Vortrag am 15. Mai 2002 in Sulz am Eck, Deutschland
Zvi Kalisher wurde 1929 als Kind polnischer Juden geboren und wuchs zusammen mit zwei Brüdern und einer Schwester in Warschau auf. Als er zehn Jahre alt ist, gab ihn seine Mutter in ein Kinderheim, wo er besser versorgt war. Als die Deutschen Polen besetzten, rettete ihm sein arisches Aussehen das Leben. Er kam zur Hitlerjugend, während seine Familie vermutlich ins Warschauer Ghetto deportiert wurde. Später versuchte er ohne Erfolg, sie dort zu finden. Er floh wieder aus dem Ghetto und schlug sich während der Kriegsjahre als Arbeiter auf Bauernhöfen durch. Sein Leben war unzählige Male bedroht, denn auch nach der Emigration nach Israel war sein Leidensweg noch lange nicht zu Ende. Es folgten gefährliche Jahre in der israelischen Armee und sehr schwierige Zeiten nach dem Ende seines Dienstes. Zvi Kalisher starb 2014, möge sein Andenken zum Segen sein.
Zum ersten Mal nach Deutschland kam Zvi Kalisher im Jahr 2000 als sein Buch erschien. Dieser Besuch in Deutschland ist erst sein zweiter in mehr als 50 Jahren. Seinen Weg nach Israel beschreibt er als eine lange »Via Dolorosa‘« – einen langen Leidensweg.
Er war zehn Jahre alt, als die Deutschen in Polen einmarschierten. Aber wenn er heute seine 14 Enkelkinder anschaut, hat er das Gefühl, dass er mit zehn die Erfahrung eines 30Jährigen besaß. Als die Deutschen kamen, haben sie aus den Häusern alles mitgenommen, was sie fanden -Lebensmitteln und Möbel – alles was nicht niet- und nagelfest war.
Zvi Kalisher lebte mit zwei Brüdern und einer Schwester in Warschau. Mit den Deutschen hielt auch der Hunger Einzug. Der 10Jährige Zvi konnte nicht verstehen, warum er immer Hunger leiden musste. Da sagte seine Mutter zu ihm, dass sie ihn in ein Kinderheim bringen würde, dort hätte er immer genug zu essen. Zvi Kalisher war blond und sah nicht wie ein Jude aus. Seine Mutter hielt ihn dazu an, dass er niemandem sagen solle, dass er Jude sei. Außerdem ermahnte sie ihn auf dem Weg zum Heim, dass er stark, dass er ein Mann sein müsse. Als sie das sagte, gingen ihre Worte in das eine Ohr hinein und durch das andere wieder hinaus. Aber später als der Besuchstag kam, und die anderen Eltern ihre Kinder besuchten, erinnert er sich wieder an die Worte. Denn er blieb allein, obwohl seine Mutter ihm doch versprochen hatte, ihn einmal in der Woche zu besuchen. Aber in der Erinnerung an ihre Ermahnung, dass er stark sein solle, schaffte er es, kein trauriges Gesicht zu machen und nicht zu weinen.
Ungefähr drei Monate später kamen die Deutschen in dieses Heim. Sie kontrollierten die Kinder. Aber da Zvi Kalisher mit seinen blonden Haaren wie ein Arier aussah, fiel er nicht auf. Sie nahmen die Kinder in der Hitlerjugend auf und gaben ihnen Uniformen mit Hakenkreuz. Sie mussten marschieren und singen. Das erste Lied, das er in der Hitlerjugend lernte, lautete: »Es war ein Mann mit grünen Füßen, die Nase krumm, die Haare grau. Das kann doch jeder Deutsche wissen, dass er Jude, dass er [muss] raus. Schmeiß hinaus die ganze Judenbande, schmeiß hinaus vom deutschen Vaterlande«. Für ihn war es ein ganz komisches, ungutes Gefühl da mitzusingen. Aber er sagt, er musste »singen wie die Flöte spielt«, sonst wäre er kaputt gegangen.
Etwa zwei Monate später wurden sie nach Berlin zu einer Parade geholt. Dort waren mehre-re hundert Kinder und Jugendliche beisammen. Es gab wieder eine Selektion. Ein Offizier schritt die Reihen ab. Zvi Kalisher war mit seinen inzwischen gut zehn Jahren neben den teils 14jährigen Burschen der Kleinste. Der hochgewachsene Offizier blieb vor ihm stehen und holte ihn aus der Reihe. Er wollte von Zvi Kalisher wissen, was er hier suche. Zvi antwortete ihm, er wolle ein deutscher Soldat werden. Da meinte der Offizier herablassend zu ihm: »Da musst du aber noch viel Milch saufen, bis du ein deutscher Soldat wirst. Mach´ dass du von hier weg kommst.«
Doch auch in dieser Situation erinnerte er sich wieder an die Ermahnung der Mutter, stark zu sein. Er nahm seinen Mut zusammen und fragte den Offizier, wie er ohne Geld nach Warschau kommen solle. Da sagte der Mann, er sei ein tapferer Junge. Er gab ihm etwas Geld und Lebensmittel, und meinte dann nochmal: »Jetzt schau aber, dass Du wegkommst.«
Am Bahnhof merkte er, dass sein Geld nicht genug war für eine Fahrkarte. Also fuhr er auf dem Dach des Zuges bis nach Warschau.
