Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 505 – 524.
Mordechai und seine Begleiter befanden sich wieder auf polnischem Boden und waren auf dem Weg zurück in ihre Heimat. Auf ihrem Weg kamen sie durch mehrere polnische Dörfer, in denen sie gastfreundlich aufgenommen wurden und Essen erhielten. Überall wurden sie nach Auschwitz und anderen Lagern gefragt und ob sie bestimmte Verwandte oder Nachbarn ihrer Gastgeber getroffen hätten, die ebenfalls nach Auschwitz deportiert oder ins Unbekannte verschleppt worden waren.
Obwohl sie nun regelmäßig aßen, schien der Hunger immer größer zu werden, so ausgezehrt waren sie. Mehrmals täglich klopften sie an Türen und baten um Essen. Die polnischen Bauern waren großzügig, obwohl sie selbst nicht viel hatten.
Am 29. Januar erreichten sie die Kleinstadt Lubliniec1, die vom sowjetischen Militär verwaltet wurde. Zum ersten Mal seit Jahren fühlten sie sich sicher. Mordechai war immer noch unterernährt und sehr geschwächt. Doch hier in Lubliniec wurde es ihm zur Gewissheit: Er hatte Auschwitz, den Todesmarsch und den Krieg überlebt! Er lebte und beschloss, nach Radom zu gehen, um zu sehen, ob es noch andere überlebende Familienmitglieder gab.2
Die allgemeine Situation war jedoch chaotisch. Durch den langen Krieg, die Ausbeutung des Landes und den strengen Winter war die Versorgung der Bevölkerung völlig unzureichend. Bei den Menschen herrschten Sorgen und Unsicherheit. Auch die Infrastruktur des Landes – Straßen, Brücken, Eisenbahnlinien, Strom- und Wasserversorgung – war vielfach zerstört. Auf den Straßen befanden sich Menschen, die auf dem Weg zurück in ihre Heimatorte waren, aus denen sie vertrieben worden waren oder geflohen sind. Niemand wusste, was ihn am Heimatort erwarten würde. Wo waren die Verschleppten, die Verhafteten oder Geflohenen? Wer von den Angehörigen lebte noch? Jeder versuchte über die Runden zu kommen und »organisierte« sich, was er brauchte. Immer wieder begegnete man Einheiten der Roten Armee, die nach Westen vorrückten und polnischen Widerstandskämpfern. Wer hatte mit den Deutschen zusammengearbeitet? An Kollaborateuren und zurückgebliebenen Deutschen wurde Rache geübt.
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 505 – 508.
Mordechais Gruppe wurde immer kleiner, da die Männer aus unterschiedlichen Gegenden stammten und andere Wege zurück in ihre Heimat einschlugen. Am 30. Januar war Mordechai nur noch mit drei Kameraden unterwegs. Auf einem russischen Militärlaster konnten sie bis Tschenstochau (polnisch Czestochowa) fahren. Dort trafen sie zum ersten Mal andere jüdische Überlebende aus Lagern.
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 505 – 512.
Wieder trennten sich die Wege und Mordechai machte sich mit nur noch einem Kameraden am 31. Januar auf den Weg nach Wloszczowa. Weiterhin klopften sie bei polnischen Bauern und baten um Essen. Allmählich ließ der ständige Hunger nach. Bis sich schließlich sogar nach den Mahlzeiten ein Gefühl der Sättigung einstellte – zum ersten Mal seit mehreren Jahren! Bisher dahin hatte sich ihr Leben vor allem um den Rückweg und um Essen gedreht. Der Hunger und die Kälte hatten alles andere verdrängt. Doch nun schlichen sich neue Gedanken in Mordechais Kopf: Wie wird es sein, wenn er in seine Geburtsstadt Radom zurückkehrt? Was wird ihn erwarten? Wen wird er treffen? Wird er überhaupt jemanden antreffen? Auf einmal beschlichen ihn Sorgen und Ängste vor der unausweichlichen Begegnung mit der harten Wirklichkeit.
Der Weg ging weiter. Bei Bauern in Amstow fanden sie ein Übernachtungsquartier. Als sie jedoch hörten, dass am anderen Ende des Dorfes eine jüdische Familie lebe, beschlossen sie, dorthin zu gehen. Auf Jiddisch wurden sie begrüßt. Die gegenseitige Freude war groß. Das jüdische Schicksal verband sie. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, 18 und 20 Jahre alt. Sie hatten die Jahre der Verfolgung versteckt in einem Erdloch überlebt. Zwar sind sie in keinem Lager gewesen, doch war auch ihr Leben von Entbehrungen und von der dauernden Angst geprägt, entdeckt zu werden. Der Hausvater war Bäcker und buk für die Rote Armee Brot, wofür er von Soldaten Mehl erhielt. Lange erzählten sie einander von ihrem Ergehen.
Beim Aufbruch am nächsten Morgen, dem 1. Februar, war Mordechai sehr bewegt, weil die ganze Familie – Vater, Mutter und die beiden Kinder – die Schrecken der Verfolgung und des Krieges gemeinsam überlebt hatten. Er dachte an seine eigene Familie. Seine Eltern waren tot, das wusste er, aber was war mit seinen Geschwistern und Verwandten?
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 516 – 518.
Am 2. Februar erreichte Mordechai den Bahnhof in einem Dorf hinter Wloszczwa. Mit anderen Reisenden erklomm er den Waggon eines Güterzugs, der mit Kohle gefüllt war. Auf der Kohle saßen und kauerten bereits andere Reisende. Über Kielce fuhr der Zug durch die Nacht vorbei an Skarzysko-Kamienna nach Radom. Als der Zug in Radom anhielt, betrat Mordechai den ihm vertrauten Bahnhof. Er war zurück in Radom! Wegen der nächtlichen Ausgangssperre musste er jedoch im Bahnhof bleiben, in dem überall Menschen saßen oder lagen. Sie schliefen, unterhielten sich leise oder warteten, bis es fünf Uhr schlug und die Ausgangssperre vorüber war.
Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 512 – 524.
1 Von 1941 – 1945 trug der Ort den deutschen Namen Loben.
2 Abb. 1: David Dharsono, eigenes Werk, 2020, Rechte beim Verfasser.
Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020