Wie unsicher das Leben in Polen war, wurde Nathan1 und Mordechai schlagartig bewusst, als der Zug von Radom nach Kielce mitten in einem Wald plötzlich anhielt. Von den Mitreisenden erfuhren sie, dass wohl polnische Nationalisten den Zug gestoppt hatten und ihn nun Abteil für Abteil durchkämmten. Für Juden war das gefährlich, da viele Nationalisten nicht nur von einem homogenen polnisch-katholischen Land träumten, sondern sich auch mit Gewalt dafür einsetzten. Mordechai und Nathan legten sich unter die Bänke, hüllten sich in ihre Mäntel und stellten sich schlafend – ihr Herz schlug wild. Sie kamen noch einmal mit dem Schrecken davon. Die Häscher stiegen über sie hinweg. Mordechai und Nathan hatten ihre erste Razzia nach dem Krieg überlebt. Sie waren verängstigt und dankbar zugleich. Dankbar, dass die Mitreisenden sie nicht verraten hatten. Nachdem die Nationalisten den Zug wieder verlassen hatten, ging die Fahrt weiter.
Im Morgengrauen fuhr der Zug schließlich im Bahnhof von Kielce ein. Vor dem Krieg hatten ungefähr 25.000 Juden dort gelebt und die Stadt mit einem blühenden, vielfältigen jüdischen Leben mitgeprägt. Wie überall in Polen hatten auch hier nur einzelne Juden den Holocaust im Untergrund überlebt. Die überwältigende Mehrheit war ermordet worden, wenigen war die Flucht gelungen. Jetzt, nach Kriegsende, kehrten einzelne Überlebende zurück. Mordechai und Nathan waren zwei von ihnen. Kaum hatten sie den Bahnhof verlassen, wurden sie schon bald von einem Soldaten angehalten. Sie hatten nicht beachtet, dass noch die nächtliche Ausgangssperre galt. Als der Soldat sie durchsuchte, stellte sich heraus, dass auch er Jude war. Er kannte das Haus, in dem sich die Juden trafen und beschrieb ihnen den Weg dorthin.
Das Haus in Planty Nr. 72 gehörte bereits vor dem Krieg der jüdischen Gemeinde. Nach dem Krieg wurde dort das jüdische Komitee von Kielce gegründet. Mordechai und Nathan waren unter den Ersten, die sich in dem Haus einfanden, um nach Erez Israel auszuwandern. In den folgenden Tagen trafen weitere Überlebende ein und es bildete sich eine Gruppe aus 27 Frauen und Männern im Alter zwischen 18 und 25 Jahren.3 Sie waren polnische Juden, die den Holocaust auf unterschiedliche Weise überlebt hatten: In Arbeits- bzw. Konzentrationslagern, versteckt bei Christen, im Untergrund als Partisanen oder als Flüchtlinge in Russland. Sie alle verband, dass sie heimatlos und mittellos waren. Kaum jemand wusste etwas von Überlebenden der eigenen Familie. Manche hatten Verwandte in Erez Israel oder in anderen Ländern. Die einen waren bewusst hierhergekommen, andere waren zufällig auf der Durchreise hier gelandet. Planty Nr. 7 war für sie keine Zwischenstation für ein Leben in Polen, sondern bereitete sie auf ein Leben in Erez Israel, in Palästina vor.4 In Kielce waren sie wie Fremdkörper. Als Mordechai mit einem Freund einmal auf der Straße Jiddisch sprach, wunderten sich die Passanten, dass es noch Juden in der Stadt gab.
Die Hachschara
In Planty Nr. 7 befand sich eine Einrichtung zur Hachschara (deutsch »Vorbereitung«; Plural »Hachscharot«), zur systematischen Vorbereitung von Juden auf ein Leben in Erez Israel im Sinne des Zionismus5. Hachscharot gab es seit Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas. In den 1920er und vor allem in den 1930er Jahren erfuhr die Bewegung große Bedeutung, da viele Juden vor dem zunehmenden Antisemitismus flohen. Getragen wurde die Hachschara von jüdischen Jugendverbänden, die mit anderen jüdischen Organisationen zusammenarbeiteten. Während sich die erwachsenen und älteren jüdischen Menschen meist in ihren Heimatländern, in denen sie ihre Existenz hatten, heimisch fühlten, konnten ältere Jugendliche und junge Erwachsene für den Aufbau eines neuen jüdischen Lebens in Palästina leichter begeistert und motiviert werden. So waren es meist jüngere Leute, die nach Palästina auswandern wollten.
