Vorwort
Mordechai Papirblat ist ein Überlebender des Holocaust. In seinem Buch »900 Tage in Auschwitz. Tagebuch eines Holocaust-Überlebenden, Wildberg 2020« beschreibt er sehr eindrücklich, wie er die Zeit von August 1939 bis Februar 1945 erlebt und überlebt hat. Diese 5 ½ Jahre prägen sein Leben bis heute und sie wirken ins Leben seiner Kinder und Enkel nach.
Mordechai Papirblat wurde 1923 in Polen geboren. Er feierte 2020 seinen 97. Geburtstag. Wenn man seinem bewegten Leben entlangschreitet, durchwandert man ein ganzes Jahrhundert Geschichte. Man merkt schnell, dass es sich nicht nur um eine polnische Geschichte, nicht einmal nur um eine deutsch-polnische Geschichte oder um eine jüdische Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus handelt. Vielmehr sind die Wendungen seiner Lebensführung das Ergebnis europäischer Entwicklungen, die sich im weltweiten Horizont der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts abspielen und eine lange Vorgeschichte haben. Das gilt sowohl für die Prozesse, die zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust geführt haben, als auch für die Entstehung des Staates Israel, in dem er eine neue Heimat gefunden hat.
Uns, die wir heute in der Bundesrepublik Deutschland leben, ist vieles davon unbekannt. Untersuchungen zeigen, dass das Wissen um den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg stark abgenommen haben. Wenig vertraut sind wir zudem mit den Lebensverhältnissen, mit den Empfindungen und Überzeugungen der Menschen damals.
Die vorliegenden Kapitel »Biografie & Zeitgeschichte« können als Reise verstanden werden, die uns an der Seite Mordechai Papirblats durch ein Jahrhundert Geschichte führt. Es ist eine sehr komplexe und wechselvolle Geschichte, die uns immer wieder herausfordert und mit den unterschiedlichsten Facetten menschlichen Lebens konfrontiert. Wenn uns diese Zeitreise nicht nur mehr Wissen, sondern auch mehr Verständnis für die Welt, in der wir heute leben, vermittelt, dann hat sie ihr Ziel erreicht. Und mögen schließlich aus diesem Wissen und Verständnis verantwortungsvolle Taten erwachsen!
Folgendes ist für unsere »Reise« wichtig zu wissen:1
- Ereignisse, die Mordechai Papirblat in seinem Buch beschrieben hat, werden in den Kapiteln dieser »Biografie & Zeitgeschichte« nur an wenigen Stellen zitiert. Das Buch und die beiden Zeitzeugenberichte, die auf der Homepage als Videodokumente vorliegen, ergänzen und vertiefen die vorliegenden Ausführungen. Im laufenden Text wird auf die entsprechenden Seitenzahlen im Buch bzw. auf die Sequenzen der Videodokumente verwiesen, sodass man Buch und Homepage crossmedial verwenden kann. Zudem sind weitere Links mit Zusatzmaterialien in die einzelnen Kapitel eingearbeitet.
- Die vorliegenden Kapitel machen deutlich, dass man einen Holocaust-Überlebenden nicht auf seine Holocaust-Erfahrungen reduzieren kann. Er hat ein Leben vor dem Holocaust und ein Leben nach dem Holocaust. Zudem ist er nicht nur Opfer, sondern einer, der sein Leben selbst gestaltet und unter widrigsten Umständen aktiv handelt.
- Bei einem biografieorientierten Zugang zur Geschichte geht es zuerst und zuletzt um den realen Menschen Mordechai Papirblat und um die Menschen, die ihm im Laufe seines Lebens begegnet sind. So wurde auch der Holocaust von Menschen gemacht und er betraf Menschen: Individuen, Persönlichkeiten, Kinder, Mütter, Väter, Onkel, Schwestern usw. Wenn wir uns den Menschen zuwenden, können wir Empathie und Verständnis entwickeln, jenseits unserer historischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Unterschiede.
