Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten

Kapitel 27

Von Kielce/Polen nach Budapest/Ungarn (4. Juli – 3. August 1945)

Der Weg von Kielce nach Erez Israel war weit und illegal. Mordechai und die anderen jungen Leute besaßen weder für den Übertritt der Ländergrenzen gültige Papiere noch für die Einreise ins britische Mandatsgebiet Palästina. Jede Etappe, die vor ihnen lag, barg Gefahren. Zudem war der Zweite Weltkrieg in Europa erst zwei Monate zuvor, mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945, beendet worden. Die ganzen Ausmaße der Kriegsschäden und Kriegsfolgen wurden erst allmählich bewusst. Kampfplätze waren nicht geräumt, zahllose Menschen waren ohne Obdach, die Verwaltung war aufgelöst, die Infrastruktur vielerorts zerstört oder stark beschädigt. Flüchtlinge, Vertriebene, Heimkehrer waren unterwegs und brauchten eine Bleibe. Die Güter des alltäglichen Bedarfs und Lebensmittel waren knapp – vor allem in den Städten. Menschen waren auf der Suche nach Angehörigen, deren Schicksal unbekannt war. Immer wieder wurde Rache an Kollaborateuren oder Vergeltung für geschehenes Unrecht verübt. Es kam zu Plünderungen, Überfällen sowie zu Gewalt gegen Frauen und gegen Minderheiten. Das Sagen hatten die Kommandierenden der Roten Armee, die in Osteuropa als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren und allmählich neue Strukturen unter sowjetischer Herrschaft aufbauten.1

Mitten in den Nachkriegswirren machte sich die Plugat Lacherut am 4. Juli 1945 auf den Weg quer durch Europa. Nach der Ermordung der zwei jungen Frauen waren sie nur noch 25 Personen, die Kielce und damit ihre polnische Heimat endgültig verließen. Um nicht aufzufallen, teilten sie sich in kleine Grüppchen, verließen nacheinander das Haus in Planty Nr. 7 und begaben sich zum Bahnhof von Kielce. Sie waren aufgeregt und neugierig auf die Reise, die vor ihnen lag.
Im Zug nach Krakau trafen sie einen katholischen Priester, mit dem sich ein vertrauensvolles Gespräch entwickelte. Als sie ihm verrieten, wer sie waren und was ihr Ziel sei, erwiderte der Priester, dass er für sie und für den Frieden des jüdischen Volkes bete. Eine ermutigende Begegnung! Der Zug erreichte Krakau am Abend. Am Bahnhof wurden sie von zwei Mitarbeitern der Bricha abgeholt und in eine Herberge geführt, wo sie jeweils zu zweit auf dem Boden eines Zimmers schliefen.
Am folgenden Morgen traf die Gruppe David Maler, den Koordinator der Bricha (deutsch »Flucht«) in Krakau.2 Sie erhielten etwas zu essen und fuhren weiter nach Kattowitz. Dort überreichte man ihnen gefälschte Ausweise mit Stempeln des Roten Kreuzes. Es waren sog. Repatriierungsdokumente, die besagten, dass sie griechische Flüchtlinge seien, die in ihre Heimat nach Griechenland zurückkehrten.3 Die neuen griechischen Namen ähnelten dabei den jüdischen Namen der Gruppenmitglieder. Ihre bisherigen Dokumente wurden vernichtet. Nach einem kurzen Aufenthalt ging es im Zug weiter in südlicher Richtung. Auf dieser Strecke wurden sie von einem jungen Mann der Bricha begleitet, der ihnen allerdings mitteilte, dass er sie vor der Grenze wieder verlassen würde und nach Krakau zurückkehre. Die Gruppe solle mit den neuen Papieren die Grenze übertreten und über Bratislava (Tschechoslowakei; heute Slowakische Republik) nach Budapest (Ungarn) fahren. Am Bahnhof in Budapest würde wieder jemand von der Bricha auf sie warten und ihnen weitere Anweisungen geben. Um so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, dürften sie jedoch nicht den kurzen und direkten Weg nehmen. So geschah es. In Zebrzydowice stieg er aus dem Zug aus. Die Gruppe blieb sitzen, verließ Polen und überquerte die tschechische Grenze mit den Dokumenten des »Roten Kreuzes«. Die Fahrt führte durch wunderschöne Landschaften. Immer wieder gab es Haltestationen, bei denen sie ausstiegen und in Herbergen übernachteten. Die Stimmung der jungen Leute wurde immer besser, je weiter sie Polen hinter sich ließen. Sie feierten ihre Freiheit und das neue Leben. Zwei Tage blieben sie in Breclav (deutsch Lundenburg). Nach einem kurzen Aufenthalt in Bratislava (deutsch Pressburg) ging es weiter in Richtung Budapest.
Wie sie es oft erlebten, war auch dieser Zug so voll, dass die Männer auf dem Dach des Zuges Platz nahmen und die Frauen in den Waggons blieben. Mitten auf der Fahrt begannen jedoch auf einmal ein paar junge Männer die anderen Mitreisenden, die auf den Dächern saßen, zu bedrohen. Sie wollten die Wertsachen haben. Als sich einer der Passagiere weigerte, wurde er von den Männern vom Dach gestoßen. Die Gruppe um Mordechai wehrte sich nicht, um kein Aufsehen zu erregen. Von Nathan Rosenberg nahmen die Männer den Rucksack, von Josef Zwi Halperin die Uhr. Innerhalb der Waggons war die Situation nicht besser. Sowjetische Soldaten belästigten die jungen Frauen, bis ein sowjetischer Offizier einschritt. Endlich fuhr der Zug im Budapester (Ungarn) Bahnhof ein.4 Nach einer Woche Zugfahrt hatten sie das erste große Ziel ihrer Flucht in die Freiheit erreicht.5