Die Verfolgung und Ermordung der Juden in der Zeit des Zweiten Weltkriegs hat die Strukturen der Hachschara zunächst zerstört. Sie wurden jedoch nach dem Krieg zügig wiederaufgebaut, um die heimatlosen Juden Europas auf ein Leben in Erez Israel vorzubereiten und dorthin zu führen. Allerdings waren die überlebenden Juden offiziell Bürger ihrer jeweiligen Länder, die nicht einfach in Palästina einwandern konnten. Das Land stand unter britischem Mandat, für das die Briten die Einwanderung kontingentiert hatten. Die Alija, die Einwanderung in Palästina war somit in der Regel illegal (siehe Kap. 31.2).
Die Hachschara vermittelte den Jugendlichen und jungen Erwachsenen die notwendigen Kompetenzen, die sie benötigten, um in kultureller, sozialer und produktiver Hinsicht ihren Beitrag zum Aufbau des Landes leisten zu können – vor allem in einem Kibbuz:6 Land- und Hauswirtschaft, Handwerke sowie modernes Hebräisch. Zudem ging es um die Stärkung der jüdischen Identität durch jüdische Feste, Geschichte, Literatur usw. Ein weiteres wichtiges Element war das gleichberechtigte, demokratische Zusammenleben, das systematisch eingeübt wurde.
Die Hachschara-Einrichtungen wurden, wie die Gemeinschaftssiedlungen in Erez Israel, als »Kibbuz« bezeichnet (deutsch »Versammlung«; Plural »Kibbuzim«). Jeder Kibbuz hatte einen Leiter. In Kielce war es Kalman Sultanik. Die Gruppe junger Leute, die gemeinsam ausgebildet wurden, wurde mit dem militärischen Begriff »Pluga« (deutsch »Einheit«; in Verbindung mit einem zweiten Begriff »Plugat«, Plural »Plugot«) bezeichnet. Jede Pluga erhielt einen programmatischen Namen. Mordechais Pluga hieß »Lacherut« (deutsch »Zur Freiheit«). Der Leiter der Plugat Lacherut wurde Josef Zwi Halperin, der mit ca. 25 Jahren der Älteste der Gruppe war. Mordechai wurde zum Sekretär gewählt, der organisatorische Aufgaben innehatte und zum Beispiel die anfallende Arbeit einteilte. Von Mai bis Juli 1945 waren Mordechai und Nathan somit im Kibbuz in Kielce zur Hachschara. Sie waren Mitglieder der Plugat Lacherut und bereiteten sich auf ein Leben in einem Kibbuz in Erez Israel/Palästina vor.
Der Tagesablauf war klar geregelt und bestand aus gemeinsamen Mahlzeiten, Unterricht und gemeinschaftlichen Aktivitäten. Einige der Gruppenmitglieder hatten vor dem Krieg eine gute Bildung genossen und stammten aus intellektuellen, städtischen Familien, andere kamen vom Land, wo sie nur eine geringe Bildung erfahren hatten. Alle hatten sie unter dem Ausschluss von Juden aus dem Bildungswesen gelitten und waren wegen ihrer Lebensumstände in Verfolgung und Krieg während der zurückliegenden sechs Jahre weitestgehend ohne Bildungsmöglichkeiten geblieben. Das versuchte die Hachschara auszugleichen. Auf dem Stundenplan standen: Biblische und jüdische Geschichte, Zionismus, Landeskunde, jüdisch-hebräische Literatur und Englisch. Aber auch Volkstanz, Zwiebelanbau im kleinen Garten7 und Erste Hilfe. Bei Bedarf wurden zusätzliche Einzelstunden angeboten, um diejenigen zu fördern, denen wichtige Grundlagen fehlten (z.B. Lesen, Schreiben, Rechnen). Lehrende waren dabei die Gruppenmitglieder selbst. Mordechai unterrichtete modernes Hebräisch. Jeder brachte ein, was er konnte und diente so dem Ganzen. Damit übten sie ein gleichberechtigtes, demokratisches und gemeinschaftliches Leben im Sinne der sozialistischen Ideale des Zionismus ein.
