Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 24

Radom: Keine Spur von Angehörigen – Keine Zukunft in Polen (3. Februar – Anfang Mai 1945)

Vgl. Mordechai Papirblat, 900 Tage in Auschwitz, 2020, S. 524 – 528.

Zwei Wochen bevor Mordechai seine Heimatstadt betrat, war Radom befreit worden. Am 16. Januar 1945 hatte die Rote Armee die Stadt kampflos eingenommen. Die Deutschen waren zum Großteil bereits geflohen. Die zurückgebliebenen Deutschen wurden vertrieben, ermordet oder mussten in den Industriewerken in Radom und in der Landwirtschaft Zwangsarbeit verrichten. Im Frühjahr 1945 wurden die Männer unter ihnen zur Zwangsarbeit in sowjetische Lager verschleppt.1

Mordechai war in seiner Geburtsstadt angekommen. Er hatte bereits in Auschwitz gehört, dass die jüdische Gemeinde in Radom ausgelöscht worden war, doch hoffte er, wenigstens den einen oder die andere, vor allem seine Geschwister zu finden.
Als der Morgen des 3. Februar dämmerte, verließ er den Bahnhof und machte sich nervös, aufgeregt und hoffnungsvoll auf den Weg. Er begab sich ins jüdische Viertel und musste feststellen, dass es nicht mehr existierte. Auch das Haus seiner Familie stand nicht mehr. Der volksdeutsche Nachbar hatte das Haus abgerissen, seinen Garten auf das Grundstück hin »vergrößert« und alles mit einer Mauer umgeben.
Auf einmal wurde Mordechai mitten auf der Straße vorsichtig von einem christlichen Polen angesprochen. Dieser fragte Mordechai etwas zögerlich, wo er herkomme. Mordechai antwortete »Aus dem Lager.« Der Mann wollte es genauer wissen: »Aus welchem Lager?« Als Mordechai sagte, dass er aus Auschwitz komme, sagte der Pole leise: »Mein Bruder ist auch nach Auschwitz gekommen. Es gibt in Radom keine Juden mehr.« Daraufhin gab er Mordechai einen großen Geldschein. Mordechai war erstaunt und entgegnete, dass er ihm das Geld aber nicht wieder zurückgeben könne. Der Mann beschrieb Mordechai dann den Weg zu einem großen Haus in der Moniuszki-Straße 4. Dort würde er andere Juden treffen. In dem Haus hatten die Deutschen ihre Kommandantur eingerichtet, waren aber längst geflohen.
Die Moniuszki-Straße, die zwischen 1939 bis 1945 Ostlandstraße geheißen hatte, lag in der Innenstadt unweit des Bahnhofs. Mordechai beschloss, dorthin zu gehen. Es war ein stattliches Stadthaus. In der Nr. 9 war die deutsche Militärpolizei stationiert gewesen, die aber längst die Stadt verlassen hatte.2
Als Mordechai dort ankam, stellte er fest, dass sich in der oberen Etage des Hauses Angehörige der Roten Armee niedergelassen hatten. In einigen anderen Zimmern befanden sich, wie es der Mann gesagt hatte, Juden, die aus Lagern freigekommen, untergetaucht waren oder als Partisanen gekämpft hatten. Die übrigen Zimmer und Wohnungen standen leer. Mordechai war froh, dass er einen Platz gefunden hatte, wo er zunächst bleiben konnte. Im Garten hinter dem Haus befand sich eine Hütte mit Holz. So konnte er im Ofen Feuer machen und sich wärmen. Mit dem Geld, das er von dem Mann bekommen hatte, ging er in einen Laden und kaufte sich ein langes weißes Brötchen, Butter und Zwiebeln. Ein Festessen! Er genoss jeden Bissen.