Als er in Warschau ankam, wollte er gleich zu seinen Eltern. Doch vor dem Elternhaus angekommen, sah er als erstes ein Schild, auf dem in Polnisch und Deutsch stand: »Zutritt für Hunde und Juden streng verboten.« Er ging trotzdem ins Haus. Die Menschen, die in den Räumen seiner Familie lebten, fragten ihn, was er hier wolle. Zvi Kalisher antwortete, dass er hier gewohnt habe. Sofort erkannten die Leute: »Ah du bist ein Jude.« Überall wurde den Polen in der Stadt auf Plakaten versprochen, dass sie für einen ausgelieferten Juden eine Flasche Wodka oder 2 kg Reis bekommen würden.
Zvi Kalisher suchte schnellstmöglich das Weite und lief weg. Aber er wollte gerne wissen, was mit seinen Eltern passiert war. Auf der Straße traf er einen früheren polnischen Mitschüler. Der wusste zwar nicht viel, aber er nahm ihn mit zu sich. Seine Eltern meinten, dass seine Familie sicher im Warschauer Ghetto sei. Das Warschauer Ghetto war kein Paradies. Er ging dahin, um sich das anzuschauen. Er sah die hohen Mauern und die Wachleute, und wusste, dass er auf dem Weg nicht reinkommen würde.
Aber Zvi Kalisher beobachtete, wie Kinder durch die Kanalisation raus und rein gingen. Das wollte er auch probieren. Man sagte ihm aber, dass er nicht auf eine Hochzeit kommen würde, und wenn er überleben wolle, müsse er Essen mitbringen. So wartete er sie ab, und zusammen zogen sie mit einem Sack in die Dörfer, wo sie Hühner, Kartoffeln, Obst – alles, was sie sahen – klauten.
Über die Kanalisation brachten sie die Waren nach drinnen. Die Ratten im Kanal beschreibt Zvi Kalisher als so groß wie Katzen. Mit Eimern auf dem Kopf schützten sie sich davor, dass die Ratten ihnen auf die Köpfe sprangen.
Als er das erste Mal ins Ghetto kam, konnte er das, was er sah, überhaupt nicht verstehen. Er fragte sich, wie es ein konnte, dass Skelette auf die Straße gehen, umfallen und sterben. Und nicht einer kam und fragte, ob er helfen könne. Niemand half ihnen auf, man ließ sie zum Sterben liegen, wie eine heruntergefallene Zigarettenkippe. Später kamen Arbeiter. Sie sammelten die Leichen mit Wagen ein und warfen sie auf Misthaufen – zu Tausenden.
Die Schmuggelware war zum Leben da, nicht um Geld zu machen. Zvi Kalisher suchte verzweifelt nach seinen Eltern, aber er konnte sie nicht finden. Eines Tages traf er auf einen Mann, den er von früher kannte. Er fragte auch ihn nach seinen Eltern, aber dieser gab ihm nur zur Antwort, dass es hier drin keine Mutter, keinen Vater und keine Geschwister mehr gebe. Jeder müsse nach sich selbst schauen, und wer das nicht könne, lande eben auf dem Misthaufen.
Er musste also kämpfen. Etwa sieben Monate haben sie so Lebensmittel ins Ghetto geschmuggelt. Aber dann wurde der Gestapo die Information gesteckt, dass durch die Kanalisation Waren geschmuggelt würden, woraufhin man die Zugänge abriegelte. Es kam keiner mehr rein und keiner mehr raus.
Auch Zvi Kalisher magerte immer mehr zum Skelett ab. Er sah sich schon auf dem Misthaufen und wusste, er musste etwas tun. Zu seinem Freund sagte er: »Lass uns abhauen.« Doch dieser erwiderte, er habe Angst. Für Zvi Kalisher war aber die Angst, so zu sterben, wie die vielen Menschen, die er auf der Straße verenden gesehen hatte, größer als die, erschossen zu werden. So wagte er sich in der Dunkelheit über die Mauer. Er hatte viel Glück – es waren keine Wachmänner zu sehen, und den Sturz aus vier Metern Höhe überstand er unbeschadet.
Doch auf der anderen Seite standen zwei Polizisten. Die waren aber so verdutzt, dass sie zunächst nicht wussten, was sie machen sollten. Diesen Augenblick nützte Zvi Kalisher um zu fliehen. Die Polizisten schossen noch nach ihm, aber er wurde bewahrt.
Auf der Flucht musste Zvi Kalisher sehr vorsichtig sein. Er konnte nicht die Straße entlanggehen, denn wenn jemand ein Skelett sehen würde, würde man sofort einen Entlaufenen aus dem Ghetto dahinter vermuten. So gut es ging, hat er sein Gesicht verdeckt. Als er zu einem gut bestückten Markt kam, konnte er nicht widerstehen. Er hat einen schnellen Sprint hingelegt und sich einen Korb mit Birnen genommen. Schnell ist er weitergelaufen. Der Besitzer war ein alter Mann, der keine Chance hatte, ihn einzuholen.
Am Abend fand er einen Keller, zu dem er sich Zugang verschaffte. Nach vielen Monaten war das das erste Fest für ihn, beschreibt Zvi Kalisher die Situation. Er hat gegessen so viel er konnte, bis sein Bauch zum Platzen gefüllt war. Dann schlief er ein.
Am nächsten Morgen drang etwas Licht in den Raum und er stand auf. Da merkte er, dass um ihn herum etwa 40 Tote lagen. Warum er in dieser Nacht so gut geschlafen hatte, das wusste er nicht, aber dass er »das Hotel« wechseln sollte, war ihm klar.
