tag gab, gehen würde. Als Rachel Miller sich an diesem Tag abends wieder zu ihr auf die Pritsche legt, freut sie sich über das warme Bett. Dass die Frau Fieber haben könnte, daran hat sie nicht gedacht. Sie hat sich einfach über die wohlige Wärme gefreut. Als die Frau am nächsten Morgen nicht mehr aufwachte, nahm man sie mit auf´s Revier, wie es die Wehrmachtleute nannten. Nachmittags brachte man die Brille der Frau zu Rachel Miller und sagte ihr, die Frau sei gestorben.
Schlimm fand Rachel Miller auch die Kleiderläuse. Sie hat sich zwar jeden Tag mit kaltem Wasser gewaschen, aber das half nicht gegen die Läuse. Und so krabbelten die Parasiten weiter unangenehm auf der Haut umher.
Nach einiger Zeit kamen zwei Männer in zivil, die die Augen und Hände der Lagerinsassen untersuchten. Rachel Miller, die immer alles wissen wollte, fragte sie, warum sie das tun. Sie gaben ihr zur Antwort, dass man Arbeiter für feinmechanische Tätigkeiten suche. Rachel Miller war interessiert, aber die Leiterin der Baracke, der sie viel geholfen hat, gab ihr den Rat, sich lieber nicht darauf einzulassen, weil für niemanden ersichtlich war, um welche feinmechanischen Arbeiten es sich dabei handeln sollte. Außerdem wollte sie selbst auch gerne dableiben. Sie wusste, dass sie keine Angehörigen mehr hatte. Die Tschechinnen, mit denen sie gekommen war, waren jetzt ihre einzige Familie, die sie noch hatte, und von denen wollte sie sich nicht trennen.
Dann nahte das Kriegsende. Auschwitz war von den Russen aufgelöst worden und die Leitung des dortigen KZs kam nach Bergen Belsen. Sie brachten zwar kein Gas mit, aber Rachel Miller schildert, dass das Leben von Tag zu Tag schwerer und die Strafen immer härter wurden. Aber man lebte immerhin, meint sie.
In den letzten Tagen übersiedelten sie noch in eine – wie Rachel Miller sie beschreibt – herrliche Baracke, die richtige Fenster und eine Toilette hatte. Allerdings war die Baracke nicht für so viele Menschen ausgelegt. Sie vermutet, dass diese Baracke ursprünglich für verwundete Soldaten gedacht war, so gab es für ungefähr 2000 Leute nur eine einzige Toilette. Kein Wunder, dass diese nach einem Tag bereits kaputt war.
Dann hieß es, dass die erfassten Personen weggebracht würden und sie alle Gegenstände – wie Blechschüsseln, Handtücher und Decken - die sie bekommen hatten, abgeben sollten. Sie wurden in eine Baracke eingesperrt. Eine der Frauen, die früher Krankenschwester in Theresienstadt war, hatte schlimme Abszesse an den Füßen. Bei der Kontrolle sagte man zu ihr: »Du fährst nicht mit.« Doch sie wollte unbedingt mitfahren und versteckte sich zwischen den anderen. Aber die Kontrolleure entdeckten sie und warfen sie über den Zaun in den Schnee, um sie ins Lager zurückzuschicken. Ob die Frau überlebt hat, weiß Rachel Miller nicht. Aber sie sieht sie noch durch den tiefen Schnee gehen und weinen, weil sie so gerne bei den anderen bleiben wollte.
Die Gruppe ging weiter zum Bahnhof. Dort gab es Baracken mit Kleidern, die die Frauen versuchten durch die Fenster herauszufischen. Sie selbst ergatterte den schönen weißen Schmuckkragen eines Kleides. Dann ging es zum Zug. Wohin der fuhr, wusste niemand, aber dem Gefühl nach ging es wieder nach Osten Richtung Polen. Und das war für die Frauen ein schreckliches Gefühl. Die Wachen im Zug waren keine SS-Soldaten mehr, sondern alte Männer.