- Die vorliegende Biografie versucht den Menschen Mordechai Papirblat zu begleiten und sein Leben nachzuzeichnen. Sie tut dies so gut, aber auch so begrenzt, wie man ein Leben vor, während und nach dem Holocaust überhaupt »begleiten« kann. So ist es schlechterdings unmöglich, sich z.B. in einen Holocaust-Überlebenden »hineinzuversetzen«. Ein zweites Problem ist die Quellenlage, da amtliche (z.B. Geburtsurkunden, Ausweise) oder persönliche schriftliche Dokumente (z.B. beschriftete Fotoalben, Tagebücher, Briefe) vor 1945 fehlen. Familienangehörige, die man befragen könnte oder die entsprechende Dokumente aufbewahrt haben könnten, wurden ermordet oder sind vor 1945 gestorben2. Bei der Recherche ist man folglich vor allem auf die persönlichen Erinnerungen der Zeitzeugen angewiesen3. Mordechai war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 16 ½ Jahre alt, mit 19 Jahren wurde er ins KZ Auschwitz deportiert und mit 21 Jahren floh er vom Todesmarsch. Da ist es einerseits erstaunlich, wie präzise und wie umfänglich er sich angesichts der traumatischen Zeitumstände und seines jungen Alters an vieles erinnert, andererseits ist es verständlich, dass es bei ihm und bei anderen Zeitzeugen zu Unterschieden, Unstimmigkeiten bis hin zu Fehlern in der Erinnerung kommt4. In den vorliegenden Kapiteln und im Buch »900 Tage in Auschwitz« wird immer wieder auf solche Sachverhalte hingewiesen.
- Die einzelnen Kapitel enthalten zahlreiche Hintergrundinformationen, Karten und Bilder, die weit über das Leben von Mordechai Papirblat hinausgehen. Sie ermöglichen Querverweise zu seinen eigenen Aussagen, die helfen, bestimmte Ereignisse seines Lebens zeitlich und örtlich einzuordnen sowie die Hintergründe und Zusammenhänge seines persönlichen Ergehens im größeren zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen. Die Bild- und anderen Quellen wurden nach bestem Wissen recherchiert und dokumentiert. Sollten Angaben fehlerhaft oder Rechte missachtet worden sein, bitte ich um einen Hinweis.
- Die Fachdiskussion ist im Fluss und man findet nicht nur in den Zeitzeugenberichten unterschiedliche Angaben, wenn es um Zahlen, Daten und Fakten geht, sondern auch in der Fachliteratur. Gerne nehme ich Hinweise auf fehlerhafte Angaben entgegen.
- Wikipedia wurde immer wieder zur Klärung von Begriffen oder für einen ersten Blick in ein Thema herangezogen. Letzteres ist bei der unüberschaubaren Fülle an Literatur und angesichts des hochkomplexen Gegenstands dieser Arbeit unverzichtbar gewesen! Für differenzierte und fachlich fundierte Informationen wurde Fachliteratur bzw. entsprechende Veröffentlichungen im Internet herangezogen. Die verwendeten Quellen sind angegeben.
- Bei Bildern im Zusammenhang mit dem Holocaust, wurde aus Respekt vor der Würde der Menschen weitestgehend auf historische Aufnahmen verzichtet, die Menschen (»Opfer«) gedemütigt, erniedrigt oder stereotyp darstellen. Zu berücksichtigen ist zudem, dass zahlreiche Fotos und Filme über den Holocaust von den »Tätern« angefertigt wurden und häufig propagandistische Absichten verfolgen. Darum wurden an einigen Stellen Zeichnungen der jüdischen Holocaust-Überlebenden und Künstlerin Elli Liebermann-Shiber herangezogen aus: Erinnerungen aus dunkler Vergangenheit. Texte und Zeichnungen einer Holocaust-Überlebenden im Kontext ihres Lebens und Gesamtwerks, hrsgg. von Zedakah e.V. und Thorsten Trautwein, Edition Papierblatt Bd. 4, Neulingen 2021, vgl. https://www.papierblatt.de/edition/band4/.
- Sprache: Mordechai Papirblat war bis zu seiner Auswanderung ein polnischer Jude bzw. ein Pole jüdischen Glaubens, trotzdem unterscheidet er (und viele andere) häufig zwischen »Juden« und »Polen«, womit in der Regel Polen jüdischen bzw. Polen christlichen Glaubens gemeint sind. Begriffe mit nationalsozialistischem Hintergrund werden durch ein vorangestelltes »sog.« (so genannte) bzw. durch Anführungszeichen kenntlich gemacht. Wegen der einfacheren Lesbarkeit wird in der Regel das generische Maskulinum verwendet. Es soll in keinster Weise Menschen mit anderer Geschlechtsidentität diskreditieren.
- Die digitale Plattform www.papierblatt.de bietet weitere Zeitzeugenberichte und Zusatzmaterialien, die das Zeitzeugnis von Mordechai Papirblat ergänzen und einen mehrperspektivischen Zugang zum Holocaust ermöglichen.
- Bei jedem Kapitel ist das letzte Bearbeitungsdatum angegeben.
- Mitteilungen schicken Sie bitte über unser Feedback-Formular an Thorsten Trautwein.
Die digitale Umsetzung dieses Texts und der eingebundenen Medien wäre ohne den enormen Einsatz von Stefan Buchali, Stefan Egeler und Timo Roller nicht möglich gewesen. Vielen herzlichen Dank dafür!
Autor: Thorsten Trautwein, 02.09.2020