Er fand einen anderen Keller. Mit seinem (abgemagerten) Gesicht konnte er tagsüber nicht auf die Straße gehen, aber nachts machte er sich auf die Suche nach Lebensmitteln. Niemand gab ihm etwas. Er stahl Brot in einer Bäckerei und nahm am Bahnhof Koffer. So lebte er acht Monate, bis sein Gesicht wieder normal aussah. Da ging er ins Dorf und suchte Arbeit.
Im Dorf angekommen klopfte Zvi Kalisher an die Tür eines Bauernhauses. Der Bauer fragte ihn, was er wolle, und Zvi Kalisher sagte ihm, dass er Arbeit suche. Doch der Bauer schaute ihn an und meinte, dass er kein Babysitter sei.
Er ging weiter zum nächsten Hof und fragte dort den Bauern, ob er vielleicht einen Hirten brauche. Der antwortete ihm, dass er 40 Kühe habe, auf die er aufpassen könne. Der Mann war ein Volksdeutscher, und das erste, was er ihn fragte, war, ob er etwas Deutsch verstehe. Aber obwohl Zvi Kalisher schon etwas Deutsch konnte, verneinte er die Frage.
Sein Schlafzimmer war neben den Kühen im Stall. Morgens ging er mit den Kühen auf´s Feld. Die Frau des Bauern gab ihm Brot und eine Kanne Milch mit. Sie sagte zu ihm, wenn die Kanne leer sei, solle er zum Mittag heimkommen, sie würde sie wieder mit Milch auffüllen. Aber in der Kanne waren ca. 95% Wasser und nur wenig Milch. Also leerte Zvi Kalisher den Inhalt der Kanne weg, sobald sie fort war. Denn wozu war er zusammen mit 40 Kühen auf dem Feld, sagte er sich.
Zvi Kalisher arbeitete längere Zeit auf diesem Hof. Der Bauer hatte zwei Söhne, die an der Ostfront waren, und einen im gleichen Alter wie er. Dieser Junge rief ihm immer wieder Schimpfwörter hinterher, weil er dachte, er verstehe ihn nicht. Dabei hatte Zvi Kalisher inzwischen gut Deutsch gelernt, er wollte sich das aber nicht anmerken lassen.
Es kam der Winter, und es kamen die Läuse. Seine Haare waren zwischenzeitlich lang gewachsen, weshalb er den Bauern um 10 Pfennige bat, damit er sie sich schneiden lassen könne. Aber der gab ihm zur Antwort: »Du Polenschwein darfst kein Geld haben.« Wie er durch diese Zeit kam, weiß er nicht. Es hatte 20 Grad minus und während der Bauer eine dicke Mütze aufhatte, war er nur mit einem Hemd und einer kurzen Hose bekleidet. Die Nase lief ihm ununterbrochen.
Eines Tages sprach ihn der Briefträger an und fragte ihn, ob er ihm helfen wolle. Zvi Kalisher war misstrauisch, und wollte wissen, warum er ihm helfen solle. Der Mann erwiderte, dass sie zusammen gute Geschäfte machen könnten. Er erklärte ihm, dass er ihm Lebensmittel besorgen solle, und er im Gegenzug dafür Kleider bekommen würde. Auch für Polen war es schwer, an Milch, Eier und andere Lebensmittel zu kommen, und der Briefträger hatte Kinder. So kam es, dass Zvi Kalisher jeden Tag zehn bis zwanzig Eier und Milch stahl und an einem Platz hinterlegte. Dafür bekam er Kleider. Das war für beide ein gutes Geschäft.
Dann brachte der Briefträger einen Brief, der alles veränderte. Dem Bauern wurde mitgeteilt, dass seine beiden Söhne für das deutsche Vaterland gefallen waren. Zvi Kalisher, der selbst drei Söhne, eine Tochter und Enkelkinder hat, kann ein Stück weit verstehen, was diese Nachricht mit dem Mann machte. Er war völlig aufgebracht und suchte nach Rache. Zu seiner Frau meinte er: »Was sagst Du dazu, wenn ich das Polenschwein heute Nacht umbringe?« Sie antwortete: »Mach, was Du willst.« Beide dachten ja, er würde kein Deutsch verstehen.
Der Bauer sagte noch zu ihm, dass er am nächsten Tag nicht arbeiten dürfe, sondern sich einen Ruhetag nehmen müsse.
Da ging Zvi Kalisher nicht wie gewohnt in sein Schlafzimmer. Er wollte nicht warten, bis der Bauer kam, und ihm etwas antat, sondern er nahm sich einen Sack, füllte ihn mit Vorräten und lief weg.
Er kam zum Bahnhof, wo er wieder auf das Dach eines Zuges stieg und nach Warschau fuhr. Doch in Warschau fand er ebenfalls eine schwierige Situation vor – es war die Zeit des Aufstands im Warschauer Ghetto. Man verlud gerade alle Juden, die den Aufstand überlebt hatten, auf dem Umschlagplatz in Warschau in Züge, die sie in die Vernichtungslager Maidanek und Treblinka bringen sollten.
Zvi Kalisher machte sich wieder auf den Weg zu einem Bauernhof, um dort nach Arbeit zu fragen. Der Bauer fragte ihn, ob er landwirtschaftliche Arbeiten verrichten konnte. »Ja klar« war seine Antwort. Inzwischen war er ja auch etwas größer. So bekam er die Arbeit. Etwas Besonderes war, dass er mit der Familie am Tisch essen durfte, und nicht wie bisher wie ein Hund in der Ecke das Essen einnehmen musste.
