Plötzlich riss ein Sirenenton die Häftlinge aus dem Schlaf. Draußen war es noch dunkel, doch die erste Nacht in Auschwitz war zu Ende. Mit den anderen Häftlingen des Lagers mussten die Neuankömmlinge zum Morgenappell antreten. Anschließend gab es eine dünne Suppe. Es war die erste Nahrung, die sie erhielten, seit sie in Garbatka zusammengetrieben worden waren. Nach einem erneuten Appell wurden sie in ein anderes Gebäude gebracht, in dem sie sich in einem Raum völlig entkleiden mussten. Die ganze Aufnahmeprozedur lag in den Händen christlich-polnischer Häftlinge. Im nächsten Raum wurden ihnen alle Haare mit einem stumpfen Messer geschoren. Daraufhin wurden sie mit einer Chlorlösung »desinfiziert«, die furchtbar in den Wunden und Augen brannte. Auf eine kalte Dusche folgte die Ankleidung in einem weiteren Gebäudeteil. Von Häftlingen erhielten sie die blauweiß gestreifte Lagerkleidung. Die Kleidungsstücke passten jedoch nicht zur Körpergröße. Mordechais Kleider waren viel zu groß für ihn. Später hörte Mordechai die Redewendung: »Ein Mensch trägt hunderte von Kleidungsstücken, aber in Auschwitz trägt ein Kleidungsstück hunderte Häftlinge«.
Im Rahmen der Registrierung als Lagerhäftling wurden die Männer fotografiert: von vorne und von der Seite.1 Anschließend wurde ihnen mit Nadeln und Farbe an der Oberseite des linken Unterarms eine Nummer eintätowiert. Der individuelle Name »Mordechai Papirblat« und seine Persönlichkeit spielten von nun an keine Rolle mehr. Ab jetzt war er Häftling 46794. Er war nur noch eine Nummer. Die Tätowierung der Nummer ist eingeführt worden, damit die Häftlinge ihre Nummern nicht tauschen und die Toten leichter identifiziert werden konnten. Weil Mordechai mit einem frühen Transport nach Auschwitz gekommen war, hatte er eine kurze Nummer ohne das spätere »A« für Auschwitz.2
Die Aufnahmeprozedur der Häftlinge aus Garbatka erstreckte sich über den ganzen Tag. Sie war von Schikanen und Gewalt begleitet. Der Tag endete in einem Kellerraum von Block 18. Hier kamen die Juden aus Garbatka noch einmal zusammen. Im Konzentrationslager waren alle gleich: Kahlgeschorene Gestalten in blauweißgestreifter Häftlingskleidung, mit Holzschuhen, einer Mütze und eingebrannten Nummern. Die Privilegien des Garbatkaer Judenrats, der jüdischen Ghetto-Polizisten, früherer Wohlstand, gesellschaftliches Ansehen – nichts war in Auschwitz mehr von Bedeutung. Sie besaßen nur noch ihr Leben und das, was sie am Leibe trugen. Doch auch das konnte ihnen jederzeit genommen werden, ohne dass sich auch nur irgendjemand daran gestört hätte. Sie besaßen keinerlei Rechte mehr.
Mordechai gehörte zu einem der ersten systematischen Deportationszüge von Juden nach Auschwitz. Mitte 1942 waren nur wenige der Häftlinge in Auschwitz Juden. Die meisten waren Polen und Russen bzw. sowjetische Soldaten. In der »Hierarchie« der Häftlinge befanden sich die Juden auf der untersten Stufe.
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 135 – 140.
Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2013, 0:04:20 – 0:05:11.
Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 0:34:27 – 0:37:24.
1Von Mordechai sind diese Fotos nicht erhalten. Abb. 1 zeigt den polnischen Juden Moses Fuks, der ca. acht Monate jünger war als Mordechai. Moses Fuks starb (bzw. wurde ermordet) zehn Tage bevor Mordechai Auschwitz erreicht hat. Das Bild gibt einen Eindruck davon, wie auch Mordechai ausgesehen haben kann. Abb. 1: Foto, Lagerfoto im Korridor von Block 6, Auschwitz I-Stammlager, Thorsten Trautwein, 2019.
2Die Online-Datenbank der Häftlinge in Auschwitz führt Mordechai Papirblat mit folgenden Daten: Papirblat, Mordechai; prisoner number: 46794; born: 1923-04-25; place of birth: Radom; Fate: 1. 1942-07-13, Auschwitz, arrived to camp, 2. escaped during evacuation; Sources: 1. Memorial Book Radom; vgl. http://auschwitz.org/en/museum/auschwitz-prisoners/ (20.02.2019).
Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020