Nach zwei oder drei Tagen kamen sie an den großen Bahnhof von Dessau. Vom Zug aus sahen sie die vielen Haltestellen. Ihr Zug fuhr nochmals einige Minuten, ehe er zum Stehen kam. Dann wurde die Lokomotive abgekoppelt. Rachel Miller erinnert sich noch an die schreckliche Kälte im Zug. In der Frühe wurden die Türen geöffnet. Diesmal gab es kein Geschrei, keine Schläge und keine Hunde, obwohl SS-Leute vor den Waggons standen. Wieder einmal wurden sie gezählt.
Neben der Bahnstation gab es zwei Baracken. Rachel Miller berichtet, dass sie weder in Auschwitz noch in Bergen Belsen geweint habe, aber beim Eintritt in die Baracke kamen ihr die Tränen. Nicht nur dass sie geheizt war und auf den Pritschen Strohmatratzen mit zwei Decken lagen, zutiefst gerührt hat sie der Anblick der Teller mit Löffel, die für jeden hingerichtet worden waren. Es war für sie, als ob sie in diesem Moment ihre Menschwürde wieder ein Stück zurückbekommen hat.
Zwei Tage lang durften sie sich ausruhen, dann wurden sie untersucht und zur Arbeit ausgemustert. Rachel Miller war nicht kräftig genug zum Arbeiten, weshalb sie Aufgaben in dem kleinen Lager übernahm. Es gab viele, die in die Fabrik gegangen sind. Sie brachten bspw. Brot und Kohle in die Baracken. In der Nähe waren die großen Junkers-Werke, die auf viele – auch zivile – Gebäude verteilt waren. So konnte weitergearbeitet werden, selbst wenn ein Teil der Gebäude durch Bombenangriffe zerstört wurde. Rachel Miller war zufrieden mit ihrer Arbeit: es war still, niemand hat geschlagen und niemand hat geschrien.
Doch wurde sie eines Tages von einer anderen Frau, die mit ihr aus Bergen Belsen gekommen war, schrecklich angeschrien. Diese beneidete sie und fuhr sie an, was für ein schönes Leben sie hier im Lager führe, während sie arbeiten müsse. Also tauschten die beiden. Rachel Miller gefiel die Arbeit in der Fabrik gut. Es war warm und auch dort brüllte niemand herum. Aber das Beste war, dass sie mit den anderen Arbeitern, die nicht in einem Lager interniert waren, in der großen Kantine aßen. Diese hatten Radios und Zeitungen, und so bekamen Rachel Miller und die anderen etwas davon mit, was draußen in der Welt vor sich ging. Doch am allerbesten war, dass diese Arbeiter oft etwas von ihrem Essen (z.B. Brotstücke) auf den Tischen zurückließen. Da die Frauen aus dem Lager nach ihnen aßen, hatten sie so noch etwas zusätzlich zu ihrer Ration. Die Tische waren hinterher blitzblank.
Dann gab es nochmals eine Untersuchung, und wer nicht eingeschrieben war, der wurde geschlagen. Rachel Miller hatte zwar Gefallen an der Arbeit in der Fabrik – sie war ihr nicht zu schwer - aber geschlagen werden wollte sie nicht. Und so hat sie sich nicht gemeldet.
Mit zwei der Wachfrauen waren sie gut befreundet. Die erzählten ihnen davon, was draußen los war. Zum Beispiel berichteten sie von den Napalmbomben, deren Feuer wie Wasser lief. Sie meinten auch, dass die Russen nahen und das Ende nicht mehr weit entfernt sei. Außerdem gebe es zu wenig zu essen, weshalb sie überlegten, selbst Gemüse anzubauen. Rachel Miller erwähnte, dass sie ein bisschen was von Landwirtschaft verstehe, woraufhin die beiden Wachfrauen sie fragten, was sie denn benötigen würde. Sie sagte es ihnen und bekam tatsächlich alle benötigten Gerätschaften. Sie richtete ein schönes Stück Garten her, doch dann kam der Leiter und fragte: »Was machst du hier?« Rachel Miller antwortete, dass sie den Befehl bekommen habe, einen Gemüsegarten anzulegen. Seine Antwort versteht sie heute noch nicht, denn er hat alles zertreten und gemeint: »Einen Gemüsegarten brauchen wir, wenn der Weihnachtsmann kommt.« Sie hat sich wie eine Maus verhalten und sich gleich verzogen, um nicht geschlagen zu werden.