Doch leider dauerte diese Situation nicht lange. Eines Tages kam ein Mann um die 40 und fragte ihn: »Hast Du die Deutschen gerne?« Zvi Kalisher wusste nicht, was er antworten sollte, denn der, der ihn fragte, konnte sowohl ein polnischer Partisan als auch ein Mann von der Gestapo sein. Er fühlte sich wie in einer Lotterie – was er auch zur Antwort gab, es konnte falsch sein. So versuchte er es mit der Gegenfrage: »Meinst Du, ich sollte sie auch küssen?« Die Begegnung endete damit, dass der Mann ihm eine große Schere gab, mit der Zvi Kalisher auf das Dach des fünf Kilometer entfernten Gestapo-Hauptquartiers klettern und dort die Drähte durchschneiden sollte. Angst hatte er keine, denn was hatte er schon noch zu verlieren. So stieg er mit der Schere auf das Dach – und alles ging gut. Bis zu dem Moment als er wieder vom Dach sprang und vor einem Mann in blauer Gestapo-Uniform mit Totenkopf landete. Der sagte: »Komm mal her Du polnischer Partisan, damit ich dich töten kann.« In dem Moment war er schon bis ins Innerste erkaltet. Man nahm ihn zum Rapport mit ins Hauptquartier.
Dort wurde er zunächst gefragt, ob er Deutsch spreche, worauf er erwiderte: »Nix Deutsch.« Der Offizier befahl ihm, sich hinzusetzen, und schob ihm ein Stück Schokolade hin. Er wusste schon, dass das eine Art Henkersmahlzeit war, auf die der Tod folgen würde. Zvi Kalisher aß die Schokolade. Dann kam ein Dolmetscher, der viel schlechter Deutsch sprach als er selbst. Er wusste, wenn er die Wahrheit sagen würde, würden sie alle Dörfer ringsherum niederbrennen, und ihn am Ende erschießen. Aber da hatte er schon keine Angst mehr zu sterben. Er dachte an all die Menschen in den Dörfern, und dass er ja nur einer sei. Und ihn würden sie sowieso erschießen. So antwortete er ihnen, dass er die Schere gefunden habe, und dann die Idee hatte auf´s Dach zu steigen, um die Drähte durchzuschneiden. Sie fragten viele Male nach, und er musste immer wieder das Gleiche erzählen. Schließlich traktierten sie ihn mit einem Gummiknüppel. Immer wenn er bewusstlos wurde, nahmen sie kaltes Wasser, damit er wieder zu Bewusstsein kam. So ging es etliche Male, aber er blieb bei seiner Antwort. Irgendwann sagte der Mann, der ihn schlug, zum Offizier: »Ich versetze ihm jetzt den letzten Schlag.« Doch der Offizier widersprach und sagte: »Ich lasse ihn jetzt frei, und zwei Männer werden ihm nachgehen.« Was die beiden nicht wussten, war, dass Zvi Kalisher jedes Wort, das sie miteinander sprachen, verstand. Der Dolmetscher teilte ihm mit, dass der Offizier ein netter Mensch sei, und ihn trotz allem was er getan habe, frei lasse. Zvi Kalisher bedankte sich daraufhin artig.
Als er aus dem Gebäude trat und seinen Körper betrachtete, dachte er, dass er höchstens noch ein oder zwei Stunden zu leben hatte. Es gab kaum eine Körperstelle, aus der er nicht stark blutete. Eine alte Frau, der er vor dem Gebäude begegnet, wollte ihm das Blut abwa-schen. Die Gestapo-Leute sahen die Frau und schnappten sie sich. Diesen Moment nützte Zvi Kalisher, um ein weiteres Mal zu entkommen.
Er lief zurück zu dem Bauern, von wo er untergekommen war. Dort legte er sich auf sein Bett. Nach einer Stunde merkte er, wie alles anschwoll und die Schmerzen kamen. Er versuchte ganz still zu liegen, denn auch um Hilfe rufen konnte er nicht. Irgendwann verlor er das Bewusstsein. Nach ungefähr sechs Stunden kam ein Arzt. Ihn hatten wohl die polnischen Partisanen geschickt, die aber zuerst noch abwarten wollten, ob ihm nicht Gestapo-Leute gefolgt waren.
Drei Monate wurde er von Ärzten gepflegt. Als er nach dieser langen Zeit endlich wieder aufstehen durfte, konnte er sich nur ganz ungelenk wie ein Roboter bewegen. Er fühlte sich hilflos und dachte, dass sein Leben zu Ende wäre. Aber als die Russen kamen, brachten sie ihn zum Roten Kreuz. Dort behandelten sie ihn über einen Monat im Krankenhaus und gaben ihm Medizin, die half.
Als er nach dieser Zeit wieder auf die Straße trat, dachte er, dass er keinen Juden mehr begegnen würde, nach allem, was er gesehen hatte. Aber es sah ihn jemand und fragte: Was suchst Du?« Zvi Kalisher erzählt ihm in einer Minute seine Geschichte. Daraufhin lud ihn der Mann in die jüdische Gemeinde ein und versprach ihm Essen und einen Platz zum Schlafen. Er kam, und es ging ihm dort gut. Die Gemeinde wurde von der UNRRA (Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen) unterstützt. Nach einer Woche bekam er eine Liste mit verschiedenen Zielländern. Er sollte angeben, wohin er auswandern wolle. Für Zvi Kalisher war klar: Israel. Doch das war zunächst nicht möglich, weil die Briten nur ganz wenige Einwanderer nach Palästina ließen, und aus diesem Grund auch immer wieder das Land nach illegalen Einwanderern durchsuchten. Sie mussten also sehr vorsichtig sein.