In den folgenden Tagen ging Mordechai immer wieder durch die Stadt. Er hoffte, doch noch Verwandte zu treffen oder wenigstens etwas über ihr Schicksal zu erfahren. Er trug immer noch seine Häftlingskleidung, die – neben seiner eintätowierten Nummer von Auschwitz – sein einziger Ausweis für sein Schicksal war.
Auf dem Weg durch Radom wurde er von einer Mitarbeiterin des Roten Kreuzes angesprochen, ob er Hunger habe. Sie lud ihn zum Essen ein und gab ihm eine tiefe Schüssel voll Suppe und Brot. Er durfte die Schüssel zwei weitere Mal füllen!

Als er an einem anderen Tag durch die Stadt ging, nahm ihn eine russische Streife fest. Sie dachten, er sei ein deutscher Spion, obwohl er beteuerte Jude zu sein. Mordechai wurde bewusst, dass er zwar den Krieg überlebt hatte, dass er aber noch lange nicht in Freiheit und Sicherheit leben konnte. Während er auf einem Stuhl saß und auf den Fortgang wartete, kam ein russischer Offizier auf ihn zu und sprach ihn auf Jiddisch an »Scholem alejchem!« (deutsch »Friede sei mit dir!«). Mordechai antwortete auf Jiddisch und es war klar, dass sie beide Juden waren. Mordechai war also kein deutscher Spion, sondern einer der wenigen Juden, die den Naziterror überlebt hatten. Der Offizier nahm Mordechai in seine Obhut und setzte ihn als Übersetzer ein, wenn er mit Polen oder Deutschen sprechen musste. Als »Bezahlung« erhielt Mordechai Lebensmittelmarken für die Militärküche. Die Zusammenarbeit endete, als die Einheit des Offiziers in Richtung Westen abziehen musste. Das Angebot des Offiziers, Mordechai könne mit ihm kommen, lehnte Mordechai jedoch ab. Er wollte in Radom bleiben und sehen, ob nicht doch noch wenigstens ein Verwandter auftauchte.

Ein Problem war, dass Mordechai keine Ausweispapiere besaß. Er musste sich also neue besorgen. Doch er wusste, dass seine Altersgruppe zum Militärdienst eingezogen wurde, da der Krieg ja noch nicht beendet war. Lediglich die Front verlagerte sich immer weiter nach Westen. Darum machte er sich jünger und sagte, er sei 1927 geboren. Weil er klein und schmächtig war, glaubte man ihm.

Als Mordechai sich einigermaßen eingerichtet und in seinem neuen Leben orientiert hatte, erinnerte er sich daran, dass er sich im Lager geschworen hatte, seine furchtbaren Erlebnisse und den Naziterror zu dokumentieren. Im Gebäude fand er leere Hefte und Stifte. Da begann Mordechai damit, seine Erinnerungen niederzuschreiben: Ereignisse, die er datierte; Namen von Personen und Orten; Abläufe und viele Details aus seiner Erinnerung. So entstanden erste Texte, Listen und kurze Notizen. Er wollte einerseits dokumentieren und bezeugen, doch andererseits hoffte er auch, sich auf diese Weise die schrecklichen Bilder, Geräusche, Gerüche und Gefühle von der Seele zu schreiben. Doch begleiteten ihn die Ängste, Unsicherheiten und Alpträume noch lange!

Im Lauf der Zeit trafen weitere Juden in Radom ein. Manche davon ließen sich ebenfalls in der Moniuszki-Straße 4 nieder, wo auch Mordechai lebte. Einige von ihnen blieben ein paar Tage und zogen dann weiter. Allmählich bildete sich ein örtlicher Judenrat, der ein Unterstützungssystem aufbaute und eine Küche für Bedürftige unterhielt, praktische Hilfe organisierte und Überlebende namentlich registrierte.