Höhepunkt der Woche war die Schabbat-Feier am Freitagabend. Diese wurde in unterschiedlichen Gruppen vorbereitet: festliches Essen, Lieder und Geselligkeit. Ein sehr geschätzter Programmpunkt war ein Lied, das Mordechai und Nathan jede Woche für die Feier dichteten. Auf humorvolle Weise nahmen sie darin besondere Ereignisse der Woche auf und oft genug auf die Schippe. Die beiden trugen das Lied vor, die ganze Gruppe sang den Refrain. Doch schwang in den Kabbalat Schabbat-Feiern am Freitagabend, dem Beginn des Schabbats, auch etwas Wehmütiges mit. Die Feiern erinnerten sie auch an die früheren Feiern im Kreis der Familie und damit an ihre ermordeten Angehörigen und an das verlorene Zuhause.
Mordechai und Nathan verfassten sogar eine Zeitung für ihre Gruppe. Mordechai schrieb den Leitartikel und Nathan gestaltete das Blatt mit seiner künstlerischen Begabung. Das fertige Exemplar hängten sie an die Wand des Versammlungsraums. Allerdings kam es nur zu einer Ausgabe. In der Folge erfüllte das bereits erwähnte Lied bei der Schabbat-Feier die Aufgabe der Zeitung. Zu einem Konflikt kam es jedoch, als das Lied einmal erwähnte, dass Kalman Sultanik, der Leiter der Hachschara, Bestechungsgeld angenommen hatte. Als Reaktion auf die öffentliche Bloßstellung strich Sultanik Mordechai und Nathan von der Liste derer, die nach Palästina auswandern konnten. Der einhellige Protest der ganzen Gruppe führte jedoch dazu, dass die beiden weiterhin bei der Gruppe bleiben durften.
Das Leben im Kibbuz in Kielce war für die jungen Leute von unschätzbarem Wert. Sie konnten lernen, erfuhren gegenseitige Unterstützung und Wertschätzung. Sie lebten in einer gleichberechtigten Gemeinschaft und sammelten neue positive Erfahrungen. Sie hatten Spaß miteinander und eine Zukunftsperspektive. Alles Aspekte, die sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatten. Das gemeinsame Arbeiten, Feiern und die Geselligkeit schweißte die Gruppe immer mehr zusammen. Zudem verband sie ihr Schicksal und die gemeinsame jüdische Identität. Sie wurden als junge Menschen ernst genommen, deren Fähigkeit und Mission der weitere Aufbau von Erez Israel war. Dort wurden sie gebraucht und waren sie willkommen!
Die äußere Sicherheitslage blieb für Juden in Kielce jedoch auch nach dem Ende des Kriegs und Holocaust gefährlich. Anfang Juli 1945 kam es zu einem Pogrom, bei dem zwei junge Frauen der Gruppe ermordet wurden. Ein harter Schlag für die ganze Gruppe und das unmittelbar bevor sie Kielce verlassen wollten!8
Jüdische Auswanderung aus Polen
Mordechai und seine Gruppe waren nicht die einzigen jüdischen Polen, die das Land verließen. Zwischen Kriegsende und 1948 kehrten 100.000 bis 120.000 Juden Polen den Rücken. Die Gründe waren vielfältig: Die Überlebenden waren überwiegend auf sich alleine gestellt, da sie meist ihre Familienangehörigen und ihren Freundeskreis verloren hatten; zudem existierten die jüdischen Gemeinden nicht mehr, welche die einzelnen Überlebenden hätten unterstützen können. Die Überlebenden erhielten das Eigentum, das ihre Familien vor dem Krieg besessen hatten, nicht zurück, wodurch ihnen die Lebensgrundlage fehlte (Haus, Wohnung, Geschäft, Grundstück, Bankkonto usw.). Schließlich kam es immer wieder zu Gewalt gegen Juden. Für viele von ihnen schien der Beginn eines neuen Lebens nur außerhalb Polens möglich zu sein. Verschiedene jüdische Organisationen unterstützten die Ausreise (z.B. »Bricha«).