Doch schließlich kamen sie mit dem Zug in die kleine Hafenstadt Port-de-Bouc in der Nähe von Marseille in Südfrankreich. Zu dieser Zeit traf dort auch eine israelische Delegation ein. Die wollte sie für die israelische Armee verpflichten und versprachen ihnen viel – u.a. dass jeder von ihnen nach der Militärzeit einen Arbeitsplatz bekommen würde.
Als das Schiff, das sie nach Israel bringen sollte, eintraf, zeigte sich, dass das Schiff nur für 120 Leute ausgelegt war. Sie waren aber 600! Trotzdem gingen sie alle an Bord. Es gab starken Wellengang und wenig zu essen. Normalerweise brauchte man für die Überfahrt nach Haifa drei Tage, sie aber brauchten zwölf Tage. Und als sie dort zum Hafen kamen, fingen sie die Briten ab und brachten sie nach Zypern.
Auf Zypern hielt man sie acht Monate fest. Das was sie dort zu essen bekamen, war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Als sie dann nach dieser Zeit endlich nach Israel kamen, waren sie sicher, dass sie jetzt ihre Heimat betreten würden. Doch die Situation, die sie antrafen, war nicht einfach. Im Land waren ungefähr 500.000 Juden, viele von ihnen Holocaust-Flüchtlinge oder Überlebende. Um sie herum befanden sich starke Nationen wie Ägypten, Jordanien, Jemen, Irak und andere, die viel mehr Einwohner hatten. Und alle hatten sie nur ein Ziel – die Juden zu schlagen und sie ins Meer zu werfen.
Man brachte die Neuankömmlinge in einen großen Saal. Als alle gespannt dasaßen, kam ein Offizier mit zwei Soldaten, die die israelische Flagge trugen. Der Offizier ließ sie aufstehen und vereidigte sie. Gefragt, ob sie in der israelischen Armee dienen wollten, wurden sie nicht. Ohnehin war es in dem Saal wie in Babylon – jeder sprach seine Sprache und nicht alle konnten Hebräisch.
Anschließend wurden sie verschiedenen Abteilungen zugeteilt. Die einen kamen zur Marine, die aus Fischkuttern bestand. Die nächsten wurden der Luftwaffe zugeteilt, die mit kleinen PIPERs flog. Die dritte Gruppe war die Artillerie. Zvi Kalisher wurde als letztes eingeteilt. Zu ihnen sagte man: »Ihr werdet die beste Arbeit im Militär haben.« Diejenigen, die übrig geblieben waren, überlegten sich, was das wohl für eine Tätigkeit sein würde – vielleicht in der Kantine oder im Büro. Man sagte ihnen: »Ihr könnt nur einen Fehler machen.« Es zeigte sich, dass sie für den Minenräumdienst bestimmt waren.
Drei Tage später gab man ihnen – nach Zvi Kalishers Schilderung - Karabiner aus der Zeit Napoleons mit sieben Kugeln. Viele seiner Kameraden, die mit ihm in Zypern waren, sind gefallen.
Obwohl Israel nur eine kleine, schwache Armee hatte, siegten sie über die Araber. Zvi Kalisher verweist in dem Zusammenhang auf einige Bibelstellen im alten Testament, wo Gott seinem Volk Israel zusagt, dass es ihm im Kampf gegen mächtige Völker beistehen wird.
Aber – so sieht es Zvi Kalisher – als Israel erfolgreich war, schlug sich die UN auf die Seite der Araber und rief zum ersten Waffenstillstand auf.
Als er zum ersten Mal in die Hauptstadt Tel Aviv kam, war sie eine verlassene Geisterstadt. Alle waren beim Militär: Alte, Junge, selbst Frauen unterstützten die Armee freiwillig.
In der verlassenen Stadt traf er auf eine Frau, die ihm eine Bibel gab, und ihn ermunterte darin zu lesen. Er fragte sie, ob sie verrückt sei. Er hatte das Wort »Bibel« noch nie gehört und wusste nicht, warum er darin lesen sollte. Doch sie erwiderte: »Lies nur, dann wirst Du verstehen.«
Tatsächlich begann er zu lesen und traf auf Psalm 27, wo es heißt: »Der HERR ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten!« (Vers 1) und »Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf.« (Vers 10). Bis zu diesem Tag hatte er sich schon etliche Male gefragt, wer ihn bewahrt hatte. Mehrmals war er dem Tod geweiht gewesen, und viele Kameraden hatte er um sich herum fallen sehen. Er nahm die Bibel mit ins Zelt, wo er untergebracht war, und las sie im Schein eines kleinen Lichts. Es interessierte ihn einfach, er las sie wie ein Buch.
Als dann 1950 die zwei Jahre Militärzeit um waren, freuten sich viele Soldaten, dass sie nun zu ihrer Familie konnten. Aber er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Da er erinnerte er sich an das Versprechen, dass die Armee ihnen nach der Militärzeit Arbeit geben wollte. Und so beschloss er, nach Jerusalem ins Büro zu gehen. Dort wurde er gefragt, was er denn hier wolle. Er erinnerte sie an das Versprechen, das man ihnen gegeben hatte. Doch er wurde nur ausgelacht. Man hielt ihm vor, dass gerade auch viele Flüchtlinge aus dem Jemen kämen – mit Frauen und Kindern, die man auch unterbringen und mit Arbeit versorgen müsse.
