Der Deportationszug aus Garbatka erreichte am 13. Juli 1942 den Ort Auschwitz (polnisch Oswiecim). Er hielt bei der sog. »Rampe« (»Alte Rampe«, »Judenrampe«) in der Nähe des Güterbahnhofs. Von dort mussten die Männer zum Eingangstor des Konzentrationslagers laufen, wo sie sich in Fünferreihen aufstellen mussten.
Vor annähernd drei Jahren hatte der Zweite Weltkrieg begonnen. Mordechai Papirblat war damals 16 Jahre alt. Jetzt war er 19. Die vergangenen Jahre waren ein ständiger Kampf ums Überleben. Er hatte den polnischen und deutschen Antisemitismus sowie das Leben in zwei Ghettos bitter erfahren. Er hatte seine Eltern, Geschwister und Verwandten sowie seine Heimat, seine Freiheit, Möglichkeiten einer schulischen oder beruflichen Ausbildung und sämtlichen Besitz verloren. Er hatte nichts mehr, das ihn an seine Familie, seine Verwandten oder an seine Vergangenheit erinnerte. Alles, was er besaß, trug er auf seinem Leib. Konnte es überhaupt noch schlimmer kommen? Vorstellen konnte er sich das nicht. Was konnte er sich überhaupt noch vorstellen als er am Spätnachmittag des 13. Juli 1942 durch das Lagertor mit dem Schriftzug »Arbeit macht frei« trat. Von diesem Lager hatte er noch nichts gehört. Was würde ihn im K. L.1 Auschwitz erwarten?2
In den folgenden Kapiteln, die die Zeit Mordechai Papirblats in Auschwitz umfassen (13. Juli 1942 – 17. Januar 1945), werden vor allem Informationen gegeben, die den Bericht, den er in seinem Buch »900 Tage in Auschwitz« gegeben hat, ergänzen. Es sei darum ausdrücklich auf die Lektüre des Buchs verwiesen!
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 133 – 404.
In seinen beiden Zeitzeugenberichten (Videos 2013 und 2015) unterscheidet Mordechai Papirblat nicht zwischen den einzelnen Lagern des Lagerkomplexes Auschwitz, auch erzählt er nicht in chronologischer Reihenfolge. Er greift vielmehr Ereignisse heraus, die für ihn prägnant sind.
Kaum waren die Neuankömmlinge vollständig im Lager eingetroffen, mussten sie antreten. Der Lager-Kapo, der oberste der Häftlinge, hielt eine »Begrüßungsrede«, in der er den neuen Häftlingen die geltenden Regeln zubrüllte. Anschließend wurden sie in einen kahlen Raum gebracht, in dem sie die Nacht verbringen mussten.
Vor anderthalb Tagen waren sie in Garbatka verhaftet worden, über 24 Stunden befanden sie sich gefesselt in einem Güterwaggon. Seither hatten sie weder zu essen noch zu trinken bekommen, waren schikaniert und misshandelt worden, selbst der Gang zur Toilette war ihnen verboten worden. Vor ihnen lag die erste Nacht in Auschwitz.
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 133f.
Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2013, 0:03:29 – 0:04:20.
1»K. L.« war die offizielle Abkürzung der Nationalsozialisten für »Konzentrationslager«. Die Abkürzung »KZ« kam erst später auf, hat sich aber – wohl wegen ihres »schärferen« Klangs – allgemein durchgesetzt. Auch hier wird die Abkürzung »KZ« verwendet.
2Abb. 1 und 2: Fotos, Thorsten Trautwein, 2019.
Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020