Mordechai versuchte immer wieder mit Hilfe des Roten Kreuzes und der jüdischen Hilfsorganisation Joint3 Überlebende seiner Familie ausfindig zu machen oder Hinweise auf ihr Schicksal zu erhalten. Doch fand er von den rund 100 Personen niemanden mehr. Keine Spur von seinen Schwestern und Brüdern. Kein Hinweis auf seine Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins und auf all die anderen. Er musste immer mehr davon ausgehen, dass alle tot waren und er als einziger seiner Großfamilie überlebt hatte!

Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2013, 0:41:57 – 0:44:13. Gegen Ende spricht Mordechai über seine Familie und seinen Namen.
Vgl. Mordechai Papirblat, Vortrag 2015, 1:12:33 – 1:14:17.

Unter den Juden, die in Radom eintrafen, war ein junger Mann mit Namen Nathan Rosenberg. Mordechai und Nathan verstanden sich gut und freundeten sich an. Nathan stammte aus Kielce, wo er 1925 geboren worden und sein Vater als Lehrer tätig war. Er war künstlerisch begabt. Seit seinem 17. Lebensjahr (1942) hatte Nathan Zwangsarbeit leisten müssen, überlebte jedoch das Lager. Nach seiner Befreiung ist er nach Kielce zurückgekehrt, hatte dort jedoch keine Juden mehr angetroffen. Ein Ereignis hatte ihn aufgeschreckt und dazu geführt, dass er seine Heimatstadt Hals über Kopf wieder verlassen hat: Als er wieder einmal furchtbar Hunger gehabt hatte, hat er eine polnische Frau gefunden, die ihn in ihr Haus eingeladen und ihm Suppe angeboten hat. Als jedoch ihre Söhne ins Haus kamen und ihn sahen, gingen sie flüsternd ins Nebenzimmer. Da ist Nathan aus dem Haus geflohen, ohne die Suppe zu essen, und ist nach Radom gegangen.
Mordechai und Nathan standen vor der gleichen Frage: Wie soll es weitergehen? In ihrer jetzigen Unterkunft würden sie auf Dauer nicht bleiben können. An eine Beschäftigung oder Ausbildung war in der chaotischen Nachkriegssituation kaum zu denken. Zudem war die Stimmung in Polen Juden gegenüber alles andere als freundlich und es kam immer wieder zu Pogromen gegen Juden durch polnische Widerstandsgruppen bzw. Nationalisten. Als Nathan und Mordechai hörten, dass sich Juden in Kielce trafen, um nach Erez Israel (deutsch »Land Israel«) auszuwandern, beschlossen sie, dorthin zu gehen und sich der Gruppe anzuschließen.4

Anfang Mai 1945 bestiegen Mordechai und Nathan den Nachtzug nach Kielce. Wieder einmal verließ Mordechai Radom. Die ersten zehn Jahre seines Lebens hatte er hier gelebt. Auch nach dem Umzug nach Warschau war er immer wieder gekommen, um seine Verwandten zu besuchen. Selbst als der Krieg begonnen hatte, war Mordechai nach Radom gekommen und dann wieder als er seine Geschwister von Jablonow aus zum letzten Mal besucht hatte. Doch nun verließ er Radom endgültig. Er verließ die Stadt, die für ihn mit sehr schönen, aber auch mit sehr tragischen Erinnerungen verbunden blieb, in einer Nacht Anfang Mai 1945.

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Radom (23.06.2019); http://lebendom.com/article/radom (23.06.2019). Zu Radom siehe Kap. 2 und 9.1.
2 https://translate.google.de/translate?hl=de&sl=pl&u=https://pl.wikipedia.org/wiki/Ulica_Stanis%25C5%2582awa_Moniuszki_w_Radomiu&prev=search (04.04.2020).
3 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Joint_Distribution_Committee (09.08.2019).
4 Zu dieser Zeit war »Erez Israel« ein Teil von Palästina, über das Großbritannien das Mandat des Völ-kerbundes besaß. Siehe Kap. 31 und https://de.wikipedia.org/wiki/Eretz_Israel (04.01.2020).

Autor: Thorsten Trautwein, 06.06.2020