Nach sechs Jahren Holocaust schreckte ihn auch diese Begegnung nicht mehr, doch sein Magen knurrte fürchterlich. Als er wieder raus auf die Straße ging, sah er fröhliche junge Menschen in Restaurants sitzen und essen. Da ging er auch in eines der besten Restaurants und bestellte so viel vom feinsten Essen, dass er fast platzte. Als er fertig war, brachte der Kellner eine »schöne« Rechnung. Zvi Kalisher schaute sie sich an, und meinte zum Kellner: »Jetzt möchte ich gerne noch den besten Wein.« Der Kellner macht ihm klar, dass der mehr kosten würde, als alles, was er gegessen hatte. Zvi Kalisher sagte, das sei egal, er solle ihn bringen. So brachte ihm der Kellner eine kleine Flasche Wein, die er leer trank. Er fühlte sich da auch schon etwas angeheitert. Schließlich kam der Kellner mit einer »noch besseren« Rechnung zurück. Zvi Kalisher schaute sie sich an und sagte zum Kellner: »Die musst du dem Verteidigungsminister bringen. Ich habe keinen Pfennig.« Daraufhin holte der Kellner die Polizei. Als die beiden Polizisten kamen, nahmen sie ihn mit ins Gefängnis. Dort fühlte er sich fast wie im 5 Sterne-Hotel. Er war versorgt und hatte ja ohnehin nichts mehr zu verlieren. Eine Woche konnte er so ungestört essen und schlafen.
Dann wurde er vor Gericht gerufen. Der Richter schaute ihn an und fragte ihn, was er gemacht habe. Zvi Kalisher gab ihm zur Antwort, dass er gegessen habe. Der Richter hielt ihm sein Vergehen vor und fragte ihn nochmal, was er dazu zu sagen habe. Schließlich wurde er noch einmal zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt, wofür sich Zvi Kalisher beim Richter bedankte.
Zwei Wochen später stand er wieder auf der Straße. Er ging zum Arbeitsamt, aber im Jahr 1950 war die Situation schwierig und er fand nichts. Also nahm er sich ein Zimmer in einem 5 Sterne-Hotel und genoss dort das Leben bei bestem Essen, das er immer auf´s Zimmer schreiben ließ. Doch nach zwei Wochen kam jemand von der Direktion. Er wurde gefragt, wie es ihm im Hotel gefalle, und ob das Essen schmecke – und wie lange er noch bleiben wolle. Er antwortete, dass alles hervorragend wäre, und er noch den ganzen Winter bleiben möchte. Da sagte man ihm, dass er aber noch nicht bezahlt habe, und er jetzt die Rechnung für die letzten zwei Wochen begleichen und auch die nächsten zwei Wochen im Voraus bezahlen müsse. Zvi Kalisher erwiderte nur, dass er nicht einen Pfennig habe, mit dem er bezahlen könne. Wieder rief man die Polizei. Einer der beiden Polizisten schaute ihn an und fragte: »Bist du nicht der aus dem Restaurant?«
Sie nahmen ihn dann wieder mit ins Gefängnis, wo man ihn schon willkommen hieß. Nach einer Woche stand er wieder vor dem Richter. Der fragte ihn: »Und was hast Du jetzt gemacht?«. Zvi Kalisher antwortete: »Geschlafen und gegessen. Es war sehr schön.« Der Richter wollte wissen, ob er sich denn nicht schäme. Aber Zvi Kalisher fragte: »Wieso? Ich habe gekämpft. Ich war verwundet. Sicher hast Du eine schöne Wohnung und ein Auto. Ich habe keinen Platz zum Schlafen, und ich soll mich schämen?!« Der Richter verurteilte ihn dieses Mal zu einem Monat Gefängnis. Zvi Kalisher Reaktion darauf war: »Jetzt hast du dich verbessert.« Er kam wieder ins Gefängnis, aber den Winter hatte er so zumindest überstanden.
Als er entlassen wurde, machte er sich wieder auf die Suche nach Arbeit. Aber es war fast unmöglich für einen alleinstehenden Mann Arbeit zu finden. Zuerst wurden die Arbeitssuchenden mit Familie genommen. Als der Hunger erneut zu groß wurde, ging er wieder in ein Restaurant, und das Spiel wiederholte sich. Der Richter schaute ihn erneut an und fragte ihn: »Und was jetzt? Wie lange werde ich dich sehen?« Zvi Kalishers erwiderte: »Ich werde dein Partner. So lange du mir keine Arbeit und einen Platz zum Schlafen gibst, so lange werde ich hier sein.« Tatsächlich schrieb der Richter daraufhin einen Brief an die Regierung, dass sie ihm doch Arbeit und einen Platz zum Schlafen geben sollen.
So kam Zvi Kalisher in ein Übergangslager ohne Toiletten, wo 15.000 jüdische Flüchtlinge untergebracht waren. Er kam mit zwei anderen jungen Männern in eine kleine Baracke. Eines Tages sagten sie, er solle sich auch am Kochen beteiligen. Zunächst weigerte Zvi Kalisher sich, weil er nur vom Minenwegräumen etwas verstand, nicht aber vom Kochen. Doch sie gaben keine Ruhe, und schließlich versuchte er es. Aber er ließ die Kochstelle zu lange unbeaufsichtigt, und als er zurückkam, war die Baracke niedergebrannt.
Normalerweise waren in den kleinen Baracken immer drei Personen untergebracht. Aber zu ihm sagte man dann, er solle sich um einen 80jährigen Auschwitzüberlebenden kümmern, und zu ihm in die Baracke ziehen. So waren sie nur zu zweit. Der alte Mann lebte immer noch wie im Konzentrationslager – was er nicht sofort essen konnte, versteckte er unter seiner Matratze.