Eines Tages sagte eine der Wachfrauen: »Jetzt kommt ein ehemaliger SS-General. Gebt Acht, dass ihr nicht vor ihm sprecht, denn er spricht Tschechisch.« Doch er wollte nur eines: weit weg von den Russen. Aber weil das in Deutschland nicht ging - Soldaten, die ohne Papiere wegliefen, hängte man an Strommasten auf – gab es für ihn nur die Möglichkeit, die Lagerleitung zu übernehmen. Die Russen waren zu diesem Zeitpunkt schon sehr nahe. Rachel Miller und die anderen Frauen im Lager beteten schon, dass sie doch endlich kommen sollten.
Mit einem Lastwagen hat man die Leute dann zum Bahnhof gebracht. Rachel Miller war bei den Letzten, die noch im Lager waren. Sie hofften, dass die Russen doch endlich eintreffen mögen. Aber sie kamen erst drei Stunden, nachdem sie weggebracht worden waren.
Mit dem Zug kamen sie an einer Fabrik der I.G. Farben vorbei, als gerade ein Fliegerangriff stattfand. Ein Haus ganz in der Nähe der Gleise wurde getroffen, und da sah Rachel Miller zum ersten Mal die Wirkung der Napalmbomben – wie das Feuer wie Wasser aus den Fenstern und den Türen floss.
Dann kamen sie an den Hauptbahnhof. Die Waggons waren mit SS-Leuten vollgestopft, aber für das ganze Gepäck war kein Platz mehr. Die ganzen Koffer und Schachteln standen auf dem Bahnsteig herum. Da brachte man doch noch einen weiteren Waggon, in den das Gepäck und die Frauen eingeladen wurden. Wiederum wusste niemand, wohin der Zug fahren würde. Man merkte, dass das Ende nahte. Überall war Unordnung, ganz im Gegensatz zu früher, wie Rachel Miller betont, wo in Deutschland immer peinlichste Ordnung herrschte. Als ein Beispiel schildert sie, wie ein General einfach die Lok eines Personenzugs für sich nahm. Außerdem gab es kein Essen.
Dann fuhr der Zug los. Rachel Miller war zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich krank, sie fühlte sich sehr schlecht. Nach einer Weile hielt der Zug an, und sie durften aussteigen und ein wenig umher gehen. Weil die Sonne so schön schien, legten sie sich in eine nahe Wiese. Dort auf dem Feld sah sie auch einen Wegweiser, auf dem der Name einer tschechischen Grenzstadt stand. Zu ihrer Begleiterin meinten sie, sie solle dem Oberführer sagen, dass sie auf der Grenze zur Tschechei seien, und dass Theresienstadt ganz nahe sei. Sie solle fragen, ob man nicht dort hinein gehen könne, denn da waren sie schon vier oder fünf Tage unterwegs. Und wenn das nicht möglich ist baten sie, dann solle sie sie bitte gehen lassen. Sie waren 50 Tschechinnen (und somit nahe der Heimat, Anm. Hrsg.).
Rachel Miller wundert sich, dass Berlin zu der Zeit offensichtlich noch gearbeitet hat, denn sie bekamen den Befehl, nach Theresienstadt zu fahren. Allerdings wussten sie nicht, ob es nicht doch wie Auschwitz war, und sie in Theresienstadt vernichtet würden. Aber als sie die alten SS-Leute von früher dort wiedersahen, wussten sie, dass es nicht wie Auschwitz sein würde. Dann blieben sie erst mal dort.