Insgesamt gesehen war das Verhältnis der Polen gegenüber Juden jedoch vielschichtig. Einerseits gab es bereits vor der deutschen Besatzung 1939 Benachteiligung, Ausgrenzung und Pogrome gegen Juden. Während der deutschen Besatzung (1939 – 1945) beteiligten sich Polen immer wieder an den Massakern gegen Juden oder bereicherten sich an jüdischem Besitz. Gründe dafür waren z.B. Antisemitismus, Verbitterung über die (teilweise angebliche) Kooperation mancher Juden mit den sowjetischen Besatzern (1939 –1942) oder der Neid auf die Besitztümer der Juden angesichts der eigenen Lage. Andererseits retteten die polnische Hilfsorganisation »Zegota«9 und zahlreiche Einzelpersonen Tausenden verfolgten Juden das Leben. Unter den sog. »Gerechten unter den Völkern« besitzen die meisten Geehrten die polnische Nationalität.10 Auch deckte die polnische Exilregierung im November 1942 als erste die Existenz von Konzentrationslagern und die systematische Vernichtung der Juden auf. Nach dem Krieg unterstützten viele Polen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, obwohl sie selbst kaum genug zum Leben hatten. Trotz der starken Auswanderung entstand nach dem Zweiten Weltkrieg neues jüdisches Leben in Polen.
Zum ganzen Kapitel:
Wolfgang Benz, Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments, 3. aktual. Aufl., Frankfurt a.M. 2020, S. 87-92.
Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996 (Hebräisch).
Peter Hayes, Warum? Eine Geschichte des Holocaust, bpb Schriftenreihe Bd. 10196, Bonn 2018, S. 270-290.
Ulrike Pilarczyk, Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel. Unter Mitarbeit von Ulrike Mietzner, Juliane Jacobi und Ilka von Cossart, Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden Band 35, Göttingen 2009; http://www.igdj-hh.de/files/IGDJ/pdf/hamburger-beitraege/ulrike-pilarczyk_gemeinschaft-in-bildern.pdf (02.05.2020).
Jim G. Tobias, Die Kibbuzim. Landwirtschaftliche Siedlungen als Geburtshelfer des jüdischen Staates in Palästina, 08.12.2014; https://www.hagalil.com/2014/12/kibbuzim/ (02.05.2020).
Jim G. Tobias, Erziehung zum Zionismus in den DP Camps 1945-48. Alija als pädagogisches Konzept – die Landkarte von Erez Israel als Lehrplan, 01.03.2018; https://www.hagalil.com/2018/03/erziehung-zum-zionismus/ (02.05.2020).
https://www.hagalil.com/eretz-israel/ (02.05.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Alija (02.05.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Bricha (02.05.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Polen (02.05.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Hachschara (02.05.2020).
http://www.zionismus.info/ (02.05.2020).
1Abb. 1: Josef Zwi Halperin (?), aus: Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996, Bild Nr. ?, ohne Seitenzahl (Hebräisch); Scan bearbeitet von Timo Roller, 2020.
2Abb. 2: wo Points Films & Metro Films, YouTube, Public Domain; https://www.fakt.pl/wydarzenia/polska/pogrom-kielecki-przy-przy-planty-79-wstrzasajace-relacje-ocalalych/lcllk92?utm_source=_viasg_fakt&utm_medium=direct&utm_campaign=leo_automatic&srcc=ucs&utm_v=2#slajd-1 (09.08.2019).
3Abb. 3: Josef Zwi Halperin (?), aus: Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996, Bild Nr. 4, ohne Seitenzahl (Hebräisch); Scan bearbeitet von Timo Roller, 2020.
4Zu Erez Israel siehe Kap. 31.1.
5Zu Zionismus siehe Kap. 31.1; vgl. http://www.zionismus.info/ (29.04.2020).
6Deshalb befanden sich Hachscharot in der Regel auf landwirtschaftlichen Gütern.
7Abb. 4: Josef Zwi Halperin (?), aus: Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996, Bild Nr. 7, ohne Seitenzahl (Hebräisch); Scan bearbeitet von Timo Roller, 2020.
8In dem Haus in Planty 7 wurden nach Mordechais Pluga weitere Gruppen jüdischer junger Erwachsener auf das Leben in Erez Israel vorbereitet. Am 4. Juli 1946 kam es zu dem berüchtigten »Pogrom von Kielce«, bei dem ein polnischer Mob unter den Augen der Polizei und Armee die dort lebenden Juden angriff. 42 Juden wurden dabei ermordet und über 40 verletzt. Die Nachricht des Pogroms verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Juden Polens und veranlasste viele zur Ausreise; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Pogrom_von_Kielce (09.08.2019); https://en.wikipedia.org/wiki/Kielce_pogrom (09.08.2019).
9Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Żegota (05.01.2020).
10Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gerechter_unter_den_V%C3%B6lkern (02.05.2020).
Autor: Thorsten Trautwein, 11.07.2020