In einer Nacht wachte Zvi Kalisher auf und hatte Durst. Er nahm eine Tasse und kippte ihren Inhalt aus dem Fenster, um sich dann aus einem großen Topf Wasser zu schöpfen. Am nächsten Morgen wurde er um 6.00 Uhr wachgerüttelt. Der alte Mann beschuldigte ihn, sein Gebiss gestohlen zu haben, und holte die Polizei.
Als die Polizisten kamen, schauten sie ihn an und fragten: »Und, was hast Du diesmal gemacht?« Er sagte, wie es war. Man brachte ihn daraufhin in einer anderen Baracke unter, wo viele junge Männer in seinem Alter waren.
Einmal in der Woche kam ein Mann in diese Baracke und gab eine Bibelstunde. Er hatte ja schon eine Bibel und auch darin gelesen – aber nie wirklich verstanden, was er da las. Erst langsam begriff er jetzt, was da stand. Eines Tages kam er auf der Straße an einer Gebetsgruppe vorbei, die auf Hebräisch betete: »Im Namen Jesu Christi.« Auch die deutschen Soldaten hatten auf ihrem Gürtelschloss stehen »Gott mit uns«. Das brachte er jetzt nicht zusammen, wie diese Juden auch zu Jesus beten konnten. Er ging zum Pastor und fragte ihn. Der meinte zu Zvi Kalisher, das würde er jetzt noch nicht verstehen, aber er solle einfach regelmäßig kommen. Doch auch nach einem Jahr war sein Kopf noch voll mit Gedanken daran, wie er nach Europa gehen und Rache dafür nehmen würde, dass er seine ganze Familie verloren hatte. Aber im dritten Jahr hat er Jesus als seinen Erlöser angenommen und begriffen, was Vergebung ist. Seine Pläne, nach Europa zu gehen, um sich zu rächen, hat er aufgegeben. Stattdessen wurde er reich gesegnet. Er hat geheiratet und vier Kinder sowie 14 Enkelkinder bekommen.
Zvi Kalisher und seine Familie wohnten sehr beengt mit sechs Personen in einem kleinen Zimmer. Eines Tages kam ein Freund zu ihm und berichtete von einem größeren, schöneren Zimmer mit elektrischem Strom. Sie nahmen das Zimmer, obwohl es in einer Gegend lag, wo viele ultraorthodoxe Juden wohnten. Nach einigen Tagen klopfte ein Mann mit langem Bart und traditioneller Kleidung an der Tür, um die neuen Nachbarn zu begrüßen. Er hatte ebenfalls den Holocaust überlebt. Um Zvi Kalisher zu einem guten Juden zu machen, besuchte er ihn regelmäßig mit seinen jüdischen Schriften. Er wollte geduldig sein, aber einmal zeigte Zvi Kalisher ihm dann doch seine Bibel. Der orthodoxe Jude warf ihm daraufhin vor, dass er dieses Gift verbreiten wolle. Er nahm jüdische Jungen, die im orthodoxen Glauben erzogen wurden, mit, und zeigte ihnen Zvi Kalisher – den Mann, der seiner Meinung nach das Gift des christlichen Glaubens verbreiten wollte. Der hatte danach immer wieder Probleme. Seine Sachen wurden zerstört und Steine wurden auf ihn geworfen. Seine Frau und die Kinder hatten große Angst, die Wohnung zu verlassen. Sie wollten wegziehen.
Dann hört Zvi Kalisher in der Nacht einen Schrei, der ihn auffahren ließ. Es war der Nachbar, der ihm die großen Schwierigkeiten gemacht hatte. Als er in dessen Zimmer kam, sah er ihn starr vor seinem Bett auf dem Boden liegen. Zvi Kalisher bekam es mit der Angst zu tun. Er überlegte sich, dass die anderen jetzt bestimmt denken würden, er habe Rache genommen. Doch als er zu dem Mann hintrat, schaut der ihn an und sagte: »Vergib mir.« Anstatt die Situation auszunützen, brachte Zvi Kalisher ihn ins Krankenhaus. Als er am nächsten Tag von der Arbeit heimkam, saß der Mann bei seinen Kindern und passte auf, dass niemand Steine warf.
Zvi Kalisher meint, dass seine Kinder nicht mit einem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen seien, sondern gerade wegen ihres Glaubens oft Probleme in der Schule, bei der Arbeit und auch beim Militär hatten. Einer seiner Söhne hatte zum Beispiel einmal in der ersten Klasse eine Auseinandersetzung mit einem anderen Jungen. Der Lehrer kam und fragte ihn, was er gemacht habe. Doch der Junge sagte: »Ich schwöre bei Jesus Christus, dass ich nichts getan habe.« Der Lehrer, ein orthodoxer Jude, fragte ihn, wie er zu diesen Worten komme, und bestellte die Eltern ein. Zvi Kalisher und seine Frau versuchten dem Lehrer ihren Glauben, und wie sie dazu gekommen waren, zu erklären. Aber der Lehrer bezeichnet sie als Verräter und hasste von da an alle Kinder der Familie – aber sie seien trotzdem gut aufgewachsen, fügt Zvi Kalisher hinzu. Viele Male stand an seiner Tür »Vorsicht! Könnte vergiftet sein.«
In ihrer Gemeinde waren sie anfangs nur sieben Leute, aber es wurden immer mehr, so dass der Raum zu klein wurde. In das Gebäude, das sein Sohn jetzt angemietet hat, passen über 300 Menschen. Er sagt, es gehe dort zu wie in Babylon. Es werde nicht nur Hebräisch, sondern auch Chinesisch, Koreanisch, Deutsch und noch manches andere gesprochen. Sein Sohn, der der Pastor dieser Gemeinde ist, predigt in Hebräisch und Englisch, was dann noch in andere Sprachen übersetzt werde. Es summe da wie im Bienenstock. Aber das mache nichts aus, meint Ziv Kalisher, die Hauptsache sei, dass sie alle vom gleichen Geist geleitet würden.