Abbildung 1: Zerstörte Donaubrücke, Budapest; 1945.

Am Budapester Bahnhof erkannten sie Juden, die neben Essensständen standen. Es waren Vertreter der Bricha, die sie in eine ehemalige jüdische Schule brachten. In der Turnhalle waren bereits ihre Schlafplätze gerichtet. Sie erhielten Lebensmittelmarken für drei Mahlzeiten am Tag. Mordechai brachte der Gruppe ein paar Worte auf Ungarisch bei, die er in Auschwitz gelernt hatte.

Abbildung 2: Mitglieder der Plugat Lacherut, Budapest; 1945.
Abbildung 3: Nathan Rosenberg (Mitte), Mordechai Papirblat (rechts), Budapest; 1945.

Rund drei Wochen blieb die Gruppe in Budapest. In dieser Zeit machten sie sich in ihrer Unterkunft nützlich und übernahmen alle möglichen Arbeiten, die anfielen. Besonders genossen sie die ungarische Küche, in der alles mit Paprika gewürzt zu sein schien. Gegenüber dem streng geregelten Tagesablauf in Kielce hatten sie in Budapest viel freie Zeit. Es waren schöne Sommerwochen, in denen sich ihre Anspannung immer mehr löste und einem ungekannten Gefühl von Freiheit Platz machte.6 Zum ersten Mal befanden sie sich wieder in einer Großstadt, in der sie sich in aller Freiheit bewegen konnten, auch wenn die Stadt noch stark vom Krieg gezeichnet war. Von dem Geld, das sie erhielten, kauften sie sich auf dem Markt Pfirsiche! Besonders berührte sie eine Begegnung mit jüdischen Kindern. Seit Langem hatten sie keine jüdischen Kinder mehr gesehen. Sie hatten schon gedacht, dass es in Europa keine mehr gebe.

Zum ganzen Kapitel:
Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996 (Hebräisch).
Juliane Wetzel, Jüdische Displaced Persons – Holocaustüberlebende zwischen Flucht und Neubeginn, in: Deutschland Archiv, 06.09.2017; https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/255388/juedische-displaced-persons (12.06.2020).
Ohne Autor, Escape from Europe – the "Bericha", Yad Vashem Educational Materials, ohne Jahr; https://www.yadvashem.org/education/educational-materials/learning-environment/bericha.html (05.02.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Bricha (12.06.2020).

1https://de.wikipedia.org/wiki/Sowjetunion#1945_bis_1985:_Kalter_Krieg (02.05.2020).
2Die Bricha ist eine jüdische Fluchthilfeorganisation, die im Untergrund arbeitet, da sie illegal ist. Zwischen 1944 und 1948 ermöglicht sie Juden die Flucht vor allem aus Osteuropa und die illegale Einwanderung in Palästina; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bricha (28.09.2019).
3Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Displaced_Person (03.05.2020).
4Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Budapest#Zweiter_Weltkrieg (03.05.2020).
5 Abb. 1: unbekannter Autor, 1945, Public Domain; https://imgur.com/r/ImagesOfThe1940s/NWssoKA (03.05.2020).
6Abb. 2 und 3: Josef Zwi Halperin (?), aus: Josef Zwi Halperin, Der Weg in die Freiheit 1945 – 1946, 1996, Bild Nr. 13 (Abb. 2) und Nr. 18 (Abb. 3), ohne Seitenzahlen (Hebräisch); Scans bearbeitet von Timo Roller, 2020.

Autor: Thorsten Trautwein, 11.07.2020