In Theresienstadt herrschte noch Ordnung. Rachel Miller ging zum Oberarzt und fragte ihn nach ihrer Tante, die auch Ärztin in Theresienstadt war. Doch er sagte nur: »Sie ist nicht [mehr].« Nie in ihrem Leben war Rachel Miller so unglücklich wie damals. Sie war 14 Jahre alt und wollte so gerne jemand haben, der sie, und an den sie sich halten kann. Die Menschen in Theresienstadt waren wirklich in Ordnung, betont Rachel Miller. Man hat ihr geholfen und hat sie ins Krankenhaus gebracht, als sie »schon fast auf der anderen Seite war.«
Ein paar Tage danach kamen die Russen. Sie haben aufgeräumt und zum Beispiel alle Kleider mitsamt den Läusen verbrannt. Kurz darauf war auch der Krieg vorbei. Sie selbst erlebte diese Zeit mit Fleckfieber im Krankenhaus. Die Russen waren auch bei den Kranken gründlich – wer wieder gesund war, musste anschließend noch sechs Wochen in Quarantäne.
Als Rachel Miller wieder rauskam, traf sie ihre Großmutter. Diese war die einzige, die von all ihren Verwandten am Kriegsende noch am Leben war. Die Großmutter begrüßte sie mit Küssen und fragte, wo die anderen seien. Rachel Miller gab zur Antwort: »Die leben nicht mehr.« Daraufhin sah die Großmutter sie an und sagte: »Du lügst.« Die beiden haben niemals mehr darüber gesprochen, was passiert war. Rachel Miller meint nur, dass man über solche Sachen nicht lügen könne. Aber die Großmutter hat das nicht verstanden.
Zusammen mit der Großmutter ging Rachel Miller in deren Heimatstadt Brünn zurück. Sie wollte gerne Krankenschwester lernen und meldete sich. Man sagte ihr, dass sie zuvor die einjährige Haushaltsschule absolvieren müsse. Also hat sich Rachel Miller dort eingeschrieben. Da war sie 15 Jahre. Für sie war es komisch, Menschen zu sehen, die Angst vor Prüfungen hatten. Nach dem Krieg gab es auch in der Tschechei sehr wenig Essen. Nahrungsmittel gab es nur gegen Karten. Man ging mit den abgeschnittenen Essensmarken ins Kaffeehaus, denn ohne die hätte man gar nichts bekommen.
Dann gab es ein Jugend-Ferienlager von UNRA, der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen, in den Bergen. Es kamen Leute aus dem Lager zur Großmutter, die sagten, sie solle Rachel mit ins Lager schicken. Aber Rachel Miller wollte das gar nicht. Doch die Großmutter erwiderte: »Fahr, vielleicht ist es dort schön. Zurückkommen kannst Du immer.« Also ist sie gefahren und es hat ihr sehr gefallen. Einer der Leiter dort war von der englischen Brigade, in der auch israelische Soldaten dienten. Dieser Betreuer erzählte viel von Palästina. Einmal sagte einer der Arbeiter etwas gegen Juden, woraufhin ihn dieser israelische Soldat schlug. Das war für Rachel Miller der Moment, in dem sie sich sagte: »Dahin gehe ich. In dieses Land, wo auch Juden zuschlagen dürfen, dahin gehe ich.« Sie war dann ein Jahr lang unterwegs, bis sie nach Palästina kam. Der Krieg war zwar aus, aber schlecht war es ohnehin überall. Vier Monate verbrachte sie in Wien, wo es auch kaum etwas zu essen gab. In Italien war es besser. Obwohl auch Italien in den Krieg verwickelt war, gab es hier genug zu essen. Wer eigentlich der Leiter dieser Gruppe war, mit der sie nach Palästina ausgewandert ist, weiß sie bis heute nicht.