Man sagt, der Fisch stinke vom Kopf her, so Zvi Kalisher, und er berichtet davon, dass sich vor zwei Jahren auch ein Rabbiner in seiner Gemeinde habe taufen lassen.
Einmal hatte er ein Gespräch mit einem Arbeitskollegen. Dieser sagte zu ihm, sie sollten sich zusammensetzen, und alles offen auf den Tisch legen. Dann begann der andere davon zu erzählen, wie die Deutschen sie wie Ölsardinen in die Viehwaggons gepresst hatten, und viele auf der vier Tage dauernden Fahrt starben. Bei der Ankunft in Auschwitz stahl der Mann eine Kartoffel. Als Strafe musste er ein Loch graben, in das er dann gestellt wurde. Nur der Kopf schaute noch heraus. Immer wieder wurde er auf den Kopf geschlagen. Und weil das nicht reichte, holten sie seine Frau und er erschossen sie vor seinen Augen. Doch das war immer noch nicht genug. Sie nahmen eines seiner Kinder und warfen das anderthalbjährige Kind in die Luft. Anstatt es wieder aufzufangen, spießten sie es mit dem Bajonett auf, während er eingegraben bis zum Hals dabei zusehen musste. Drei Stunden lang erzählte der Mann und rauchte viel dabei. Zvi Kalisher konnte gut verstehen, dass dieser Mann überhaupt keine Nerven mehr hatte. Er erzählte ihm von seiner eigenen Unruhe und den Rachegedanken, und dass er erst Ruhe fand, als er Christ wurde. Bei dem Mann dauerte es ebenfalls drei Jahre, aber schließlich konnte er Jesus als seinen Erlöser annehmen und seinen Frieden mit der Vergangenheit machen. Er fand nochmals eine Frau und bekam Kinder und Enkelkinder.
Wie vom Glauben berichtet werden kann, sagt Zvi Kalisher, dafür gebe es keine festen Regeln. Für ihn sei vor allem die Geduld wichtig. Immer wieder darf er erleben, dass Menschen, die früher Steine auf messianische Juden warfen, heute in der Gemeinde sitzen. Auch dass seine Kinder und Enkelkinder in der Gemeinde mitarbeiten, freut ihn sehr.
Zvi Kalisher geht auf Nachfrage am Ende noch auf die schwierige Situation zwischen Israel und der arabischen Bevölkerung ein. Er spricht, wie einerseits Israelis und Araber an manchen Orten friedlich nebeneinander wohnen, wie aber andererseits fünfjährige Jungen mit Gewehren auf die Straße geschickt werden, und wie die Vereinten Nationen immer wieder versuchen, Israel für alles verantwortlich zu machen. Er berichtet davon, wie Israel immer wieder versucht hat, den Arabern entgegenzukommen und den Frieden zu bewahren, und z.B. nach einem Attentat mit 170 Toten auf einen Vergeltungsschlag verzichtet hat. Aber die Araber haben sich - seiner Meinung nach – da nur gedacht: »Das geht ja gut.« Er berichtet davon, wie Menschen, die in friedlicher Absicht ein arabisches Dorf betraten, gelyncht wurden. Der UN wirft er vor, mit zweierlei Maß zu messen, und zu solchen Vorfällen zu schweigen. Für ihn ist es, wie mit einer Zeitbombe zu leben. Es werde unter den Arabern viel Gehirnwäsche betrieben, und die Selbstmordattentäter stünden Schlange.
Er weiß, dass es nie bequem ist, Frieden miteinander zu schließen, aber möglich. Deutschland, Frankreich und England hätten auch lange gegeneinander gekämpft, und heute könne man ohne Visum über die Grenze gelangen. Aber wie schwierig das mit den Arabern sei, zeigt er daran auf, dass die Väter, deren Söhne sich (und andere) in die Luft gesprengt hatten, noch stolz auf deren angeblich herrliches Leben mit 72 Jungfrauen im Paradies seien. Da werde Frieden nicht als Gewinn empfunden.
Noch einmal auf seine eigene Vergebung gegenüber den Deutschen angesprochen, betont Zvi Kalisher, dass für ihn Glaube ohne Liebe und Vergebung kein echter Glaube sei. Er sehe wie seine Gemeinde wachse, und das passiere nicht mit Hass, sondern nur durch Liebe.
An der Stelle sieht er auch das größte Problem für den Frieden, dass der Koran eine Schrift ohne Liebe sei, die sich die Erde mit dem Schwert Untertan machen wolle, während in den Schriften der Juden und der Christen immer wieder der Aufruf zum Gebet für die Feinde stehe.
Zur Ausbreitung des christlichen Glaubens unter Juden, berichtet Zvi Kalisher, dass sie regelmäßig auch in die Synagogen gingen, um dort zusammen mit den Menschen im Alten Testament zu lesen, denn auch da sei der Christus zu finden. Noch einmal betont er, dass er in den Jahren beim Minenräumdienst eines gelernt habe: Geduld. Und die Christen in anderen Ländern könnten sie durch Gebet unterstützen.